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Zusammenschweißen – aber wie?
Viel Ballyhoo
Der Wunsch der Verantwortlichen, die kulturelle Integration zu fördern, löst regelmäßig kreative Höhenflüge von Trainern und Beratern aus. Da Da wird viel Ballyhoo veranstaltet: Es werden – selbstverständlich “outdoor” – Abenteuerspiele in Klettergärten, gemeinsame Floßbauten, und andere “Teambuilding Experiences” inszeniert; anderswo treffen sich die obersten Führungskräfte, als Indianer verkleidet, zu einem “großen Powhow”, erzählen sich ihre Geschichten und tauschen symbolische Geschenke aus; wieder woanders werden in flächendeckenden Workshops Visionen erarbeitet und Leitbilder formuliert, an die sich schon in der Folgewoche kaum noch jemand erinnert.
Gegen strukturelle Konflikte hilft kein Teambuilding
… doch die Konflikte bleiben
Doch all dieser Aufwand verhindert in der Regel nicht, dass die guten Vorsätze dahinschmelzen wie Schnee in der Frühjahrssonne, sobald im Alltag ernsthafte Konflikte zwischen Standorten oder Funktionsbereichen zutage treten. Gegensätzliche Gepflogenheiten, Wertvorstellungen und konkurrierende Interessen lassen sich durch persönliche Kontakte weder aus der Welt schaffen noch entschärfen. Es wäre daher schon viel erreicht, wenn die persönlichen Beziehungen einer entstehenden Polarisierung entgegenwirkten und dazu beitrügen, dass man miteinander redet, statt “aufeinander zu schießen”, also Intrigen zu spinnen, Fallen zu stellen und sich gegenseitig auszubremsen.
Kennen lernen reicht nicht
Dass sich sowohl die Führungsmannschaft untereinander kennenlernt als auch die Mitarbeiter, die künftig zusammenarbeiten sollen, ist natürlich sinnvoll und notwendig. Und es ist durchaus auch sinnvoll, dafür einen Rahmen zu wählen, der ein Stück Abstand vom Tagesgeschäft und seinen Konfliktlinien schafft. Denn wenn sich die Leute unter entspannten Rahmenbedingungen kennenlernen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass manche einen persönlichen Draht zueinander finden, der ihnen auch später im Alltag die Verständigung erleichtert. Doch zum einen stellt sich die Frage, wie viel “Theater” dafür erforderlich ist – und ob nicht ein “leiseres” Setting die Beziehungen mehr fördern würde. Zum anderen sollte niemand hoffen, dass solche Events genügen, um eine partnerschaftliche Zusammenarbeit entstehen zu lassen, geschweige denn eine neue gemeinsame Unternehmenskultur.
Strukturelle Konflikte
Solange strukturelle Konflikte zwischen Standorten und Funktionen nicht geklärt sind, fallen auch Menschen, die auf der persönlichen Ebene eigentlich miteinander könnten, sehr rasch in die Schützengräben der konkurrierenden Läger zurück. Denn sie sind eben nicht (nur) Einzelindividuen, sie sind auch Teil ihres “Stammes” – und damit Vertreter ihres Lagers.
Zu solchen strukturellen Konflikten zählen insbesondere
- Verteilungskonflikte: In welchem Werk werden
künftig welche Produkte hergestellt? Wie werden die Kunden und Produkte
im Vertrieb aufgeteilt?
- Zuständigkeitskonflikte: Welche Befugnisse
haben künftig die Länder / Regionen / Niederlassungen – welche die Zentrale? Welche Aufgaben fallen (beispielsweise) in die Verantwortlichkeit des Marketing,
welche in die des Vertriebs?
- Regelungskonflikte: Welche Produkte werden
im Zuge der Produktbereinigung eingestellt, welche fortgeführt?
Wie viel Autonomie und Selbständigkeit haben die unteren Ebenen
gegenüber den oberen? Welche Dinge sind künftig bis zu welchem Termin
an wen zu berichten? Welche “Spielregeln der Zusammenarbeit” gelten?
“Delegierte”
Was diese Konflikte verschärft, ist, dass alle Beteiligten darin nicht nur als Einzelpersonen handeln, sondern als “Delegierte” ihrer Bereiche, Abteilungen und Kollegen. Das heißt, sie sind nicht frei darin, welche Regelungen sie akzeptieren und welche Kompromisse sie schließen – schließlich kommen sie nach der Sitzung in ihre Bereiche zurück, müssen dort rechtfertigen, worauf sie sich eingelassen haben, und wollen gegenüber den eigenen Leuten nicht als Umfaller oder Verräter dastehen. Mit anderen Worten, solange die Mannschaften in “Wir” (= die Guten) gegen “Die” (= der Feind) denken, können die zarten Pflänzchen persönlicher Vertrauensbeziehungen zwischen Individuen kaum gedeihen.
Erkenntnisse der psychologischen Forschung
Die Sherif-Experimente
Um wirksame Strategien für eine Integration der Kulturen zu entwickeln, lohnt es sich, zu schauen, was die psychologische Forschung über kulturelle Rivalitäten und über Möglichkeiten zu deren Überwindung weiß. Sehr aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die klassischen Experimente von Muzafer Sherif und Kollegen, über die der Sozialpsychologe Peter R. Hofstädter in seinem Buch Gruppendynamik (1971) berichtet. Sherif und Kollegen veranstalteten in den fünfziger Jahren Ferienlager mit jeweils ca. 25 zwölfjährigen Buben. In einer ersten Phase beobachteten die Forscher, wie die sich die Teilnehmer kennenlernten und zu spontanen Freundschaftsgruppen und Cliquen zusammenschlossen. Nachdem sich diese Gruppen stabilisiert hatten, teilten die Forscher das gesamte Lager willkürlich in Untergruppen auf, und zwar so, dass die meisten dieser Freundschaftsgruppen zerrissen wurden. Was natürlich einiges Murren auslöste.
In-Group und Out-Group
Doch schon bald stabilisierten sich die neuen Gruppen und begannen, ihren eigenen Zusammenhalt zu entwickeln und sich zunehmend gegeneinander abzugrenzen. Schon bald trauerte niemand mehr den durch die Teilung verlorenen Freunden nach. Die Gruppen gaben sich eigene Namen (“Bull Dogs”, “Red Devils”) und begannen, positiv über sich selbst (“In-Group”) und negativ über die anderen (“Out-Group”) zu reden. “Natürlich wurde den beiden Gruppen auch Gelegenheit gegeben, sich aneinander zu messen”, berichtet Hofstädter treuherzig. (Man beachte das “natürlich”.) “Es kam also zu sportlichen Wettkämpfen (Tauziehen) und zu gemeinsamen Ausflügen – es kam freilich auch zum Ausbruch eines erheblichen Maßes an gruppenspezifischer Aggressivität. Das Tauziehen mündete in eine Rauferei, man beschuldigte einander der Unehrlichkeit, Schimpfnamen flogen hinüber und herüber, Überfälle auf die feindliche Unterkunft ereigneten sich, mit Fallobst wurden Schlachten ausgetragen, und schließlich wurde sogar die Fahne der gegnerischen Gruppe einmal feierlich verbrannt.”
Ausgeprägte Rivalitäten
Für erfahrene Pfadfinder hört sich das so an, als hätte die Lagerleitung beim Entstehen der Rivalitäten ein wenig nachgeholfen. Aber wie auch immer, das Resultat konnte sich sehen lassen: Der Grad an Rivalität zwischen den beiden Untergruppen war in seiner Herzhaftigkeit der zwischen fusionierenden Firmen durchaus ebenbürtig – nur die Art ihrer Austragung war offenbar etwas direkter.
Vier wirksame Mechanismen
Umso herausfordernder war die nächste Aufgabe, die sich die Forscher
stellten: Sie wollten Strategien entwickeln und empirisch überprüfen,
die entstandenen Subkulturen wieder zu einer gemeinsamen Gesamtgruppe
zusammenzuführen. (Leider ist nicht überliefert, ob Sherif und Kollegen
es auch mit Visionen, Leitbildern und/oder Kultur-Workshops probiert haben.) Vier Vorgehensweisen erwiesen sich als wirksam, um die feindselige
Abgrenzung aufzulösen und wieder ein übergreifendes Wir-Gefühl entstehen
zu lassen:
- Gemeinsamer Gegner – z.B. Wettkampf mit einer Mannschaft
aus dem Nachbarort; - gemeinsame Not – z.B. angeblicher Zusammenbruch
der Wasserversorgung; - gemeinsamer Vorteil – z.B. Ausleihen eines Spielfilms
durch Zusammenlegen der gemeinsamen Ersparnisse; - gemeinsame Freude – z.B. vorbereitungsaufwändiger Ausflug.
Übergeordneter Grund zur Kooperation
Die Abgrenzung der vier Mechanismen ist etwas unscharf; ihr gemeinsamer Nenner aber ist ganz offensichtlich, dass es einen handfesten und für alle Beteiligten ausreichend starken Grund geben muss, der es wert ist und es erforderlich macht, die Gruppenegoismen hintan zu stellen und mit “den anderen” zu kooperieren. Und siehe da: Wenn eine Kooperation im deutlichen eigenen Interesse der Beteiligten ist, dann findet sie in aller Regel auch statt.
Integration durch eine herausfordernde Aufgabe
“Kampf ums Überleben”
In der Wirtschaft wird, um Manager und Mitarbeiter eines Unternehmens zu solidarisieren, sehr häufig das Argument der Wettbewerbsfähigkeit, der Sicherung der Arbeitsplätze oder, noch dramatischer, der “Kampf ums Überleben” bemüht, also letztlich das Argument “gemeinsame Not”. Doch meine wiederkehrende Erfahrung ist, dass diese Argumente nur begrenzt geeignet ist, als dauerhafte Energiequelle zu dienen. Die Wettbewerbsfähigkeit ist wohl zu abstrakt und zu wenig greifbar, um handlungsleitend zu wirken. Die Sicherung der Arbeitsplätze und der “Kampf ums Überleben” eignen sich, sofern die Bedrohung glaubhaft ist, zwar als Anreiz für kurzfristige Kraftakte und Schulterschlüsse, aber nicht als dauerhafte Motivation. Ein möglicher Grund dafür ist, dass negativ formulierte Ziele problematisch sind, weil unser Gehirn angeblich außerstande ist, Negationen zu verarbeiten. Noch wichtiger dürfte aber sein, dass Vermeidungsziele (“Wir dürfen auf keinen Fall verlieren!”) Dauerstress auslösen, der früher oder später in einem Erschöpfungzustand endet. Exakt das ist die Reaktion der Mitarbeiter, wenn der Kampf ums Überleben über Jahre hinweg als Motivationsmittel strapaziert wird. Dann nutzt er sich entweder ab, oder er mündet in Resignation: “Lieber ein Ende mit Schrecken!”
Neue echte Herausforderung
Der beste Weg, beide Seiten aus ihrer defensiven Haltung herauszuholen und die Kulturen zusammenzuführen, ist, das neue Unternehmen unmittelbar nach der Fusion mit einer gemeinsamer Aufgabe zu konfrontieren, die Mitarbeiter wie Manager aufs Äußerste fordert und sie unabhängig von ihrer Herkunft zur Zusammenarbeit zwingt. Dieses Herangehen habe ich zum ersten Mal Anfang der neunziger Jahre bei der großen Fusion von Asea und Brown Boveri zu ABB erlebt. Unmittelbar nach dem Merger konfrontierte die Konzernleitung das gesamte Unternehmen mit der Forderung, die Durchlaufzeiten um 50% zu verkürzen, 15% der Kosten einzusparen und zugleich die Qualität zu verbessern.
Gemeinsame Probleme schweißen zusammen
Die ersten spontanen Reaktionen auf diese Forderung waren eher herb. Auf allen Fluren wurde darüber räsoniert, dass der Vorstand nun offenbar den Verstand verloren hatte – oder sich von externen Beratern ein völlig abstruses Konzept hatte aufschwatzen lassen. Für den “gemeinsamen Feind” war damit schon einmal gesorgt. Doch der Vorstand zeigte wenig Verhandlungsbereitschaft: Er machte die Manager persönlich für das Erreichen dieser “unmöglichen Ziele” verantwortlich und gab sehr deutlich zu erkennen, dass er willens war, sich kurzfristig von Führungskräften zu trennen, die dabei nicht mitzogen. Damit war auch die “gemeinsame Not” gegeben, was sie letztlich doch davon überzeugte, sich für das Vorhaben zu engagieren. Zugleich lobte der Vorstand substanzielle Prämien für diejenigen aus, die die gesetzten Ziele erreichten – was für einen “gemeinsamen Vorteil” sorgte.
Zwang zur Zusammenarbeit integriert Kulturen
Die hohe Zielvorgabe war aber nur durch die komplette Neustrukturierung sämtlicher Abläufe – und damit durch die “kreative Zerstörung” (Schumpeter) der alten Welten auf beiden Seiten – zu erreichen. Im gemeinsamen Ringen um diese hochgesteckten Zielen ergab sich “nebenher” und beinahe unbemerkt auch die Integration der Kulturen: Da ohnehin alles alle Abläufe auf den Kopf gestellt werden mussten, ergab “Revierverteidigung” ebenso wenig einen Sinn wie ein Kampf um die Durchsetzung der eigenen Denkmodelle. Stattdessen rangen die Ingenieure beider Seiten mit vereinten Kräften um wesentlich schnellere und effizientere Prozesse. . Und als es schließlich in vielen Bereichen gelang, die anfangs für völlig unrealistisch gehaltenen Ziele zu erreichen, war schließlich auch die “gemeinsame Freude” groß.
Fallbeispiele
In ähnlicher Weise leistete bei der Fusion von Krupp und Hoesch Mitte der neunziger Jahre das so genannte 4K-Programm einen entscheidenden Beitrag zum Erfolg der Integration. “4K” stand für “Kunden – Kosten – Kreativität – Kommunikation”; entscheidend war indes nicht der Name und Inhalt des Programms, sondern drei andere Faktoren: Erstens dass die Konzernleitung allen Konzernunternehmen sehr anspruchsvolle Vorgaben in Bezug auf Durchlaufzeiten, Qualität und Eigenkapitalrendite machte, zweitens dass sie in Zusammenarbeit mit einem renommierten Beratungsunternehmen methodische Unterstützung zu Verfügung stellte, und drittens, dass sie mit großem Nachdruck und hohem persönlichen Einsatz die Umsetzung des Programms begleitete und vorantrieb. Auch hier wurden nicht nur die Ziele weitgehend erreicht, sondern nebenher gelang auch die Integration der Kulturen – und zwar schnell und völlig “unblutig”.
Schlussfolgerung
Was lernen wir daraus? Ableiten lässt sich daraus, worauf es bei der kulturellen Integration wirklich ankommt: Wirksamer als alle wohlmeinenden Appelle, herzergreifenden Ansprachen und erlebnisorientierten Outdoor-Workshops ist für das Zusammenwachsen zweier Kulturen genau das, was Sherif und Kollegen schon vor mehr als einem halben Jahrhundert als das Erfolgsrezept der kulturellen Integration identifiziert haben, nämlich eine lohnende und herausfordernde Aufgabe, die nur durch eine gute Zusammenarbeit quer über alle Lager hinweg zum Erfolg zu führen ist. Im Idealfall treffen ihre vier Erfolgsfaktoren zum Vorteil zusammen und verstärken sich gegenseitig: Ein gemeinsames Feindbild (Top-Management / Berater), eine gemeinsame Not (erheblicher Ärger bei Zielverfehlung), ein gemeinsamer Vorteil (gute Ergebnisse und finanzielle Prämien) und schließlich die gemeinsame Freude (über das erfolgreiche Lösen der unlösbaren Aufgabe).
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Über den Autor
Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung.