Inhaltsverzeichnis:
- 1 Allzu leicht zu verunsichern
- 2 Kein falscher Respekt vor Investitionsrechnungen
- 3 Streng wissenschaftlicher Nutzennachweis kaum möglich
- 4 “Pulse Checks” und Befragungen der Betroffenen
- 5 Die engen Grenzen der klassischen Investitionsrechnung
- 6 Unterschiedliche Szenarien betrachten
- 7 Das Spektrum der Möglichkeiten wirklich ausleuchten
- 8 Minimax: Minimierung des maximalen Schadens
- 9 Mehrdimensionaler Nutzen des Change Managements
- 10 Vermeiden unnötiger Widerstände und Konflikte
- 11 Der Mehrwert des Change Managements
- 12
- 13 Kostenfreies Erstgespräch
Allzu leicht zu verunsichern
Legitime Frage nach dem Nutzen
Die Frage nach dem Nutzen und der Erfolgsmessung stellt sich im Geschäftsleben ständig – keineswegs nur bei “weichen Themen”. Und zwar aus gutem Grund, denn wenn man für etwas Geld ausgibt, möchte man auch wissen, ob sich diese Investition bezahlt machen wird und ob der erhoffte “Return on Investment” eintreten wird. Insofern ist es weder eine Überraschung noch eine Beleidigung, wenn diese Frage auch im Bezug auf Change Management gestellt wird, aber auch auf andere Investitionen wie zum Beispiel auf Führungskräfteentwicklung oder auf Verfahren zur Personalauswahl.
Kein falscher Respekt vor Investitionsrechnungen
Prinzipielle Schwierigkeiten der Beantwortung
Doch so naheliegend und sinnvoll die Fragestellung ist, sie ist nicht leicht zu beantworten. Doch davon sollte man sich nicht ins Bockshorn jagen lassen, denn dieses Problem gibt es keineswegs nur bei Investitionen, die sich im weitesten Sinne der Personal- und Organisationsentwicklung zurechnen lassen: Schwierigkeiten bei der Bestimmung und Quantifizierung des Nutzens gibt es bei jeder Investition und keineswegs nur bei “qualitativen Themen”, die angeblich ihrer Natur nach besonders schwer zu fassen und zu greifen sind. Das liegt einfach daran, dass sich diese Frage auf die Zukunft bezieht – und die Zukunft prinzipiell ungewiss ist.
Eindrucksvolle Berechnungen
Sehen wir uns, um die Problematik besser zu verstehen, einmal die “härteste” aller denkbaren Investitionen an, nämlich die in neue Maschinen oder Fertigungsanlagen. Die betreffenden Investitionsrechnungen sehen erst einmal sehr beeindruckend aus: Da ist minutiös errechnet, unter welchen Voraussetzungen sich eine solche Investition rechnet: Wie viel Stück von dem hergestellten Produkt zum Beispiel mindestens verkauft werden müssen, damit der “Break-Even”, also die Gewinnschwelle erreicht wird, und ab welchen verkauften Stückzahlen welche zusätzlichen Erlöse durch die neue Maschine oder Anlage hereingespielt werden. Wenn man sich von dem ersten Schreck erholt hat, fällt einem vielleicht auf, dass man die gleichen Berechnungen auch für die Führungskräfteentwicklung oder ein Change Management anstellen könnte: Wie viel Kosten müsste man einsparen und/oder wie viel zusätzlichen Nutzen schaffen, damit sich die Führungskräfteentwicklung oder das Change Management rechnet?
Klare Antworten – auf die falsche Frage
Das Dumme ist nur, dass das nicht die richtige Frage war. Die wirkliche Frage lautet nämlich nicht: “Rechnet sich die neue Produktionsanlage, wenn wir soundso viel Stück mehr verkaufen?”, sondern: “Werden wir, wenn wir in eine neue Anlage investieren, so viel mehr verkaufen, dass sich diese Investition rechnet?” Was hier unmerklich stattgefunden hat, ist eine Verschiebung der Fragestellung, die der Nobelpreisträger Daniel Kahneman “Availability Heuristics” nennt, also eine Suchstrategie, die sich an der Verfügbarkeit von Informationen orientiert. Heißt praktisch: Wenn wir eine Frage mit den uns zu Verfügung stehenden Informationen nicht beantworten können, formulieren wir sie unter der Hand um in eine Frage, die so ähnlich klingt, beantworten stattdessen diese Frage – und geben uns damit zufrieden.
Wachsweiche “Genauigkeiten”
Die eigentliche Frage, nämlich, ob der erhoffte Nutzen eintreten wird, ist jedoch bei Investitionen in “harte Faktoren” wie Stahl und Beton kaum zu beantworten. Denn sie erfordert eine Prognose über die Zukunft, und die ist bekanntlich ungewiss. Dazu muss man Annahmen machen, und die können richtig oder falsch sein. Aus der Tatsache, dass man “ein gutes Gefühl hat” und sich seiner Sache ziemlich sicher ist, folgt über die wirkliche Zukunft ziemlich wenig. Das macht jede Investitionsrechnung, auch die bei noch so harten Themen, zu einer ziemlich wachsweichen Angelegenheit, die an viele “Wenns” und “Abers” geknüpft ist.
Die Frage nach dem Zusatznutzen
Was wir für eine sichere Entscheidung wissen müssten, aber wegen der Ungewissheit der Zukunft nur zu erraten versuchen können, ist der Zusatznutzen einer Investition, gleich ob sie aus einer neuen Anlage, aus Führungskräfteentwicklung oder aus Change Management besteht. Anders ausgedrückt, geht es dabei um die Frage: Wie stark unterscheidet sich das Szenario mit der Investition von dem Szenario ohne die Investition? Welches ist unternehmerisch vorteilhafter? Lohnt sich der Mehraufwand, oder ist der Zusatznutzen so gering, dass man sich den Mehraufwand besser sparen sollte?
Streng wissenschaftlicher Nutzennachweis kaum möglich
Kontrollierte Versuchsanordnung
Wenn es sich hier um ein wissenschaftliches Forschungsprojekt zur Überprüfung des Nutzens handelte, würde man dafür wohl ein Untersuchungsdesign mit Versuchsgruppe und Kontrollgruppe verwenden: Die Versuchsgruppe erhält dann zum Beispiel ein Führungskräfteentwicklungsprogramm, die Kontrollgruppe keines oder nur ein Placebo. (Wobei eine spannende Frage ist, was denn ein geeignetes Placebo für eine Führungskräfteentwicklung ist.) Anschließend würde man überprüfen, ob sich die beiden Gruppen in zuvor festgelegten Kriterien signifikant unterscheiden, also so stark, dass der Unterschied nicht bloß durch Zufall zu erklären ist, oder ob kein signifikanter Unterschied festzustellen ist. (In welchem Fall die Führungskräfteentwicklung wohl selbst nur ein Placebo wäre.)
Man kennt nie den anderen Fall
Aber solch eine kontrollierte Versuchsanordnung ist bei den allermeisten Investitionen im Geschäftsalltag kaum realisierbar. Man hat ja selten zwei Unternehmen derselben Branche zu Verfügung, von denen man das eine mit einer neuen Anlage ausstatten kann und das andere nicht. Ebenso wenig kann man bei einer Reorganisation, einem TQM-Projekt oder einer Post-Merger-Integration die eine Hälfte des Unternehmens mit einem Change Management begleiten und die andere Hälfte nicht.
Mangelnde Generalisierbarkeit
Doch selbst wenn man solche Experimente durchführen könnte, wäre die Beweiskraft über den Einzelfall hinaus gering. Denn im Falle einer positiven Bilanz wäre der empirische Nachweis immer nur für den konkreten Fall erbracht, der untersucht wurde, und zwar, was die Sache noch weiter einschränkt, nur unter den Rahmenbedingungen, die der Untersuchung zugrunde lagen. Auch ein noch so positives Ergebnis würde nicht beweisen, dass jedes Change Managementoder jede Führungskräfteentwicklung nutzbringend ist – genauso wenig wie das positive Ergebnis beim Kauf einer neuen Anlage der Beweis wäre, dass jede Investition in neue Anlagen sinnvoll ist.
“Pulse Checks” und Befragungen der Betroffenen
Kein geeigneter Erfolgsmaßstab
Aber könnte man den Nutzen des Change Managements nicht einfach über eine Befragung der Betroffenen bestimmen? Wenn man die Mitarbeiter und Führungskräfte vor dem Change-Prozess und dann zu verschiedenen Zeitpunkten im Laufe des Prozesses sowie nach dessen Abschluss fragte, wie gut sie sich zum Beispiel informiert, einbezogen und “mitgenommen” fühlen, könnte man daraus nicht sehen, ob das Change Management etwas gebracht hat? Nein, nicht unbedingt.
Die Leute reagieren primär auf die Inhalte
Denn erstens weiß natürlich niemand, wie diese Antworten ohne Change Management ausgefallen wären. Zweitens ist es eine gewagte Annahme, dass diese Antworten primär (oder auch nur maßgeblich) durch das gewählte Vorgehen im Change Management beeinflusst sind: Wenn beispielsweise ein Kostensenkungsprogramm, eine Reorganisation oder gar ein Personalabbau durchgeführt wird, dann reagieren die Leute mit ihren Antworten vermutlich weniger darauf, wie professionell das Change Management durchgeführt wurde, sondern vor allem auf die Ängste und Befürchtungen, die die anstehenden Veränderungen bei ihnen auslösen.
Schwer interpretierbare Antworten und Trends
Daraus ergibt sich drittens, dass es gar nicht so einfach ist, die Veränderungen in den “Messwerten” zu interpretieren: Wenn sich die Stimmung verschlechtert hat, muss das nicht heißen, das das Change Management einen schlechten Job gemacht hat – es kann auch einfach nur bedeuten, dass den Mitarbeitern und Führungskräften jetzt bewusst geworden ist, was da auf sie zukommt, und sie nicht wissen, wie sie diese Veränderungen bewältigen werden. Eine gute Kommunikation wird hier sogar bewirken, dass ihnen dies früher und intensiver bewusst wird – sodass sich die Stimmung (auch) durch das Change Management erst einmal verschlechtert. Wenn sich die Stimmung dagegen verbessert hat, heißt das nicht unbedingt, dass das Change Management gute Arbeit geleistet hat – vielleicht heißt es auch nur, dass die durch die Veränderungen ausgelöste Anspannung nachgelassen hat.
Keine Messung, sondern eine Stellungnahme
Vor allem aber wäre es naiv, Befragungen gleich welcher Art überhaupt für Messungen zu halten: Die Mitarbeiter und Führungskräfte, die diese Fragebogen ausfüllen, geben damit ja nicht etwa getreulich und objektiv Auskunft über ihre Wahrnehmung und ihr Innenleben; sie geben vielmehr eine Stellungnahme ab. Das gilt erst recht, wenn sie wissen oder vermuten, dass das Management über die Ergebnisse diskutieren und Schlussfolgerungen daraus ableiten wird: Dann wollen viele natürlich nicht nur Auskunft geben, sondern Einfluss darauf nehmen, was geschieht. Und etliche schneiden ihre Antworten darauf zu. Wenn sie zum Beispiel der Meinung sind, dass sie seit der letzten Befragung nicht genügend Informationen bekommen haben, ist gut möglich, dass sie auf die Frage “Wie gut fühlen Sie sich informiert?” deutlich negativer antworten als beim letzten Mal, obwohl sie “objektiv” besser informiert sind als damals.
Keine Aussage über den Nutzen des Change Managements
Es wäre also naiv, die Daten verschiedener “Messzeitpunkte” einfach nebeneinander zu legen und zu vergleichen: Das könnte ein völlig irreführendes Bild liefern. Zumindest sollte man sich beim Betrachten solcher Daten immer wieder fragen: Was wollen uns die Leute damit sagen? Was ist ihre Botschaft? (Nicht: Was ist ihre “objektive” Befindlichkeit?) Es mag für manche Zwecke nützlich sein, dies zu wissen; Informationen über die Effektivität und den Nutzen des Change Managements liefert es jedoch kaum. Denn wie müssten die Ergebnisse aussehen, damit man guten Gewissens konstatieren kann: Das Change Management hat sich gelohnt?
Die engen Grenzen der klassischen Investitionsrechnung
Lehrbuch-Methoden Investitionsrechnung nützen wenig
Aber müsste nicht die betriebswirtschaftliche Investitionsrechnungslehre Methoden bereitstellen, mit denen man den Nutzen einer Investition ziemlich präzise bestimmen kann? Das würde man hoffen, aber leider vergeblich. Denn sie befasst sich hauptsächlich mit einem Fall, den es nicht gibt, nämlich dem “Investieren unter Sicherheit” – also mit dem Fall, dass man die zukünftigen Ergebnisse kennt. Beispielsweise setzt sich das renommierte Lehrbuch “Investitionsrechnung” von Prof. Dr. Dr. h.c. Lutz Kruschwitz nur auf 150 seiner 543 Seiten mit “Investitionsentscheidungen unter Unsicherheit” auseinander; der Großteil des Rests ist dem irrealen Fall einer vorhersehbaren Zukunft gewidmet (12. Aufl. 2009).
Brotlose Kunst
Kruschwitz räumt das Problem auch freimütig, wenn auch verklausuliert ein: “Nach Ansicht von Praktikern liegt die eigentliche Problematik der Investitionsrechnung deswegen auch gar nicht in der Rechnung selbst, sondern in der Beschaffung der Daten für die Rechnung.” (S. 16) Heißt auf Deutsch: Es ist überhaupt kein Problem, den Nutzen einer Investition zu bestimmen, wenn wir wissen, was in Zukunft passiert und zu welchen Ergebnissen die zur Wahl stehenden Varianten führen. Nur leider gibt es diese Daten nicht.
Die Zukunft ist und bleibt ungewiss
Würde man die künftigen Erlöse und Kosten kennen, wäre es in der Tat keine Kunst, diskontierte Cash-Flows zu rechnen und danach zu entscheiden, welche Wahl die optimale ist. Das Problem ist halt nur, dass man sie nicht kennt, und daran kann auch das gesamte Methodenrepertoire der Investitionsrechnung nichts ändern. Der praktischen Nutzen ihrer Rechenmodelle hält sich daher in Grenzen.
Unterschiedliche Szenarien betrachten
Die Notwendigkeit, Annahmen zu machen
Das zentrale Problem jeder Investitionsentscheidung ist und bleibt: Davor weiß man nicht, was die Zukunft bringen wird – danach weiß man nicht, wie die Sache ausgegangen wäre, wenn man die andere Variante gewählt hätte. Um dennoch eine rationale Entscheidung zu treffen, bleibt nur eine Möglichkeit: Dazu muss man Annahmen über mögliche zukünftige Ereignisverläufe machen und prüfen, ob sich die Investition unter verschiedenen Szenarien rechnet. Wobei man natürlich unweigerlich in der Gefahr ist, das Ergebnis mit seinen Annahmen zu präjudizieren, weil einfach unten aus dem Trichter das herauskommt, was man oben als Annahmen hineingegossen hat. Daher muss man die Annahmen, um sich nicht selbst in die Tasche zu lügen, so wählen, dass sie erstens plausibel sind und zweitens konservativ: das bewährte “Prinzip der kaufmännischen Vorsicht”.
Best Case – Middle Case – Worst Case
Üblicherweise unterscheidet man bei solchen Szenarienbetrachtungen einen “Best Case”, einen “Worst Case” und einen “Middle Case”. Oft wird dieser mittlere Fall fahrlässig auch “Real(istic) Case” genannt, als ob das selbstgewählte mittlere Szenario automatisch auch das realistischste und damit wahrscheinlichste wäre. Doch davon kann keine Rede sein: Wenn ich als besten Fall für einen Ausflug strahlenden Sonnenschein annehme und als schlechtesten trübes Wetter, dann folgt daraus keinesfalls, dass der realistische Fall “heiter bis wolkig” ist. Der mittlere Fall wir weit mehr durch die Wahl unserer Annahmen über den besten und schlechtesten Fall bestimmt als davon, was die wahrscheinlichste Entwicklung ist.
Achtsame Wahl der Szenarien
Die “Tücke des Objekts” liegt daher in der Wahl der Szenarien: Wenn man sie so wählt, dass eine Investition schlechtesten Fall keinen Nutzen bringt und im besten Fall einen sehr großen Nutzen, dann ist es keine Überraschung, wenn im mittleren (und deshalb vermeintlich realistischen) Fall immer noch ein ordentlicher Nutzen herauskommt. Bei genauerem Hinsehen ist das aber keine erfreuliche Erkenntnis, sondern gar keine – es ist lediglich das Echo der gewählten Prämissen: In diesem wie in jedem anderen Fall fließt einfach nur unten aus dem Trichter das heraus, was man oben an Annahmen hineingegossen hat.
Sich selbst erfüllende Annahmen
Vielleicht war aber der schlechteste Fall, den man angenommen hat, nicht schlecht genug, und der “Best Case” war bei Weitem zu optimistisch. Das hätte unweigerlich zur Folge, dass auch der mittlere Fall viel vorteilhafter erscheint als er ist bzw. sich später herausstellt. Kein Wunder, wenn Top-Manager solchen Szenarien”berechnungen” oft skeptisch gegenüber stehen. (Wobei die Skepsis zuweilen nachlässt, wenn die Rechenmodelle ihre eigenen Präferenzen untermauern.)
Das Spektrum der Möglichkeiten wirklich ausleuchten
Zu optimistische Annahmen – Beispiel Lebensversicherung
Wer diese Warnungen für zu pessimistisch hält, könnte sich einmal die Prognoserechnungen älterer Lebensversicherungen heraussuchen. Da stand zwar immer dabei, dass diese Modellrechnungen nur der “Information” des Kunden dienten und weder eine verbindliche Auskunft der tatsächlich zu erwartenden Leistungen wären noch gar eine Garantiezusage. Trotzdem rechnete man den Kunden in drei Spalten einen günstigen, einen mittleren Fall vor. Und natürlich orientierten sich die Kunden an der mittleren Spalte (“real case”), verdrängten die linke Spalte (“so schlecht wird es schon nicht kommen”) und hofften auf die rechte, in der traumhafte Auszahlungsbeträge herauskämen (vor allem wenn man die Beträge in heutiger Kaufkraft verstand und die über die Laufzeit eintretende Inflation ignorierte). Das bittere Ende beschreibt die Stiftung Warentest so: “Unrealistische Informationen, enttäuschte Sparer: Die Leistungen, die viele Kunden bei Ablauf ihrer Kapitallebensversicherung oder privaten Rentenversicherung erhalten, sind oft erheblich geringer als bei Vertragsbeginn vom Versicherer hochgerechnet.”
Unrealistische Erwartungen enden in Enttäuschung
Dabei kamen die Kunden der Lebensversicherungen noch mit einem blauen Auge davon, wie die Käufer von Schiffsbeteiligungen und anderen geschlossener Fonds wissen: Ihr “real eingetretener Case”, nämlich die Insolvenz samt vollständigem oder teilweisem Verlust des eingezahlten Kapitals kam in keiner der Modellrechnungen vor; er stand nur als theoretische Möglichkeit im Kleingedruckten.
Weit und breit kein Schwarzer Schwan
Der Grund für dieses böse Erwachen war keineswegs, wie man das Desaster vielleicht rechtfertigen könnte, dass die Lebensversicherungen und anderen Kapitalanlagen einem “Schwarzen Schwan” zum Opfer gefallen sind, also einem außergewöhnlichen und völlig unvorhersehbaren Ereignis. Vielmehr traf die Lebensversicherungen nur eine langanhaltende Niedrigzinsphase, also einem Szenario, das spürbar ungünstiger war als der angenommene “Worst Case”. Und die Schiffsbeteiligungen fielen schlicht dem zyklischen Verlauf der Weltkonjunktur zum Opfer – also einer Entwicklung, die ebenfalls weder außergewöhnlich noch überraschend ist, sondern der bekannte und normale Verlauf der Dinge. Die konjunkturellen Effekte verstärkten sie noch mit einem selbstgebastelten Schweinezyklus: In der Boomphase wurden Überkapazitäten aufgebaut, die zu einem Preiskollaps bei rückläufiger Nachfrage führten.
Die Bandbreite der Möglichkeiten ausleuchten
Wenn man also unterschiedliche Szenarien betrachtet, muss man dafür Sorge tragen, dass sie die Bandbreite der Möglichkeiten tatsächlich ausleuchten: Wie würde sich die Investition beispielsweise im Falle einer schweren Wirtschaftskrise entwickeln, wie im Falle eines starken und anhaltenden Wachstums der Firma? Würde sie deren Resilienz bzw. die Krisenanfälligkeit des Unternehmens vergrößern oder verringern? Wie würde sie sich beispielsweise im Falle einer Übernahme auf den Wert der Firma auswirken? Solche Betrachtungen mögen weit hergeholt erscheinen; ihre Rechtfertigung ergibt sich aber schon allein daraus, dass Extremereignisse sehr viel häufiger sind als sie unter der (falschen) Annahme einer Gauß’schen Normalverteilung zu erwarten wären.
Minimax: Minimierung des maximalen Schadens
Unterschiedliche Entscheidungsregeln und ihre Folgen
Bei der Auswahl zwischen verschiedenen Szenarien wird stillschweigend meist eine Entscheidungsregel verwendet, die lautet: Wähle die Alternative, deren mittlerer (und deshalb mutmaßlich wahrscheinlichster) Fall am attraktivsten ist. Das klingt auch mathematisch plausibel: Auf diese Weise optimiert man schlicht den “Erwartungswert”. Trotzdem ist diese Regel nicht ohne Risiko, denn sie ignoriert, dass die Dinge auch anders kommen könnten – und dass möglicherweise der schlimmste angenommene Fall eintritt (oder – siehe oben – ein noch schlimmerer). Deshalb sollten Sie die attraktivste Alternative tunlichst nur dann wählen, wenn Sie mit allen möglichen Ergebnissen dieser Variante – also auch mit dem “Worst Case” – einigermaßen leben könnten.
Im Zweifel auf Nummer Sicher gehen
Falls Sie dagegen mit dem Worst Case gar nicht (über)leben könnten, weil er Sie oder Ihr Unternehmen in die Insolvenz treiben oder sonstwie in größte Schwierigkeiten bringen könnte, tun Sie gut daran, diese Variante auch dann zu verwerfen, wenn ihr Erwartungswert attraktiver ist als der aller anderen Optionen, die zur Wahl stehen. Dann ist eine andere Entscheidungsregel sinnvoll – und zwar eine, die man die “Minimierung des maximalen Schadens” oder kurz “Minimax” nennt.
Unwahrscheinlich, aber existenzgefährdend
Die Minimax-Regel entspricht dem, was im Alltag heißt: “Lieber auf Nummer Sicher gehen!” Sie ist der tiefere Grund dafür, wehalb wir zum Beispiel so viele Versicherungen haben: Nicht, weil die Wahrscheinlichkeit so groß ist, dass wir etwa berufsunfähig werden oder dass unser Haus abbrennt, sondern weil wir dieser “Worst Case” unsere (wirtschaftliche) Existenz gefährden würde. Deshalb tragen wir im Zweifel lieber die Kosten für die Versicherung – die wir mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in Anspruch nehmen werden – als das geringe Risiko des “maximalen Schadens”, auch wenn der unwahrscheinlich ist.
Nur die Minimax-Regel rechtfertigt (manche) Versicherungen
Es ist nützlich, sich die Logik hinter diesem – völlig rationalen! – Verhalten einmal wirklich klar zu machen. Wenn wir nach der Entscheidungsregel “Maximiere den Erwartungswert” gingen, dürften wir im Grunde gar keine Versicherungen haben. Denn statistisch gesehen verlieren wir an jeder Versicherung Geld: Jede Versicherung hat ja Abschluss- und Verwaltungskosten hat und will zu allem Übel auch noch Gewinne erzielen, also zahlt sie im Durchschnitt weniger Geld an die Versicherten aus als die eingezahlt haben. Die einzige Rechtfertigung, trotz dieses beinahe sicheren Verlustes einige Versicherungen abzuschließen, ist die Minimax-Regel: Sie lautet, den begrenzten Verlust in Kauf zu nehmen, um den maximalen Schaden abzuwenden, nämlich die Vernichtung unserer wirtschaftlichen Existenz durch eine Berufsunfähigkeit oder ein abgebranntes Haus.
Tausche kleinen Verlust gegen Sicherheit
Paradoxerweise sind Versicherungen daher besonders sinnvoll, wenn der Eintritt des Schadens ziemlich unwahrscheinlich ist: Dann ist die Prämie relativ gering, doch der Schutzeffekt ist hoch. Umgekehrt sind Versicherungen umso unsinniger, je wahrscheinlicher das versicherte Ereignis ist. Denn desto mehr verwandelt sich die Versicherung in einen Sparvertrag mit – hoher – negativer Verzinsung: Dann bezahlen wir mit der Prämie nicht nur den zu erwartenden Schaden voraus, sondern zusätzlich die Abschluss- und Verwaltungskosten sowie die Gewinne. Das Paradebeispiel ist die Sterbegeldversicherung. Da wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit alle sterben werden, ist sie nichts anderes als ein überteuerter Sparvertrag.
Mehrdimensionaler Nutzen des Change Managements
Fokus auf “Return on Investment” greift zu kurz
Was heißt das alles für die Frage, ob es sinnvoll ist, bei Veränderungsvorhaben in ein Change Management zu investieren? Es heißt in erster Linie, dass die Frage “Rechnet sich das?” zu eng gestellt ist. Denn sie geht unausgesprochen von der Entscheidungsregel “Maximierung des Erwartungswerts” aus. Das kann man machen, wenn nicht viel auf dem Spiel steht, wenn es also beispielsweise nur um die Frage geht, ob die Einführung des neuen IT-Systems etwas glatter oder etwas holpriger läuft. Dann kann die Abwägung sehr wohl lauten: Läuft die Einführung mit Change Management um so viel glatter, dass sich der Mehraufwand und die Mehrkosten lohnen?
Besserer Ansatz: Minimax
Wenn dagegen sehr viel auf dem Spiel steht, wie beispielsweise bei einer Fusion oder Übernahme, dann greift die Frage nach dem Return on Investment zu kurz: Dann geht es vorrangig um die Minimierung des maximalen Schadens. Also lautet die Frage: Kann Change Management einen nennenswerten Beitrag dazu leisten, ein Scheitern der Fusion oder Übernahme zu verhindern? Da dieser maximale Schaden erstens sehr hoch wäre und zweitens durchaus nicht ausgeschlossen ist, kann man die Mehrkosten für das Change Management als eine Art Versicherungsprämie betrachten – nur mit dem Unterschied, dass sie nicht den finanziellen Schaden eines Fehlschlags zu ersetzen, sondern die Wahrscheinlichkeit von dessen Eintreten reduziert.
Den Zusatznutzen mitnehmen
Sofern man dem Change Management einen spürbaren positiven Einfluss auf die Erfolgswahrscheinlichkeit eines wichtigen Veränderungsvorhabens zutraut, ist es vernünftig, auch dann Geld für Change Management zu investieren, wenn es schwierig oder unmöglich ist, vorab einen positiven Return on Investment zu quantifizieren – und zwar einfach um dessen Erfolgswahrscheinlichkeit zu erhöhen und die Wahrscheinlichkeit des Worst-Case-Szenarios zu verringern. Wenn der Nutzen des Change Managements noch darüber hinausgeht, wird man ihn natürlich gerne mitnehmen, so nach dem Motto: Falls diese Investition nicht nur die Erfolgswahrscheinlichkeit erhöht, sondern die Post-Merger-Integration außerdem noch leichtgängiger und effizienter macht, umso besser. Aber man würde diesen Zusatznutzen klugerweise nicht zur zentralen Entscheidungskriterium machen.
Vermeiden unnötiger Widerstände und Konflikte
Jenseits der Schadensminimierung
Trotzdem müssen wir uns nicht damit zufrieden geben, uns als Change Manager nur auf die “Minimierung des maximalen Schadens” zu stützen. Um einen positiven Nutzen zu begründen, hilft es, sich bewusst zu machen, wie, also auf welche Weise Change-Prozesse üblicherweise scheitern. Das geschieht ja oft unter heftigen Konflikten, einer zunehmenden Polarisierung in feindliche Lager und unter intensiven Machtkämpfen. All dies ist nicht nur stressig, sondern kostet auch eine Unmenge an Zeit und Energie – und geht im Laufe der Zeit oft auch einher mit einer ganzen Reihe von freiwilligen und unfreiwilligen Abgängen. Das heißt, man verliert Personen, die sich gegen die Veränderung gestellt oder sonstwie unglücklich positioniert haben, deren Kenntnisse und Fähigkeiten man aber eigentlich noch hätte gebrauchen können.
Ersparnis unnötiger Reibungsverluste
Solche Konflikte und Reibungsverluste lassen sich wohl nicht völlig vermeiden, mit einem einigermaßen intelligenten Change Management sollte es aber möglich sein, sie substanziell zu reduzieren – und damit auch die Konfliktkosten, die mit ihnen einhergehen. Am einfachsten ist das bei Widerständen, die gar nicht aus inhaltlichen Gründen entstehen, sondern weil sich einflussreiche Mitspieler übergangen oder in eine negative Rolle gedrängt fühlen. Wenn die gewählte Vorgehensweise etwa von weiten Teilen der bestehenden Führungsmannschaft als Affront und als Abwertung ihrer Arbeit verstanden wird, dann treibt man sie förmlich in die Opposition und riskiert einen verdeckten Machtkampf – was nicht nur dann fatal ist, wenn man ihn verliert, sondern unweigerlich viel böses Blut, unnötige Konflikte und massive Widerstände in der Umsetzung nach sich zieht. Viele dieser Probleme lassen sich durch eine vernünftige Change-Architektur vermeiden – was nicht nur das Klima verbessert, sondern auch eine Menge Kosten spart.
Viele Widerstände sind nur das Echo der Vorgehensweise
Häufiger als viele Manager glauben, ist der Widerstand, den Veränderungsvorhaben auslösen, gar nicht primär sachlich getrieben, sondern das Echo des eigenen Vorgehens, und er ist mit ein bissschen Empathie und Erfahrung durchaus vorhersagbar. Die gute Nachricht daran ist, dass sich viele Widerstände durch ein geschickteres Vorgehen und eine durchdachte Change-Architektur vermeiden lassen. Ähnliches gilt, wenn es um die praktische Umsetzung der beschlossenen Veränderungen geht: Ob die betroffenen Führungskräfte und Mitarbeiter beispielsweise in die Ausgestaltung einbezogen werden oder ob man ihnen sie ihnen einfach aufs Auge drückt, hat erheblichen Einfluss darauf, wie engagiert die Beschlüsse umgesetzt werden – bzw. ob überhaupt.
Heikle Gegenüberstellung
Genau in der optimalen Gestaltung des Vorgehens liegt der Mehrwert eines professionellen Change Managements. Wie groß er ist, hängt natürlich immer maßgeblich davon ab, wie das Vorgehen ohne Change Management ausgesehen hätte. Das macht die Gegenüberstellung der Szenarien mit und ohne Change Management zu einer etwas heiklen Angelegenheit: Man muss dafür ja bestimmte Annahmen (oder Unterstellungen) über die “normale” Vorgehensweise machen – was unter Umständen die verärgerte Frage provoziert: “Für wie doof halten Sie uns eigentlich?!”
Der Mehrwert des Change Managements
Mehr Aufmerksamkeit für den sozialen Prozess
Doch auch ohne die Unterstellung von Dummheit, Empathiemangel oder fehlender sozialer Kompetenz ist es plausibel, davon auszugehen, dass auf die Gestaltung des sozialen Prozesses mehr Aufmerksamkeit verwendet wird, wenn dezidierte Ressourcen dafür vorhanden sind – und dass schon allein diese zusätzliche Aufmerksamkeit auch zu besseren Ergebnissen führt. Denn jeder, der schon einmal mit einer schwierigen Projektaufgabe konfrontiert war, kennt den “Sog in die Sacharbeit”, den eine solche Aufgabenstellung unweigerlich auslöst. Dabei bleibt leicht der soziale Prozess auf der Strecke: “Lasst uns erst einmal eine gute Sachlösung finden – um die Kommunikation kümmern wir uns dann hinterher!”
Erfahrung hilft, unnötige Fehler zu vermeiden
Darüber hinaus ist auch einschlägige Erfahrung von Nutzen, denn viele Muster wiederholen sich. Und meist ist schon viel gewonnen, wenn man bestimmte Fehler vermeidet, die man beim ersten Mal fast unvermeidlich macht, und in einige typische weit offen stehende Fallen nicht (noch ein weiteres Mal) hineintappt. Bei Reorganisationen zum Beispiel ist es ein klassischer Fehler, nicht genügend Zeit dafür einzuplanen, vor der Bekanntgabe der neuen Organisationsstruktur Einzelgespräche mit den “Verlierern” der neuen Struktur zu führen – was die Reorganisation zwar in aller Regel nicht scheitern lässt, aber unnötige Verletzungen, Demotivation und Einbußen an Loyalität mit sich bringt.
Eingebaute Fallen erkennen und umschiffen
Ähnlich ist es bei Veränderungen an IT-Systemen: Hier besteht regelmäßig die Gefahr, von dem sprunghaften Anstieg an konkretem Unterstützungsbedarf kurz vor dem “Go Live” auf dem falschen Fuß erwischt zu werden. Bei Optimierungsprojekten besteht immer das Risiko, dass man schon mit der Begründung des Vorhabens weite Teile der bestehenden Mannschaft gegen sich aufbringt. Denn um den Handlungsdruck zu begründen, liegt es nahe, die vorhandenen Missstände möglichst plakativ und deutlich anzusprechen – was unweigerlich diejenigen in die Opposition treibt, die für diese Aufgaben heute verantwortlich sind: “Dann sollen es diese Klugscheißer doch erst einmal besser machen!” Ebenfalls ein Klassiker ist mangelnde Kommunikation zu Projektbeginn, was die Gerüchte und Spekulationen ins Kraut schießen lässt.
Kommunikation und Prozessgestaltung
Nicht, dass ein gutes Change Management sämtliche Fehler und Risiken beim Vorgehen definitiv ausschließen könnte. Aber erstens kann es zumindest die Wahrscheinlichkeit deutlich reduzieren, unnötige, weil vorhersehbare Fehler zu machen. Zweitens kann es durch eine fortlaufende ehrliche Kommunikation dazu beitragen, dass aus glaubwürdigen Informationen Vertrauen entsteht und sich Spekulationen und Gerüchte in Grenzen halten. Drittens kann es dazu beitragen, bestimmte kritische Schritte einigermaßen elegant über die Bühne zu bringen, wie beispielsweise kritische Informationsveranstaltungen oder den Rollout der Veränderungen.
Letztlich geht es um einen spürbaren Mehrwert
Wie bei allen anderen Investitionen auch, wird man nie erfahren, wie die Sache gelaufen wäre, wenn man die andere Alternative gewählt hätte. Ein streng wissenschaftlicher Nachweis des Nutzens lässt sich bei anderen Investitionen ebenso wenig führen wie beim Change Management, deshalb darf man sich von diesem unrealistischen Anspruch nicht einschüchtern lassen. Gestandene Top-Manager gehen denn auch ganz anders vor, um den Nutzen einer solchen Investition zu beurteilen: Sie beobachten einfach, ob der zusätzliche Mehraufwand für sie einen spürbaren Unterschied gebracht hat. Und da ist es dann durchaus wohltuend, wenn auch anfängliche Skeptiker nach einer Weile sagen: “Doch, das war schon eine sinnvolle Sache. Wir haben einige Fehler vermieden, die wir ansonsten wahrscheinlich gemacht hätten, und unsere Rollout-Maßnahmen ganz gut hinbekommen.”
Literatur:
Berner, Winfried (2015): Change! – 20 Fallstudien zu Sanierung, Turnaround, Prozessoptimierung, Reorganisation und Kulturveränderung; Schäffer-Poeschel (Stuttgart) 2. erweiterte Auflage 2015
Verwandte Themen: Widerstände Machtkämpfe Konfliktkosten Change-Architektur Change-Kommunikation
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Über den Autor
Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung.