Inhaltsverzeichnis:
- 1 Lewins Drei-Phasen-Modell
- 2 Ein unterschwellig autoritäres und konfliktträchtiges Modell
- 3 Kampf mit dem eigenen Echo
- 4 Die Beliebigkeit der Stimmungskurven
- 5 Es kommt auf die Ausgangslage an …
- 6 Völlig unterschiedliche Verläufe
- 7 Das Kotter-Modell: Schlüssig, aber begrenzt
- 8 Variationen über ein Thema von Kurt Lewin
- 9 Selber denken statt Phasenmodellen vertrauen
- 10 Den Verlauf der Change Curve aktiv bestimmen, statt auf ihre Eigendynamik zu vertrauen
- 11
- 12 Kostenfreies Erstgespräch
Lewins Drei-Phasen-Modell
Das “Refreezing” gibt es nicht
Der offensichtlichste Einwand gegen dieses Drei-Phasen-Modell ist, dass es die dritte Phase gar nicht gibt: In über 30 Jahren Change Management mit Hunderten von Veränderungsprojekten habe ich noch nie ein “Refreezing” erlebt. Kein einziges Mal hat mich ein Vorstand oder Geschäftsführer darum gebeten, seine Organisation nach erfolgter Veränderung wieder “einzufrieren”, sie also wieder in einen starren, statischen Zustand zu versetzen – im Gegenteil: Die meisten waren eher auf der Suche nach Ideen, wie man die gewonnene Beweglichkeit und Veränderungsbereitschaft erhalten und ausbauen könnte, um von den ständig aufeinander folgenden Veränderungen besser gewachsen zu sein. Das mag zu Lewins Zeiten in den vierziger und fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts anders gewesen sein, als Organisationen noch sehr viel statischer waren. Insofern trifft diese Kritik weniger Lewin als diejenigen, die heute noch unbeirrt von jeder von allen Fakten einem “Refreezing” schwadronieren. Ist es denn wirklich zu viel verlangt, dass man ein Modell, bevor man es unschuldigen Dritten lehrt, mit der eigenen praktischen Beobachtung abgleicht?!
Ein unterschwellig autoritäres und konfliktträchtiges Modell
Von der Labora-toriumsforschung geprägt
Aber nicht nur der Realitätsbezug dieses Modells ist fraglich, noch fragwürdiger ist das dahinter stehende Weltbild. Man merkt ihm an, dass es aus längst vergangenen autoritären Zeiten stammt. Es ist geprägt von der Laboratoriumsforschung: Auf der einen Seite der aktive, bestimmende Laborleiter gibt, auf der anderen Seite die “wehrlosen” Versuchspersonen oder Versuchstiere (Tauben, Ratten, Psychologiestudenten). Charakteristisch die Assymmetrie der Zusammenarbeit: Der Laborleiter bestimmt die Spielregeln; den Versuchspersonen (oder -tieren) bleibt nur, innerhalb der Versuchsanordnung so zu reagieren, wie das Forschungsdesign es vorsieht. So wie der Pawlowsche Hund, der, in sein Geschirr festgeschnallt, beim Glockenton Speichel absondert.
Laborleiter versus Versuchsobjekte
In ähnlicher Weise suggeriert das Drei-Phasen-Modell einen intelligenten, ideenreichen Sozialtechnologen, der allein Herr des Verfahrens ist. Er nähert sich dem erstarrten sozialen System, das er zu verändern gedenkt, gewissermaßen mit einem psychologischen Bunsenbrenner, taut es auf und versetzt es in einen formbaren Zustand, formt es sodann nach Gutdünken um und schiebt es schließlich in einen Gefrierschrank, um es wieder in die vorherige Starre zu versetzen. Das soziale System reagiert dabei ähnlich passiv wie wenn Techniker ein Metall verflüssigen, in eine Form gießen und es wieder abkühlen lassen: Der Sozialtechnologe ist der kompetente “Macher”, das soziale System das willfährige Objekt der Veränderung.
Konfliktträchtige Rollenzuweisung
Eine solche Rollenverteilung mag dem Selbstbild angehender Sozialtechnologen schmeicheln, und sie mag den Wunschvorstellungen genervter Vorstände und frustrierter Change Manager entsprechen; mit der sozialen Realität von Veränderungsprozessen hat sie ziemlich wenig zu tun. Eher handelt es sich um eine Kontrollillusion, die ebenso anmaßend wie konfliktträchtig ist. Nicht nur, dass lebendige soziale Systeme überhaupt nicht daran denken, sich einfach mal so auftauen, umformen und wieder einfrieren zu lassen; die Übertragung dieses technischen Denkmodells auf soziale Systeme nimmt auch eine Rollenverteilung in handelnde Personen und “behandelte” Personen vor, also in Subjekte und Objekte der Veränderung, die für die Betroffenen nicht nur unattraktiv, sondern gerazu entwürdigend ist.
Clevere Manipulation des “tumben Volks”
So attraktiv, ja geradezu verführerisch die Rolle des Laborleiters erscheinen mag, sie weist den Mitarbeitern und Führungskräften die Rolle des “tumben Volks” zu, das von den cleveren Sozialtechnologen durch geschickte Manipulation der “Versuchsanordnung” dazu gebracht wird, erst seine Starre abzulegen (“unfreezing”), sich dann plastisch verformen zu lassen (“moving”), und alsdann wieder in seine gewohnte Starre zurückzusinken. Dieselben Trainer, Professoren und Studenten, die sich für diese Rollenverteilung in der Annahme begeistern, dass ihnen die Rolle des Laborleiter zugedacht ist, würden es mit Empörung zurückweisen, von ihren Auftraggebern oder Universitäten in dieser Weise behandelt zu werden.
Kampf mit dem eigenen Echo
Vorhersehbarer Widerstand gegen Manipulation und Fremdbestimmung
Wie die sozialpsychologische Forschung aber längst herausgefunden und vielfach bestätigt hat, ist es ein natürlicher Reflex gesunder Menschen, sich gegen jede Art von Manipulation, Fremdbestimmung und Einschränkung der eigenen Handlungsfreiheit zu wehren. Auf solche Versuche reagieren sie mit Reaktanz, das heißt mit heftigem Unwillen und dem Bemühen, ihre eingeschänkte oder bedrohte Freiheit wiederherzustellen. Das heißt praktisch: Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden sie gegen diese Rollenzuschreibung rebellieren und durch “kreativen Ungehorsam” zeigen, dass sie mehr sind als manipulierbare “Versuchskaninchen”. Entsprechend unwahrscheinlich ist, dass sich die Leute mit der ihnen zugedachten Rolle abfinden. Vielmehr werden sie denjenigen etwas husten, die sie “auftauen”, “umformen” und “wieder einfrieren” wollen.
… erzeugt den Widerstand selbst, die es hinterher “bearbeitet”
Die Zweiteilung in Subjekte und Objekte der Veränderung, in “Veränderer” und “Veränderte”, die Lewins Modell untersteht, ist nicht nur hochgradig manipulativ, sie führt das Change Management auch unweigerlich in einen Machtkampf: Da sie für die “zu Verändernden” ein hohes Maß an Fremdbestimmung und Kontrollverlust bedeutet, werden sie unweigerlich mit Reaktanz und Widerstand reagieren. Die Veränderung kann also nur dann erfolgreich sein, wenn es den Veränderern gelingt, dien Widerstände zu brechen und die widerspenstigen Objekte der Veränderung gegen ihren Willen in die neue Form zu zwingen und sie darin wieder einzufrieren. Was sie dabei in aller Regel gar nicht bemerken, ist, dass sie dabei mit einem Problem kämpfen, das sie durch ihr Vorgehen selbst herbeigeführt haben.
Das John Wayne-Modell der Veränderung und sein Echo
Letztlich steht hinter dieser Zweiteilung ein autoritäres “John-Wayne-Modell” des Change Managements: Der (gute) Held und seine Getreuen zwingen die Bösen, also die “Bremser und Blockierer”, mit List und Zwang, die Veränderungen, die sie verhindern wollen, schließlich doch hinzunehmen. Was dieses Modell konsequent übersieht, ist, dass seine Helden die Widerstände, die sie so heroisch bekämpfen, durch die Art ihres Denkens und Vorgehens zum großen Teil selbst ausgelöst haben. Der Widerstand, der ihnen entgegenschlägt, ist keineswegs die natürliche Reaktion sozialer Systeme auf Veränderung, er ist eine Reaktanz, die sie durch ihr eigenes Vorgehen provoziert haben: Sie bekämpfen sozusagen ihr eigenes soziales Echo. Die “Objekte” wehren sich gar nicht unbedingt gegen die angestrebten Veränderungen, sondern gegen die Art, wie sie behandelt werden, und die Rolle, die ihnen dabei zugeschrieben wird.
Ein Modell aus einer anderen Zeit
Es ist verzeihlich, dass Kurt Lewin, obwohl er ein großer Erneuerer war, in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf ein solches Modell verfiel: Das waren eben andere Zeiten. Lewin und seine Kollegen hatten selbst gerade erst begonnen, an der bis dahin als “alternativlos” geltenden autoritären Führung zu rütteln, beispielsweise mit seinen berühmt gewordenen Untersuchungen zu den drei Führungsstilen (autoritär, demonkratisch, laisser-faire). Trotzdem passt es nicht ganz zu manchen Romantisierungen der frühen Organisationsentwicklung, wie deutlich hinter diesem Modell die Hierarchie zwischen Laborleiter und Versuchsobjekten hervorschimmert.
Abschied von einem überholten Modell
Weniger verzeihlich ist, wie unkritisch dieses Modell heute noch verwendet wird, und zwar sogar von Dozenten und Autoren, die sich als “systemisch denkend” charakterisieren. Denn deses Modell ist eben gerade nicht “systemisch”, sondern sozialtechnokratisch. Es betrachtet die “Veränderer” so, als ob sie außerhalb des Systems stünden, das sie zu verändern trachten. (Was kein moralisches Problem ist, sondern “nur” ein praktisches: So missversteht man die eigene Rolle und produziert unnötige Widerstände.) Siebzig Jahre nach Lewin sollten wir etwas weiter sein und uns endlich von diesem Modell lösen, das in der Change-Praxis (und im Change-Denken) mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Mit seiner simplen Struktur verdient es vielleicht noch einen Platz im Museum der Organisationsentwicklung, doch vom praktischen Gebrauch ist wegen der inzwischen bekannten Risiken und Nebenwirkungen abzuraten.
Die Beliebigkeit der Stimmungskurven
Dir Frage nach der Alternative
Aber was ist die Alternative? Wie könnte ein anderes, “systemisches” Phasenmodell der Veränderung aussehen? Anläufe dazu gab es einige, wie beispielsweise die viel zitierte Veränderungskurve (Change Curve), die ihren Ursprung makabererweise in dem Sterbeprozess hat, wie ihn Elizabeth Kübler-Ross beschrieben hat. Oder das Acht-Stufen-Modell, das der amerikanische Change-Guru John Kotter 1996 in Leading Change vorgestellt und unlängst in Accelerate fortgeschrieben hat.
Alles über einen Kamm geschoren
All diesen Phasenmodellen ist gemeinsam die Annahme oder Unterstellung, dass jeder Veränderungsprozess vom Grundsatz her gleich verläuft. Das klingt zunächst einleuchtend, ist in der Realität aber keineswegs der Fall, denn natürlich löst eine feindliche Übernahme oder ein Kostensenkungsprogramm samt umfangreichen Personalabbaus bei den Betroffenen ein klein bisschen andere Emotionen aus als eine Software-Umstellung oder die Einführung eines neuen Leitbilds. Zeichnet man die reale Klimakurve unterschiedlicher Veränderungsprozesse nach, kommt man nicht nur zu ganz verschieden lang dauernden Teilphasen, sondern man wird feststellen, dass man manchmal ziemlich gewaltsam bestimmte Stimmungen in bestimmte Projektphasen “hineindeuten” muss, um auf den vorgeschriebenen Verlauf zu kommen.
Das Durcheinander beginnt schon mit dem Beginn
Das beginnt schon mit dem Beginn: Wo startet die Change-Kurve? Ist die erste Reaktion auf die Ankündigung eines Veränderungsvorhabens positiv, negativ oder neutral? Die Antwort lautet: Das kommt darauf an. In vielen Fällen ist sie negativ, weil sie ein Element von Fremdbestimmung enthält, das spontan Reaktanz auslöst, also Unwillen und Widerstand. Dazu kommt, dass die Leute ja nicht untätig herumgesessen sind, bevor das neue Change-Programm verkündet wurde. Die meisten haben mit dem Tagesgeschäft alle Hände voll zu tun und brauchen nichts so dringend wie ein paar zusätzliche Aufgaben. Kein Wunder also, wenn die erste Reaktion nicht immer von Begeisterung gekennzeichnet ist.
Wer kein Problem sieht, braucht keine Lösung
Das gilt erst recht, wenn die Mitarbeiter und Führungskräfte keinen Handlungsbedarf sehen. Denn wer kein Problem sieht, braucht auch nicht unbedingt eine Lösung dafür. Oder wenn in der jüngeren Vorgeschichte des Unternehmens etliche Change-Vorhaben versandet oder gescheitert sind. Dann ist es naheliegend, wenn die Leute sagen: “Bitte nicht schon wieder viel Arbeit für nichts!”
Es kommt auf die Ausgangslage an …
Es kann auch ganz anders sein
Aber es kann auch ganz anders sein. Manchmal werden neue Change-Vorhaben auch sehr positiv aufgenommen. Nämlich dann, wenn sie die Lösung für ein Problem versprechen, unter dem die Mitarbeiter leiden. Wenn das ganze Unternehmen zum Beispiel darunter leidet, dass die alte Organisationsstruktur hinten und vorne nicht mehr funktioniert, ist gut möglich, dass die Ankündigung einer Reorganisation mit Erleichterung und (allzu) großen Hoffnungen aufgenommen wird.
Lösung für ein drängendes Problem
Ähnliches gilt, wenn die bestehenden Prozesse quietschen und eiern, sodass der Arbeitsalltag der Mitarbeiter von vielen Fehlern, Missverständnissen und Qualitätsproblemen gekennzeichnet ist: Dann kann eine Prozessoptimierung oder ein TQM-Programm durchaus, wenn schon nicht mit Begeisterung, so doch mit Hoffnungen und einer positiven Grundstimmung aufgenommen werden.
Einsicht in den Handlungsdruck
Eine wichtige Rolle spielt auch, ob der bestehende Handlungsdruck den Mitarbeitern überzeugend vemittelt wurde oder noch besser, ob sie ihn im Rahmen eines Vorprojekts selbst entdeckt haben. Wenn die Mitarbeiter (oder Führungskräfte) zum Beispiel bei einer Analyse der Chancen und Bedrohungen zu dem Ergebnis kommen, dass “Weiter so” keine Option ist, weil asiatische Wettbewerber damit begonnen haben, ihr Geschäftsfeld zu attackieren, dass sich aber durch eine konsequente Fokussierung auf bestimmte Nischen neue Geschäftschancen entwickeln, dann brennen die Mitarbeiter und Führungskräfte förmlich darauf, ihre neu gewonnenen Erkenntnisse in die Tat umzusetzen, und entsprechend positiv startet das Projekt.
Die Klimakurve ist beeinflussbar
Das heißt, schon ganz am Beginn zeigt sich: Die “Change Curve” ist keineswegs ein Naturgesetz – sie ist beeinflussbar und hochgradig durch das gewählte Vorgehen bestimmt. Wer die Mitarbeiter und Führungskräfte dazu zwingen will, ein Problem zu lösen, das sie gar nicht sehen, und damit funktionierende Strukturen zerstört, der muss sich nicht wundern, wenn sie dagegen sind. In Wirklichkeit versuchen die viel beschimpften “Bremser und Blockierer” häufig nur, die Funktionsfähigkeit ihrer Bereiche vor den unausgegorenen Ideen der “Erneuerer” zu retten, und nehmen dafür in Kauf, vom Vorstand und seinen Beratern angegriffen zu werden. Wenn sie die Notwendigkeit einer Veränderung dagegen sehen und sie sich zutrauen, wenn sie vielleicht sogar die Chance sehen, einen Beitrag zu einem großen Durchbruch zu leisten, dann beginnt die Veränderungskurve an einem ganz anderen Punkt – und entsprechend anders verläuft sie dann auch.
Völlig unterschiedliche Verläufe
Regression zum Mittelwert – ist möglich
So unterschiedlich, wie die Stimmung am Anfang sein kann, geht sie auch weiter. Gemäß dem mathematischen Prinzip der “Rückkehr zum Mittelwert” (regression to the mean) könnte man vermuten: Je positiver die Stimmung begonnen hat, desto wahrscheinlicher ist, dass sich die Begeisterung im weiteren Verlauf abkühlt, und je negativer sie begonnen hat, desto mehr kann sie eigentlich nur noch nach oben gehen. An dieser Vermutung ist auch etwas dran – aber ein Naturgesetz ist dies nicht.
Ernüchterung und Durststrecken sind normal
In der Tat macht sich nach einem begeisterten Aufbruch oft eine gewisse Ernüchterung breit, wenn sichtbar wird, dass das Vorhaben mit wesentlich mehr Arbeit verbunden ist als man am Anfang geglaubt hat – und dass das vermeintlich geniale Konzept auch nicht alle Menschheitsprobleme löst, sondern nur manche. Insofern sind einkehrende Ernüchterung und zwischenzeitliche Durststrecken tatsächlich (fast) eine universale Erfahrung (nicht nur) in Change-Projekten.
Was schlecht begonnen hat, kann schlecht bleiben
Leider ist der Umkehrschluss nicht zulässig: Wenn ein Projekt in sehr negativer Stimmung begonnen hat, folgt daraus leider nicht, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sich das Klima ins Positive wendet. Wie zahlreiche Übernahme-Opfer wissen, kann, was schlecht begonnen hat, durchaus schlecht bleiben. Auch bei Kostensenkungsprogrammen und Personalabbau kann ich mich nicht erinnern, dass sich die Stimmung irgendwann ins Positive kehrte. Allenfalls setzt am Schluss eine gewisse Erleichterung ein, dass das Tal der Tränen nun durchquert ist. Aber die Betroffenen würden es wohl zu Recht als Zynismus empfinden, wenn man an dieses Aufatmen am Ende der Klimakurve das Etikett “Akzeptanz der Veränderung” klebte.
Beliebige Kurven ohne Vorhersagewert
Der Sterbeprozess, wie ihn Kübler-Ross beschrieben hat, endet mit dem Tod. Dort geht es darum, sich mit dem Unvermeidlichen auseinanderzusetzen und es schließlich zu akzeptieren. Gut möglich also, dass dieser Prozess bei allen individuellen Unterschieden einen recht einheitlichen Verlauf hat. Wer sich dagegen die Mühe macht, die Veränderungskurven aus verschiedenen Büchern und Veröffentlichungen herauszusuchen und nebeneinander zu legen, wird feststellen, dass es gar keine einheitliche Change Curve gibt, sondern unzählige Varianten, die unterschiedliche Autoren offenbar entweder irgendwo abgepaust oder auf Basis ihrer eigenen Annahmen und Erfahrungen freihändig gezeichnet haben. Man muss also nur lange genug suchen, um eine Kurve zu finden, die im Nachhinein sehr gut zu dem eigenen Projekt passt. Nur mit dem Vorhersehen und Vorhersagen der Klimaentwicklung ist es angesichts der reichhaltigen Auswahl ein bisschen schwierig.
Ein guter Abschluss ist keineswegs garantiert
Letztlich haben all diese Veränderungskurven nur zweierlei gemeinsam, nämlich dass sie früher oder später durch ein Stimmungstief hindurch führen – und dass sie zweitens positiv enden, mit “Zufriedenheit”, freundlicher Stimmung und “Akzeptanz” (womit Elizabeth Kübler-Ross die Akzeptanz des eigenen Endes meint). Wenn man die wirkliche Change-Realität betrachtet, ist solch ein positiver Abschluss alles andere als garantiert. Was ist denn mit all den Veränderungsvorhaben, die gescheitert oder “sanft eingeschlafen” sind? Enden sie auch in “Akzeptanz” und positiver Stimmung? Was ist mit den Projekten, in denen der erreichte Zustand kaum weniger unbefriedigend ist als der, mit dem man begonnen hat? Entgegen der Hoffnung, dass am Ende alles gut wird, gibt es keinen Rechtsanspruch auf Erlösung: In etlichen Fällen steht am Ende eher Erleichterung, dass es vorbei ist, oder, wie etwa bei verkorksten Fusionen, das Sich-Abfinden mit dem Unvermeidlichen.
Das Kotter-Modell: Schlüssig, aber begrenzt
Kotters Acht-Stufen-Modell
Das viel zitierte Acht-Stufen-Modell des bekannten Harvard-Professors John Kotter ist im strengen Sinne kein Phasenmodell, sondern ein Rezept für das Vorgehen, um erfolgreiche Veränderungen zu realisieren – allerdings mit hohem Anspruch auf Allgemeingültigkeit. In seinem Buch Leading Change (1996) empfiehlt er, Change-Prozesse grundsätzlich in folgenden acht Schritten zu organisieren:- Establishing a Sense of Urgency
- Creating the Guiding Coalition
- Developing a Vision and Strategy
- Communicating the Change Vision
- Empowering Employees for Broad-Based Action
- Generating Short-Term Wins
- Consolidating Change and Producing More Change
- Anchoring New Approaches in the Culture.
Vordergründig einleuchtende Sequenz
Da er diese acht Stufen aber als zeitliche Sequenz versteht und ausdrücklich empfiehlt, sich an diese Reihenfolge zu halten, kann man sein Modell dennoch im weiteren Sinne den Phasenmodellen zurechnen. Auch diese acht Stufen klingen zunächst einmal plausibel – jedenfalls, solange man sie nicht auf einen konkreten Change-Prozess anzuwenden versucht. Wer sie dagegen auf ein konkretes Veränderungsvorhaben anwendet, wird in vielen Fällen ähnlich ins Schleudern kommen wie mit der Change Curve.
Weniger allgemeingültig als der Anspruch
Geht man unterschiedliche Typen von Veränderungsvorhaben der Reihe nach durch, zeigt sich, dass Kotters Vorgehensmodell keineswegs so allgemeingültig ist wie es zu sein beansprucht. Stellen Sie sich beispielsweise eine Turnaround-Situation vor: Ein Unternehmen ist in ernsthaften Schwierigkeiten und bedarf dringend einer radikalen Kostensenkung. Würden Sie da wirklich Zeit darauf verwenden, einen “Sense of Urgency” zu etablieren und eine “Guiding Coalition” schmieden? Der “Sense of Urgency” ist da, sobald die Führungskräfte und Mitarbeiter den Ernst der Lage begriffen haben – und ab diesem Moment geht es eher darum, Panik zu verhindern und vor allem schnell zu handeln, solange die Liquidität noch reicht. Auch bei einer Fusion oder Übernahme erübrigt sich das Wecken eines Sense of Urgency – sobald die Nachricht heraus ist, ist er im Übermaß vorhanden. Wenn Sie es nicht glauben, wird es Ihnen der Betriebsrat sehr schnell deutlich machen.
Das Modell passt längst nicht für alle Change-Prozesse
Umgekehrt wird es bei der Einführung eines neuen IT-Systems, bei einem Betriebssystem-Upgrade oder dem Releasewechsel einer Standardsoftware vielleicht etwas übertrieben wirken, das ganze große Programm mit “Guiding Coalition”, “Developing a Vision and Strategy” und “Communicating the Change Vision” zu fahren. Auch mit dem “Empowering Employees for Broad-Based Action” und dem “Generating Short-Term Wins” wird es nicht so einfach sein, geschweige denn mit “Consolidating Change and Producing More Change”. Vielmehr wird das Top-Management froh sein, wenn die Umstellung vorbei ist und sich die Abläufe so langsam wieder stabilisieren. (Es muss ja nicht gleich ein “Refreezing” sein.)
Ausnahmen, Ausnahmen …
Umgekehrt wird Kotters Programm wohl nicht reichen, um ein TQM-System aufzubauen, Lean Management einzuführen oder eine dauerhafte Kulturveränderung zu verankern. So wichtig “Short-Term Wins” dabei sind, hier muss man sich zum Beispiel auch mit der Frage auseinandersetzen, welche Hindernisse einer dauerhaften Verhaltensänderung im Weg stehen, ein geeignetes Change-Controlling aufbauen und die HR- und Steuerungssysteme entsprechend anzupassen.
Variationen über ein Thema von Kurt Lewin
“Transformation” eines satten und selbstgefälligen Unternehmens
Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass Kotters Modell vor allem auf einen Typus von Change-Prozessen zugeschnitten ist, nämlich auf das Ziel, ein satt und selbstgefällig gewordenes Unternehmen in Bewegung zu bringen (“unfreeze” – Kotters Senior-Partner Kurt Lewin lässt grüßen) und es so zu “transformieren” (“move”), dass es den veränderten Bedingungen von Markt und Wettbewerb wieder besser gewachsen ist.
Zugeschnitten auf große Aufbrüche
Andeutungsweise räumt Kotter diese Einschränkung selbst ein, wenn er sein Modell im zweiten Kapitel charakterisiert als “a method designed to alter strategies, reengineer processes, or improve quality” (S. 20). Dass er primär große Aufbruchssituationen im Kopf hat, lässt er auch in der Einführung zum dritten Kapitel anklingen: “Whether taking a firm that is on its knees and restoring it to health, making an average contender the industry leader, or pushing a leader farther out front …” (S. 35)
Leading Change in Aufbruchs-Situationen
Eigentlich erstaunlich, dass Kotter 50 Jahre nach Lewin unausgesprochen von der gleichen Ausganglage ausgeht wie der Ahnherr der Phasenmodelle, aber jene unzähligen anderen Change-Situationen ignoriert, in denen die Basis eine ganz andere ist – und die infolgedessen auch eine andere Vorgehensweise erfordern. Dass er mit seinem Modell eigentlich nur eine von vielen Change-Herausforderungen beschreibt, steht sozusagen im Kleingedruckten – doch es hindert viele Vorstände und “Experten” nicht, sein Acht-Stufen-Modell auch auf Change-Situationen anzuwenden, für die es eigentlich gar nicht passt.
Selber denken statt Phasenmodellen vertrauen
Es kann kein einheitliches Phasenmodell geben
Aber was ist die Alternative? Nachdem ich nun alle handelsüblichen Phasenmodelle “zerrissen” und ihre Schwächen aufgezeigt habe, liegt natürlich die Frage nahe, wie mein Phasenmodell aussieht, das all diese Mängel behebt und wirklich für alle Typen von Change-Prozessen passt. Die Antwort ist, dass es dieses Modell nicht gibt und nach meiner Überzeugung auch nicht geben kann. Zu verschieden sind die Emotionen, die durch die unterschiedlichsten Arten von Change-Vorhaben ausgelöst werden, als dass sich ein einheitliches Schema über alle – oder auch nur die meisten – stülpen ließe.
Unterschiedlichste Ausgangspunkte und Verläufe
Zu verschieden sind zum anderen auch die Ausgangspunkte und Rahmenbedingungen der jeweiligen Projekte. Dazu zählen:- die Vorgeschichte des Unternehmens und die Erfahrungen, die die Führungskräfte und Mitarbeiter in der Vergangenheit mit Change-Vorhaben gemacht haben. Denn natürlich macht es für die Stimmung und vor allem für die erste Reaktion einen gewaltigen Unterschied, ob die Belegschaft gewohnt ist, dass angepackte Veränderungen auch durchgezogen und zum Erfolg geführt werden oder ob sie stillschweigend davon ausgeht, dass dieses Projekt ebenso versanden wird wie unzählige andere davor;
- die Erfahrungen, das die Belegschaft mit diesem Management (oder seinen Vorgängern) gemacht hat, und daraus abgeleitet, ihr Vertrauen (oder Misstrauen) in die Redlichkeit und Kompetenz des Top-Managements,
- der erkannte Handlungsdruck,
- das Selbstvertrauen der Belegschaft in ihre Fähigkeiten, Veränderungen erfolgreich bewältigen zu können,
- die Art, wie das Change-Vorhaben angekündigt und wie im weiteren Verlauf über dessen Fortgang informiert wird,
- die Annahme, den Arbeitsaufwand, der mit dem Veränderungsvorhaben einhergeht, zeitlich bewältigen zu können – bzw. das Gefühl, wegen zahlreicher anderer Großbaustellen am Rande der eigenen Leistungsfähigkeit zu stehen,
- die gewählte Vorgehensweise, die durch die gewählte Rollenverteilung sowohl die Bereitschaft zur engagierten Mitarbeit wecken als auch heftige Widerstände provozieren kann,
- das Ausmaß, in dem Mitarbeiter und Führungskräfte in das Vorhaben einbezogen werden und aktiv an dessen Ausgestaltung mitwirken können,
- sowie all die positiven und negativen Erfahrungen, die Mitarbeiter und Führungskräfte in dessen Verlauf mit dem Projekt machen, und
- nicht zuletzt andere Projekte, die parallel zu dem eigenen oder danach gestartet werden und die unter Umständen widersprüchliche Signale setzen oder andere Themen ins das Zentrum der Aufmerksamkeit schieben.
Eindenken, Einfühlen und mit Insidern reden
Statt daher auf Phasenmodelle zu vertrauen, ist es sinnvoller, die Vorgeschichte des Unternehmens zu erkunden und sich in die betroffenen Mitarbeiter und Führungskräfte hineinzudenken, in sie einzufühlen und sich zu überlegen, wie man die Situation an ihrer Stelle wahrnehmen und erleben würde. Nützlich ist auch, die ins Auge gefasste Vorgehensweise mit einigen erfahrenen Insidern zu diskutieren und auf ihre Reaktionen zu achten. Beispielsweise erfährt man so, welche Methoden und Vorgehensweisen, obwohl sie einem selber ganz “unschuldig” erscheinen, aufgrund früherer schlechter Erfahrungen belastet sind und daher besser nicht verwendet werden sollten. Unter Umständen kann man bei einer solchen Gelegenheit auch unterschiedliche Vorgehensmodelle vorstellen und hören, ob sie für die Betroffenen einen Unterschied machen.
Den Verlauf der Change Curve aktiv bestimmen, statt auf ihre Eigendynamik zu vertrauen
Alternative Vorgehensweisen und ihre Resonanz prüfen
Wenn dies der Fall ist, dann lohnt es sich, darüber nachzudenken, mit welcher Vorgehensweise man die größte Akzeptanz erreicht, ohne dabei die Projektziele zu gefährden. (Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht dabei ausdrücklich nicht darum, die Vorgehensweise auszuwählen oder gar von den Mitarbeitern auswählen zu lassen, die “am besten ankommt”. Auf der anderen Seite hat es auch wenig Sinn, ohne Not negative Assoziationen oder Widerstände zu provozieren, mit denen man hinterher zu kämpfen hat und an denen das Vorhaben möglicherweise scheitert.)
Adäquate Rollenverteilung
Eine wichtige Frage ist dabei regelmäßig, welche Rolle im Rahmen des Projektes den unterschiedlichen Akteuren und Gruppierungen zugedacht ist. Denn wie erwähnt, rebellieren die Betroffenen, wenn man genauer hinsieht, gar nicht gegen die Projektziele, sondern gegen die ihnen zugeschriebene (oder zugemutete) Rolle. Wenn beispielsweise die altgedienten Führungskräfte implizit in die Rolle der Bewahrer, Bremser und Blockierer gedrängt werden, dann ist es eigentlich keine Überraschung, wenn sie dem Projekt ablehnend gegenüber stehen. Doch ihr Widerstand hat dann weniger weniger mit den Projektzielen zu tun – er ist in erster Linie das “soziale Echo” der gewählten Vorgehensweise.
Kein Naturgesetz, nur Ihr Echo
Auch im weiteren Verlauf ist die “Change Curve” weniger von Naturgesetzen bestimmt als vom eigenen Vorgehen. Wer den Handlungsbedarf nicht ausreichend deutlich macht, muss sich nicht wundern, wenn die Mitarbeiter dem Vorhaben reserviert gegenüber stehen. Wer über die Ziele der Veränderung und über das Vorgehen nicht genug informiert, muss sich nicht wundern, wenn die Stimmung absackt und die Gerüchte ins Kraut schießen. Wer versucht, die Betroffenen zu überrumpeln, muss sich nicht wundern, wenn ihm alsbald eine Welle von Misstrauen entgegenschlägt. Aber das liegt dann an ihm selbst und nicht an der natürlichen und unvermeidlichen Dynamik von Change-Prozessen, wie sie – angeblich – in der Change Curve beschrieben sind.
“Am Ende wird alles gut”? – Von wegen!
Am allerwenigsten Sinn hat es aber, sich im Vertrauen auf die Change Curve darauf zu verlassen, dass sich die Stimmungskurve im Verlauf des Projektes auf magische Weise von selbst nach oben bewegen wird, sodass unabhängig vom eigenen Verhalten und Vorgehen am Ende alles gut wird. Wer darauf vertraut, könnte dazu geneigt sein, sich um seine Vorgehensweisen keine überflüssigen Sorgen zu machen – doch er dürfte bitter enttäuscht werden.
Literatur: Duck, Jeanie Daniel (2001): The Change Monster – The Human Forces That Fuel or Foil Corporate Transformation & Change; Crown-Business (New York)
Kohnke, Oliver; Wieser, Doris (2012): Die Veränderungskurve – ein Beratermythos? OrganisationsEntwicklung 1/2012
Verwandte Themen: Beziehungskonflikte Machtkampf Reaktanz Widerstände Typologie der Veränderungsprozesse
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Über den Autor
Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung.