Inhaltsverzeichnis:
- 1 Von wegen Werte und Überzeugungen
- 2 Pragmatischer Kompromiss zwischen unterschiedlichen Zielen
- 3 Wir wählen – aber wir wählen nicht “frei”
- 4 Unreflektiertes Übernehmen der Rahmenbedingungen
- 5 Die Macht der Umstände
- 6 Große Chance für das Change Management
- 7 Fallbeispiel “RoKa”: Von der Dependance zur Lagerbildung
- 8 Andere Rahmenbedingungen – anderes Verhalten
- 9 Die Rolle von Einstellungen und Überzeugungen
- 10 Einstellungen als Katalysator zur Akzeptanz
- 11 Exkurs: Veränderung der Rahmenbedingungen als Instrument gesellschaftlicher Veränderungen
- 12
- 13 Kostenfreies Erstgespräch
Von wegen Werte und Überzeugungen
Die guten Vorsätze und die Realität
Um das besser zu verstehen, ist es nützlich, sich einige Beispiele anzuschauen. Nehmen wir beispielsweise an, wir seien auf einer längeren Reise und bekämen allmählich Hunger. Zwar haben wir uns schon lange vorgenommen, uns gesünder zu ernähren: Mehr frisches Obst und Gemüse, weniger “fast” Food, weniger Fett, weniger Fertignahrung. Aber wir haben noch eine längere Fahrt vor uns und eigentlich keine Zeit für (und keine Lust auf) einen längeren Aufenthalt. Also halten wir irgendwo an einer Tankstelle und wählen aus dem vorhandenen Angebot. Bahnreisenden gehen ins “Bordbistro” und suchen sich dort etwas aus.
Offenkundig hat das vorhandene Angebot auf unser reales Handeln mindestens ebenso starken Einfluss wie unsere guten Vorsätze und Überzeugungen. Dazu kommt, dass uns, wenn wir so richtig hungrig sind, kalorien- und fettreiche Nahrungsmittel weitaus mehr ansprechen als fettarme gesunde. Nicht viel anders läuft es mittags in der Kantine: Wir wählen, was attraktiv platziert ist und uns am meisten “anlacht”. Deshalb ist es keine Übertreibung zu sagen, dass der Kantinenchef auf die Leistungsfähigkeit der Belegschaft am Nachmittag und auf deren langfristigen Gesundheitszustand mehr Einfluss hat als die gesamte Personalabteilung.
Pragmatischer Kompromiss zwischen unterschiedlichen Zielen
Kein äußerer Zwang
Was geschieht hier eigentlich? Wieso beeinflussen die Rahmenbedingungen das Verhalten, und wie stark beeinflussen sie es? Gleich ob im Auto, im Zug oder in der Kantine: Niemand ist durch die Rahmenbedingungen gezwungen, sich ungesund zu ernähren. Er/sie hätte sich ja etwas zum Essen von zuhause mitnehmen oder die Zeit für einen gesünderen Zwischenstopp einplanen können. In vielen Kantinen und Bahnhöfen wird inzwischen sogar gesündere Verpflegung angeboten, auch wenn sie nicht immer günstig platziert und leicht zu nutzen ist (zumal wenn man mit Gepäck unterwegs ist). Trotzdem wäre es möglich – insofern taugen die Rahmenbedingungen weder aus Ausrede noch als Rechtfertigung für “ungesundes” Verhalten.
Kompromiss zwischen vielen unterschiedlichen Zielen
Das Problem im wirklichen Leben ist, dass wir in aller Regel nicht nur ein einziges Ziel verfolgen. Wir haben eben nicht nur die Absicht, uns gesund zu ernähren, sondern zum Beispiel auch das Ziel, so satt zu werden, dass wir nicht nach anderthalb Stunden wieder Hunger bekommen, sowie das Ziel, auf Reisen oder in der Mittagspause nicht allzu viel Zeit zu verlieren. Unser tatsächliches Handeln besteht nur sehr selten in der Optimierung eines einzigen Ziels, dem wir alles andere unterordnen; vielmehr ist es ein pragmatischer Kompromiss zwischen einer Vielzahl unterschiedlicher Ziele, und zwar unter den Rahmenbedingungen, die die Situation mit sich bringt.
Der pragmatisch einfachste Weg
Das heißt praktisch, wenn wir etwa auf einer Reise nach ein paar Stunden plötzlich und unerwartet vom Hunger überrascht werden, schauen wir, wie wir dieses Problem lösen können, ohne Abstriche an unseren übrigen Zielen machen zu müssen. Also gehen wir zum Beispiel ins “Bordbistro” und wählen – notgedrungen – aus den vorhandenen Angeboten. Natürlich könnten wir angesichts des Angebots auch abwinken und den Hunger aushalten, oder wir könnten am nächsten Bahnhof aussteigen und uns auf die Suche nach einer gesünderen Verpflegung machen – aber das tun real die wenigsten Menschen, und zwar nicht etwa, weil sie zu “bequem” sind, sondern weil sie damit andere Ziele in Gefahr bringen würden, wie etwa, termingerecht ans Ziel zu kommen, ihr Gepäck nicht unnötig herumschleppen und nicht nach einem anderen Zug suchen zu müssen, der dann möglicherweise verspätet oder überfüllt ist.
Die Macht der Rahmenbedingungen
An dieser Stelle kommen die Rahmenbedingungen mit Macht ins Spiel: Gleich ob im Zug, in der Raststätte oder in der Kantine, in aller Regel wählen wir aus dem, was zur Auswahl steht. Nur wenn wir das Angebot völlig inakzeptabel finden, weisen wir es zurück und gehen verstimmt ins Abteil zurück. Das heißt in der Konsequenz: Das vorgegebene Angebots hat großen, ja sogar sehr großen Einfluss auf unser Verhalten. Dabei ist unsere Wahl auch davon bestimmt, in welcher Position und wie attraktiv die Alternativen präsentiert sind. Die “Schnitzelwoche” in der Kantine lenkt ohne jeden Zwang das Verhalten der Belegschaft, genau wie die “Salatwoche” es tut. Was – zum Beispiel als “Angebot der Woche” – ins Blickfeld gerückt wird, verkauft sich besser als das, was schwer zugänglich, unattraktiv oder versteckt dargeboten ist; das Gleiche gilt für das, was (tatsächlich oder vermeintlich) günstig angeboten wird.
Wir wählen – aber wir wählen nicht “frei”
Die Illusion, frei zu wählen
Auf diese dezente Weise beeinflussen die Rahmenbedingungen unser Verhalten sehr viel stärker als uns das bewusst ist: Gleich ob im Kaufhaus, vor dem Kühlschrank oder bei der Bundestagswahl, wir glauben, frei zu entscheiden – aber in aller Regel wir wählen aus dem vorhandenen Angebot, und die Einschränkungen unserer Wahlmöglichkeiten, die uns das jeweils vorhandene Angebot steckt, bemerken wir entweder gar nicht oder nehmen sie als gegeben und kaum beeinflussbar hin. Insofern wählen wir zwar, aber wir wählen nicht “frei”, sondern “gebunden”: Gebunden durch die zur Auswahl stehenden Alternativen, gebunden aber auch durch die Menge der Energie, die wir für das jeweilige Thema angesichts anderer, konkurrierender Ziele und Aufgaben aufzuwenden bereit sind.
Zum Pragmatismus gezwungen
Natürlich haben wir die Möglichkeit, uns bewusst zu entscheiden, mehr Zeit und Kraft zu investieren, um uns attraktivere Alternativen zu verschaffen: Etwa durch die Suche nach anderen Geschäften, durch einen nächtlichen Einkauf oder durch die Gründung einer neuen Partei – aber nur um den Preis, dadurch noch weniger Zeit für andere, konkurrierende Ziele zu haben und deshalb dort noch mehr zur pragmatischen Auswahl aus den gegebenen Alternativen gezwungen zu sein. Und genau so verhalten wir uns auch, jedenfalls bei all den Themen, die nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit und unseres bewussten Interesses stehen. Sie müssen eben irgendwie auch abgedeckt und miterledigt werden, aber sie sind uns nicht so wichtig, dass wir ihretwegen größere Abstriche an anderen Zielen in Kauf zu nehmen bzw. einen nennenswerten Preis zu bezahlen bereit sind.
Das allzu oft mitschwingende “Eigentlich”
Schon wegen der Vielzahl von Aufgaben und “Sachzwängen”, die unseren Alltag bestimmen, bleibt uns kaum eine andere Wahl, als einen hohen Grad von Pragmatismus walten zu lassen. Oft tun wir das in dem mehr oder weniger klaren Bewusstsein: Was wir gerade tun, entspricht zwar “eigentlich” nicht unseren Zielen, Plänen und guten Vorsätzen, aber alles andere wäre erheblich anstrengender, aufwendiger oder mit spürbaren Nachteilen – wie einem knurrenden Magen oder erheblichen zusätzlichen Mühen – verbunden. Also entscheiden wir uns achselzuckend oder mit schlechtem Gewissen eben doch für das Menü des Tages oder für die Partei, die wir – mit Bauchschmerzen – auch schon beim letzten Mal gewählt haben.
Bewusste Prioritäten statt schlechtes Gewissen
Doch zumindest das dauernde unterschwellige schlechte Gewissen, das viele Menschen angesichts dieser ständigen Kompromisse haben, könnten wir uns sparen. Denn die Qualität unserer Entscheidungen verbessert es nicht, es beeinträchtigt nur unsere Lebensqualität. Statt sich mit einem schlechten Gewissen für die alltäglichen Kompromisse zu bestrafen, ist es klüger, erstens zu akzeptieren, dass Kompromisse unvermeidlich sind, um leben zu können, und zweitens wachsam darauf zu achten, dass man nicht allzu viele Kompromisse macht, die den eigenen Prioritäten völlig zuwider laufen. Wer ständig seine Gesundheit oder sein Privatleben hintanstellt, dem hilft kein schlechtes Gewissen, sondern nur eine Kurskorrektur. Wo man aber einen Kompromiss macht, sollte man sich ein schlechtes Gewissen sparen und das Beste aus der Situation machen.
Unreflektiertes Übernehmen der Rahmenbedingungen
Hinnehmen der Vorgaben
Während wir unter den faulen Kompromissen des Alltags zuweilen leiden, ist unsere Wahrnehmung an einer anderen Stelle ausgesprochen gnädig mit uns: Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Alternativen, die zur Verfügung stehen, und beschäftigt sich (meistens) nicht mit Möglichkeiten, die vielleicht attraktiver wären, aber real nicht verfügbar sind. Wir wählen aus dem, was wir vorfinden, und denken (meist) nicht über fehlende oder ausverkaufte Angebote nach. Offensichtlich hat es sich in der Evolution bewährt, pragmatisch zu sein und keine Zeit und Kraft auf irreale Alternativen zu verwenden. So zweckmäßig das vom Grundsatz her ist, es macht uns anfällig dafür, die Vorgaben, die durch die Situation gesetzt sind, unreflektiert als gegeben zu akzeptieren, ja, sie oft gar nicht mehr wahrzunehmen. Wir denken innerhalb des vorgegebenen Rahmens, nicht “outside the box”.
Zeitdruck eliminiert Hilfsbereitschaft
Ein erschreckendes Beispiel dafür berichtet Malcolm Gladwell in seinem Bestseller Tipping Point: In einem Experiment mussten Theologiestudenten einen Kurzvortrag über das Gleichnis vom guten Samariter vorbereiten, um sie sozusagen auf Hilfsbereitschaft einzuschwören; die Kontrollgruppe bekam ein neutrales biblisches Thema. Auf dem Weg zum Vortragsraum, in dem sie ihren Kurzvortrag halten sollten, trafen sie dann auf einen Mann, der anscheinend zusammengebrochen war und keuchend und stöhnend am Boden lag. Ob die Studenten dem Verunglückten halfen oder nicht, hing nicht von ihrem Vortragsthema ab, sondern allein von den Rahmenbedingungen, die durch einem beiläufigen Hinweis ihres Professors vorgegeben worden waren. Hatte er ihnen gesagt, sie sollten sich beeilen, die Zuhörer warteten schon, gingen praktisch alle an dem Notfall vorbei; einige stiegen sogar über ihn hinweg. Hatte er ihnen dagegen gesagt, es sei zwar noch Zeit, aber sie könnten sich schon mal auf den Weg machen, war die Hilfsbereitschaft deutlich größer.
Unbemerkte Beeeinflussung
Ein bisschen Zeitdruck reicht offenbar aus, um die Hilfsbereitschaft von Menschen weitgehend zu eliminieren – und zwar selbst dann, wenn sie kurz davor noch ideologisch auf Samaritertum eingeschworen wurden. Das ist erschreckend, zumal diese Verschiebung der eigenen Handlungsprioritäten vermutlich von den wenigsten Versuchsteilnehmern wahrgenommen, geschweige denn bewusst gewählt wurde: Sie nahmen die Rahmenbedingung “Zeitdruck” einfach als gegeben hin und richteten ihr Verhalten danach aus.
Unmerkliche Verschiebung von Grenzen
Das entspricht der Alltagserfahrung: Wenn sie unter Termindruck stehen, neigen Menschen dazu, höhere Risiken einzugehen, wie zum Beispiel Geschwindigkeitsbegrenzungen und Sicherheitsvorschriften liberaler auszulegen, lästige Nebenaufgaben wie zum Beispiel die Dokumentation zu vernachlässigen, weniger rücksichtsvoll und entgegenkommend zu sein etc. Eigentlich erschütternd: Wegen eines banalen Termins riskieren wir unsere eigene Gesundheit wie die von anderen Menschen, verweigern Hilfe und nehmen künftige Probleme in Kauf. Wobei das Schlimmste ist: Meistens merken wir es nicht einmal, wie sich die Grenzen verschieben und wie die Rahmenbedingungen zwar nicht unsere Überzeugungen, wohl aber unser praktisches Handeln verändern.
Die Macht der Umstände
Die Macht der Vorgaben
Eine Fülle von Beispielen für die Macht der Umstände liefern die beiden Verhaltensökonomen Richard Thaler und Cass Sunstein in ihrem Buch Nudge, das eine wahre Fundgrube für Change Manager ist. Warum zum Beispiel haben Deutsche im Durchschnitt wesentlich höhere Altersrücklagen als Amerikaner? Man braucht hier nicht über unterschiedliche Nationalcharaktere spekulieren; es genügt die nüchtere Feststellung, dass sich die Rahmenbedingungen grundlegend unterscheiden: In Deutschland wird automatisch ein fester Prozentsatz des Gehalts für die gesetzliche Rentenversicherung einbehalten; in den USA entscheidet jeder selbst, ob und wie viel er in einen Pension Fund einzahlt – und solange sie keine aktive Entscheidung treffen, legen Amerikaner, je nach betrieblicher Regelung, nichts oder nur relativ wenig für später zurück.
Wie die Rahmenbedingungen das Ergebnis beeinflussen
Wie Thaler und Sunstein zeigen, ist das Problem nicht, dass sich Amerikaner aktiv dagegen entscheiden, sich eine Alterssicherung aufzubauen, sondern dass die meisten von ihnen, vielleicht wegen der Komplexität der Materie, gar keine Entscheidung treffen – und damit die Vorgabe, den “Default Value” des jeweiligen Sozialsystems, wählen und infolgedessen kaum Altersrücklagen aufbauen. Selbst bei ihren Professorenkollegen stellten die beiden Forscher fest, dass die wenigsten einen Plan für ihre Alterssicherung hatten, geschweige denn in einen Pension Fund einzahlten. Wie wenig das mit “Nationalcharakteren” oder mit “typisch deutschem Sicherheitsbedürfnis” zu tun hat, zeigt sich etwa am Beispiel der Berufsunfähigkeitsversicherung: Kaum ein Deutscher hat sie, obwohl sie ein existenzielles Risiko abdeckt und eigentlich unverzichtbar ist.
Im Zweifel wählen wir den vorgegebenen Standardwert
Bei komplizierten Fragen neigen die meisten Menschen dazu, ihre Entscheidung entweder aufzuschieben – oft für immer – oder den “Default Value” zu wählen, also die empfohlene Vorgabe. Das gilt für Alterssicherung und Berufsunfähigkeit ebenso wie für die Installation von Software, wo die meisten Nutzer die Standardvorgaben übernehmen, oder die Organspende: Wo sie gesetzlich vorgegeben ist und nur durch eine aktive Abmeldung (“Opt-Out”) verweigert werden kann, ist die Spenderzahl um ein Vielfaches höher als in Ländern, in denen eine aktive Einwilligung (“Opt-In”) erforderlich ist.
Die Ausnahme ist die Regel
Selbst bei Dingen, die uns “eigentlich” wichtig sind, wie etwa Gesundheit, Fitness oder private Beziehungen, passen wir uns allzu oft “vorübergehend” an die gegebenen Umstände an – aber die Umstände gehen nicht vorüber: Die Rahmenbedingungen sind selten so, dass sie das, was wir auf lange Sicht anstreben, auch kurzfristig begünstigen. Zwar wollten wir schon gerne etwas für unsere Fitness tun, aber heute passt es überhaupt nicht, morgen ist auch schwierig, und übermorgen wird zuverlässig etwas anderes dazwischen kommen. Auf diese Weise schlägt allzu oft der kurzfristige kleine Nutzen den langfristigen großen Nutzen. Die Ausnahme wird zur Regel: Bei vielen Dingen gehen wir im Alltag den Weg des geringsten Widerstands, einfach weil es uns zu kompliziert, zu ungewohnt oder zu mühsam wäre, den besseren, aber auch anstrengenderen Weg zu wählen.
Große Chance für das Change Management
Entscheidender Hebel Rahmenbedingungen
Das mag man beunruhigend und vielleicht sogar beklagenswert finden, was die Gesellschaft insgesamt oder auch die eigene private Lebensführung betrifft – für das Change Management ist es eine ausgesprochen gute Nachricht. Denn das bedeutet, dass wir uns, um Veränderungen des Verhaltens zu erreichen, gar nicht an der Veränderung von Einstellungen und Überzeugungen der Mitarbeiter und Führungskräfte abarbeiten müssen. Es reicht, die Rahmenbedingungen so zu verändern, dass ein anderes Verhalten aus ihrer subjektiven Sicht sinnvoll wird, um ihre Ziele zu erreichen.
Der Irrweg der Überzeugungsarbeit
Weil das so quer zu den gängigen Überzeugungen steht, sei es noch einmal deutlich hervorgehoben. Wenn es um Verhaltensänderungen geht, gehen sämtliche Reflexe von Managern und Personalern dahin, an den Überzeugungen anzusetzen: Wir müssen die Mitarbeiter und/oder Führungskräfte davon überzeugen, dass ein anderes Verhalten sinnvoll und notwendig ist. Aber das ist aus zwei Gründen ein Irrweg: Erstens ist es sehr schwer, die Überzeugungen von Menschen zu verändern. Und zweitens: Selbst wenn es gelänge, wäre keineswegs sicher, dass sich die veränderten Überzeugungen auch tatsächlich in einer Verhaltensänderung niederschlügen. Auch wenn es vielen Change Managern gegen den Strich geht, ist es ratsam, keine übertriebenen Hoffnungen auf Bekehrungsarbeit zu setzen und sich stattdessen auf die Rahmenbedingungen des Handelns zu konzentrieren, also auf das, was Thaler und Sunstein Choice Archtecture nennen, die Gestaltung von Wahlalternativen.
Freiheitlicher Paternalismus
Manchmal, und zwar durchaus auch bei wichtigen Fragen, genügt es schon, den Default Value richtig zu setzen. Thaler und Sunstein plädieren denn auch für einen freiheitlichen Paternalismus (“libertarian paternalism”): Nach ihrer Auffassung sollte der Staat, der Arbeitgeber oder wer auch immer seinen Bürgern bzw. Mitarbeitern so viel Freiheit wie möglich lassen, aber er solle die Standardwerte so setzen, dass die Betroffenenen eine möglichst sinnvolle Entscheidung treffen, wenn sie sich an die Vorgaben halten. Denn die meisten Menschen werden genau das tun: Sie werden die “voreingestellte” (und damit implizit empfohlene) Lösung wählen. Also macht es einen himmelweiten Unterschied, ob diese Standards sinnvoll sind oder nicht. Durch klug gesetzte Standards ließe sich Altersarmut ebenso reduzieren wie beispielsweise ungesunde Kantinenernährung oder der Tod schwerkranker Menschen wegen des Mangels an Spenderorganen.
Sinnvolle Standards vorgeben
In vielen Fällen kann man auf Druck, Zwang und Kontrolle verzichten, wenn die Standards richtig gesetzt sind. Es ist kaum möglich, Mitarbeitern eine gesunde Ernährung vorzuschreiben, aber es ist zum Beispiel sehr wohl möglich, das “Menü des Tages” in der Kantine so auszulegen, dass sich alle, die es wählen, relativ gesund ernähren. Jeder Mitarbeiter ist frei, sich etwas anderes auszusuchen – da aber sehr viele doch das Tagesmenü wählen, wenn es attraktiv präsentiert und preisgünstig ist, wirkt sich diese simple, von “freiheitlichem Paternalismus” bestimmte Änderung der Rahmenbedingungen positiv auf die Leistungsfähigkeit der Belegschaft am Nachmittag und, über die Jahre kumuliert, auf deren Gesundheitszustand und Fitness aus.
Räumliche Nähe kann Schnittstellen-Probleme lösen – und schaffen
In ähnlicher Weise lassen sich schwierige Schnittstellen-Probleme zuweilen durch eine eine simple Veränderung der Rahmenbedingungen lösen – zum Beispiel dadurch, dass man die Protagonisten in einen gemeinsamen Raum setzt. Solange sie in unterschiedlichen Gebäuden oder gar Standorten angesiedelt sind, entsteht sehr leicht eine Lagerbildung: “Diese Idioten haben schon wieder …” Wenn man dagegen im gleichen Raum sitzt, ist es sehr viel schwieriger, diese Trennung in “Wir” und “Die” aufrechtzuerhalten: Man rauft sich irgendwie zusammen, weil kaum jemand dauerhaft in Unfrieden leben möchte mit denen, mit denen er das Büro teilt. Und siehe da, die schwierige Schnittstelle funktioniert plötzlich. Umgekehrt kann man auch – wie früher in der Schule – Personen oder Gruppen auseinandersetzen, die zu eng verbandelt sind und eine gemeinsame Front gegen andere Einheiten bilden. Bei Fusionen und Übernahmen beispielsweise ist es sinnvoll, darauf zu achten, dass sich nicht durch räumliche Nähe Inseln der alten Kultur(en) bilden, die sich gegenüber ihrer Umgebung abgrenzen.
Fallbeispiel “RoKa”: Von der Dependance zur Lagerbildung
Harmloser Beginn aus Sachzwängen
Eines der verblüffendsten Beispiele für die Macht der Umstände habe ich vor Jahren erlebt, als ich noch bei der Boston Consulting Group war. Wegen des starken Wachstums der Firma platzte das damalige Münchener Büro aus allen Nähten; schließlich musste eine Dependance angemietet werden, die, nur ein paar U-Bahn-Stationen entfernt, am Rosenkavalierplatz lag. Um zu verhindern, dass dort nur neue Mitarbeiter angesiedelt sein würden, richtete das Management einen Appell an alle, es mögen auch einige Ältere in die Dependance ziehen. Dem kamen auch ohne langes Zögern Etliche nach, teils weil es ihren Weg in die Arbeit verkürzte, teils weil sie Lust auf einen Tapetenwechsel hatten.
Beginnendes Eigenleben
Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich am “RoKa” eine eigene Subkultur, die begann, sich zunächst eher scherzhaft von dem Hauptbüro abzugrenzen: Man trug im Büro keine Krawatten, ging (in Ermangelung einer Kantine) mittags auf die “Piazza” (was eine sehr wohlwollende Beschreibung eine Neubau-Fußgängerzone war) und betonte auch ansonsten einen “relaxten” Lebens- und Arbeitsstil. Was als scherzhafte Kabbelei begonnen hatte, bekam bald eine Eigendynamik. Die beiderseitigen Abgrenzungen wurden ernster, und manche begannen, über “die anderen” zu sprechen, als ob das eine andere Firma wäre und keineswegs bloß ein aus Platzgründen ausgelagerter Teil der langjährigen eigenen Kollegen.
Durch die Umstände erzwungene Wiedervereinigung
Das Management war heilfroh, als es nach einiger Zeit möglich wurde, das zweigeteilte Münchener Büro an einem neuen gemeinsamen Standort “wiederzuvereinigen” – und wurde prompt von der RoKa-Mannschaft mit dem Ansinnen konfrontiert, dort eine gemeinsame Etage zu beziehen. Was das Management klugerweise ablehnte. Ihres gemeinsamen “Lagerplatzes” beraubt, löste sich die RoKa-Subkultur erstaunlich schnell auf und integrierte sich zur allgemeinen Erleichterung reibungslos in das Gesamtteam: Die “Macht der Umstände” hatte ein zweites Mal zugeschlagen.
Andere Rahmenbedingungen – anderes Verhalten
Aufmerksamkeit auf die Rahmenbedingungen
Wo immer Verhaltensänderungen erreicht werden sollen, lohnt es sich, mindestens zweimal über die Rahmenbedingungen nachzudenken: Zum einen mit Blick darauf, wie durch eine Veränderung der Rahmenbedingungen ein anderes Verhalten erreicht (oder zumindest nahegelegt) werden kann, zum anderen aber auch mit Blick darauf, ob das heutige Verhalten möglicherweise durch die “Macht der Umstände” bedingt oder doch zumindest begünstigt wird. Auch hier gilt der Grundgedanke der Kulturanalyse: Die Mitarbeiter aller Ebenen verhalten sich aus ihrer subjektiven Sicht völlig sinnvoll, um ihre Ziele zu erreichen. Also ist es wichtig herauszufinden, aus welchen Gründen ihr heutiges Verhalten subjektiv sinnvoll ist und welche Rolle die Rahmenbedingungen dabei spielen.
Der Schlüssel zum Verstehen und Verändern
Um eine Verhaltensänderung zu erreichen, lohnt es sich immer, größte Aufmerksamkeit auf die Frage zu richten: Was müsste sich ändern, damit das erwünschte Verhalten aus der subjektiven Sicht der Adressaten sinnvoll wird? Und wer ein scheinbar unverständliches Verhalten verstehen möchte, für den lohnt es sich zu fragen: Welche Rahmenbedingungen machen es für den oder die Betreffenden sinnvoll, sich zur Erreichung ihrer Ziele genau so zu verhalten? Dazu muss man sich in die betreffenden Personen eindenken und einfühlen. Oftmals ist ein besseres Verständnis der Rahmenbedingungen sowohl der Schlüssel dazu, das heutige Verhalten zu verstehen, als auch dazu, es dauerhaft zu verändern. Denn wenn sie Sicht der Betroffenen zur Erreichung ihrer Ziele ein anderes Verhalten sinnvoll wird, dann dauert es nicht lange, bis sie sich genau so verhalten.
Schnelle Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen
Das erfordert ein grundlegendes Umdenken: Wenn es um Verhaltensänderung geht, denken wir beinahe reflektorisch darüber nach, wie wir die Adressaten dazu bekehren könnten, sich anders zu verhalten. Aber das ist oft nicht der effektivste Weg. Wenn es beispielsweise um den morgendlichen Weg in die Arbeit geht, haben die meisten Menschen eine feststehende Routine: Eine optimierte Route, an der sie oft seit Jahren festhalten. Wie könnte uns jemand dazu bewegen, eine andere Strecke zu wählen oder gar auf ein anderes Verkehrsmittel umzusteigen? Wirksamer und schneller als noch so intensive Überzeugungsarbeit wäre vermutlich eine simple Baustelle. Wenn ihr normaler Weg blockiert ist, beharren die allerwenigsten Menschen starrsinnig darauf, trotzdem weiter die alte Strecke zu fahren; die meisten fügen sich erstaunlich schnell in die Tatsachen und suchen sich einen anderen Weg. Und wenn sie dabei herausfinden, dass alternative Routen entweder zu umständlich oder ständig überfüllt sind, probieren sie andere Verkehrsmittel aus – und wenn eines davon besser funktioniert, bleiben sie dabei.
Die unter den gegebenen Umständen beste Möglichkeit, das Ziel zu erreichen
Was passiert hier eigentlich? Und warum geht die Verhaltensänderung hier so schnell, ohne dass Einstellungen und Überzeugungen verändert wurden? Ganz einfach: Menschen haben bestimmte Ziele, die sie erreichen wollen – zum Beispiel morgens ihren Arbeitsplatz. Und zwar wollen sie ihn möglichst effizient und stressfrei erreichen: Auf diese und ähnliche Ziele hin haben sie ihre morgendliche Anfahrt optimiert. Wenn sich nun herausstellt, dass die bisherige Route blockiert ist, ist das erst einmal eine Frustration und kann, je nach Temperament, Knurren, Jammern oder herzhafte Flüche auslösen. Trotzdem geben sie so leicht ihr Ziel nicht auf: Sie wechseln weder den Arbeitgeber noch ihren Wohnort; stattdessen suchen sich einfach einen anderen Weg, wie sie von A nach B kommen. Und zwar auf der Stelle: Buchstäblich im gleichen Augenblick, wo sie Unabänderlichkeit der Streckensperrung verstanden haben, beginnen sie mit der Anpassung an die veränderten Rahmenbedingungen. Abgeschlossen ist die Verhaltensänderung, wenn sich eine neue Routine herausgebildet und eingependelt hat.
Die Rolle von Einstellungen und Überzeugungen
Die Frage der “Nachhaltigkeit”
Eine andere Frage ist natürlich, wie “nachhaltig” die Verhaltensänderung ist, ob sie also von Dauer ist oder ob die Adressaten in die ursprünglichen Routinen zurückfallen, sobald die Baustelle aufgehoben wurde. Ist es für eine dauerhafte Verhaltensänderung also doch notwendig, die Einstellungen und Überzeugungen zu verändern? Langsam: Bei realistischer Betrachtung ist die “nachhaltige” Erfolgsbilanz von Überzeugungsarbeit auch nicht besser als die von Baustellen oder anderen veränderten Rahmenbedingungen: Wie viele gute Vorsätze werden nach den ersten heldenhaften Versuchen wieder aufgegeben – und zwar nicht, weil sich die Einstellungen und Überzeugungen geändert hätten, sondern weil es zu anstrengend oder auch nur zu ungewohnt war, die guten Vorsätze durchzuhalten? Oder weil die “Rahmenbedingungen” einen starken – und in aller Regel völlig unterschätzten – Sog in Richtung des bisherigen Verhaltens ausüben?
Der Weg des geringsten Widerstands
Trotzdem bricht nicht jede Verhaltensänderung sofort zusammen, wenn die Gründe entfallen, die sie ausgelöst haben. Möglicherweise bleiben wir auch nach Fertigstellung der Baustelle bei dem neuen Weg in die Arbeit – sei es, weil wir von der Aufhebung der Sperrung gar nicht erfahren, sei es, weil die neue Route ihre Vorteile hat und wir uns inzwischen an sie gewöhnt haben. Aber genauso gut ist es möglich, dass wir zur ursprünglichen Route zurückkehren, sobald wir die Sperrung nicht mehr besteht. Das ist am Ende ganz simpel und pragmatisch eine Frage davon, wie es am einfachsten ist, unsere Ziele zu erreichen. Oft ist es daher notwendig oder zumindest nützlich, die veränderten Rahmenbedingungen aufrecht zu erhalten, um die Dauerhaftigkeit einer Verhaltensänderung sicherzustellen.
Hochrisiko Sicherheitsverhalten
Ein klassisches – und ziemlich brisantes – Beispiel ist das Thema Sicherheit beim Umgang mit Risikotechnologien. Gleich ob es um Hochspannung, Chemie oder Atomkraft geht, in der Praxis ist das tatsächliche Verhalten auch hier ein Kompromiss zwischen dem, was vorgeschrieben ist und “eigentlich” notwendig wäre, und dem, was gestandene Praktiker aufgrund ihrer Erfahrung für erforderlich halten – oder wofür ihnen in der Hektik des Alltags die Zeit bleibt. Während Anfänger die Sicherheitsvorschriften noch so streng nehmen wie sie ihnen vermittelt worden sind, neigen erfahrene Praktiker dazu, sie “liberal auszulegen”, weil sie glauben, ihre Anlage zu kennen und zu beherrschen – ein Phänomen, das man in der Psychologie Kontrollillusion nennt. Und die Erfahrung scheint ihnen Recht zu geben: Obwohl sie, wie sie verharmlosend sagen, die Vorschriften nicht immer ganz wörtlich nehmen, “ist noch nie etwas passiert”. Bis es dann passiert.
Mühsamer Kampf gegen die Kontrollillusion
Psychologisch ist diese Denkweise nicht nur verständlich, sondern geradezu unvermeidlich: Wer hunderte Male die Erfahrung macht, dass trotz seiner Missachtung der Regeln nichts schief gegangen ist, der muss fast unausweichlich zu dem Schluss kommen, dass die Vorschriften entweder generell zu streng und offenbar von übervorsichtigen Bürokraten gemacht sind oder aber, dass sie zwar richtig und notwendig und prinzipiell einzuhalten sind, aber nur von “normalen Menschen”, nicht von so extrem erfahrenen Profis wie ihm selbst und seinen Kollegen.
Kontrolle wirksamer als Schulung
Auch regelmäßige Seminare und Schulungen sind nur ein unvollkommenes Mittel gegen die Kontrollillusion, weil sie – allzu oft vergeblich – an den Überzeugungen ansetzen. Deutlich wirksamer ist, wenn die Einhaltung der Vorschriften regelmäßig überprüft wird, und zwar in der Realität, nicht bloß durch gelegentliches Abhaken, ob in der vorgeschriebenen Dokumentation die Kreuzchen an den richtigen Stellen stehen. Am wirksamsten aber ist, wenn die Prozesse so gestaltet werden, dass die Einhaltung der Vorschriften zur einfachsten Möglichkeit zur Zielerreichung wird. Das kann beispielsweise durch Pflichtangaben in Bildschirmmasken erreicht werden oder, indem bestimmte Vorrichtungen sich nur bedienen lassen, wenn davor die vorgeschriebenen Schritte gemacht wurden.
Einstellungen als Katalysator zur Akzeptanz
“Eigentlich …”
Generell sollte man die Bedeutung der Einstellungen und Überzeugungen für das praktische Handeln nicht überschätzen. Auf unseren Straßen fahren ja nicht nur diejenigen zu schnell, die Geschwindigkeitsbeschränkungen prinzipiell als Eingriff in ihre persönliche Freiheit ablehnen, sondern auch viele von denen, die sich der Gefahren überhöhter Geschwindigkeit “eigentlich” bewusst sind und Geschwindigkeitsbeschränkungen im Grunde als sinnvoll ansehen. Das Wörtchen “eigentlich” ist da ein interessanter Indikator: Es weist sehr häufig darauf hin, dass es eine Diskrepanz zwischen unserem realen Verhalten und unseren “eigentlichen” Werten und Überzeugungen gibt.
Schlüsselrolle der Nachvollziehbarkeit
Doch das heißt keineswegs, dass Einstellungen und Überzeugungen völlig unerheblich sind und keine weitere Beachtung verdienen. Gerade an Geschwindigkeitsbeschränkungen lässt sich das gut deutlich machen. Für deren Akzeptanz ist es ein himmelweiter Unterschied, ob sie in dem konkreten Bereich, wo sie gelten, prinzipiell nachvollziehbar sind, weil dort beispielsweise eine Schule oder eine gefährliche Kreuzung ist, oder ob sie nicht nachvollziehbar sind und damit willkürlich wirken. Zwar können sich “geblitzte” Autofahrer auch im zweiten Fall ihren Bußgeldern nicht entziehen, aber Ärger und Wut sind in diesem Fall ungleich höher. Und, was noch wichtiger ist: Auch die Häufigkeit und das Ausmaß an Regelverstößen ist in diesem Fall höher.
Machtmissbrauch erzeugt Empörung, Wut und offene Rechnungen
Zwar werden die Betroffenen auch bei einer nachvollziehbaren Beschränkung knurren, wenn sie zu schnell erwischt wurden, doch viel Energie steckt in diesem Grummeln nicht: Man ist halt missgelaunt, aber kaum dazu motiviert, gegen das fällige Bußgeld zu kämpfen. Anders bei einer willkürlich erscheinenden Kontrolle: Da toben viele vor Empörung und ohnmächtiger Wut. Und selbst wenn sie sich auch in diesem Fall ihrem Bußgeld nicht entziehen können, untergräbt die empfundene Willkür doch die Loyalität zum Staat und hinterlässt Hass und Feindschaft auf “die Abzocker und Raubritter”. Selbst wer ziemlich viel Macht hat, sollte daher vermeiden, sich dem Verdacht der willkürlichen Machtausübung auszusetzen: Damit würde er die Betroffenen gegen sich aufbringen und vielleicht sogar den Wunsch nach Rache und Vergeltung wecken.
Nicht Auslöser, aber Katalysator
Noch mehr gilt die Notwendigkeit, die veränderten Rahmenbedingungen nachvollziehbar zu machen, wenn man sie nicht brachial durchsetzen kann oder will. Gerade wenn Veränderungen stark in den Handlungsspielraum der Adressaten eingreifen, hängt ihre Akzeptanz – und damit das Ausmaß des entstehenden Widerstands – stark davon ab, ob sie nachvollziehbar sind oder willkürlich erscheinen – wohlgemerkt, nicht aus Sicht des Managements, sondern aus Sicht der Betroffenen. Auch wenn Einstellungen und Überzeugungen in aller Regel nicht ausreichen, um Verhalten zu verändern, spielen sie doch eine wichtige Rolle als Katalysator der Veränderung: Sie bewirken keine Veränderung, aber sie spielen eine Schlüsselrolle für deren Akzeptanz.
Neuer Blick auf Überzeugungsarbeit
Auch wenn man die “Macht der Rahmenbedingungen” erkannt hat, wird Überzeugungsarbeit daher nicht überflüssig, aber sie bekommt eine andere Rolle: Sie wird dann nicht mehr befrachtet mit der missionarischen Hoffnung, dass eine Bekehrung ganz von alleine eine Umkehr auslösen werde, sondern wird zur nüchternen Erläuterung – und damit zum Instrument, um die Akzeptanz zu fördern und keine unnötigen Widerstände auszulösen.
Exkurs: Veränderung der Rahmenbedingungen als Instrument gesellschaftlicher Veränderungen
Gesellschaftliche Veränderungsziele
Auch für angestrebte gesellschaftliche Veränderungen kann die sinnvolle Gestaltung der Rahmenbedingungen eine Schlüsselrolle übernehmen. Einmal angenommen beispielsweise, die Politik hätte das Ziel, den Verbrauch fossiler Brennstoffe stark zu verringern, um möglichst viel von dem rasch knapper werdenden Öl und Gas für wichtigere Zwecke aufzusparen als zur Verbrennung: Was könnte und sollte sie dann tun? Sie könnte natürlich einen umfangreichen Katalog von Vorschriften und Verboten erlassen, und sie könnte weiterhin erneuerbare Energien mit Subventionen fördern. Vermutlich würde dies auch einiges bewirken; es ist aber äußerst unwahrscheinlich, dass auf diese Weise die effizienteste und wirksamste Form des Umsteuerns gefunden würde. Vielmehr würden sich ganze Industrien einerseits auf die Suche nach Schlupflöchern in den Vorschriften machen, andererseits nach Strategien, möglichst viele Subventionen abzukassieren.
Der simpelste Weg: Gezielte Verteuerung / Besteuerung
Stattdessen könnte sich die Politik fragen: Wie müssten die Rahmenbedingungen sein, damit es sowohl für Energieverbraucher als auch für Energieerzeuger aus der eigenen Interessenlage heraus sinnvoll wird, möglichst wenig fossile Brennstoffe zu verbrauchen? Im Grunde gibt es ja nur zwei Wege, um dieses Ziel zu erreichen (die sich vom Prinzip her beliebig kombinieren lassen): Erstens, insgesamt weniger Energie zu verbrauchen, zweitens, die Energie, die man verbraucht, zu einem möglichst hohen Prozentsatz aus erneuerbaren Quellen zu erzeugen. Es liegt auf der Hand, dass beides aus subjektiver Sicht umso sinnvoller wäre, je teurer fossile Brennstoffe wären. Was sich durch eine gezielte Besteuerung leicht erreichen ließe.
Direkte und indirekte Folgen verstehen
Nun ist die Erhöhung von Steuern sicherlich noch nicht die höchste Kunst des politischen Change Managements. Doch schon sie würde die Rahmenbedingungen so verändern, dass ein anderes Verhalten bei der Erzeugung und Nutzung von Energie subjektiv sinnvoll würde. Allerdings mit allerlei Risiken und Nebenwirkungen: So würde die Verteuerung fossiler Energie die Nachfrage nach erneuerbarer Energie verstärken und damit auch deren Preise nach oben ziehen. Dieser Effekt könnte sogar erwünscht sein, weil er den Anreiz zum Energiesparen verstärkt – und weil Subventionen für erneuerbare Energiequellen dann nicht mehr erforderlich wären. Allerdings würden mit der Energie auch viele Produkte teurer werden, weil sowohl in ihrer Herstellung als auch in ihrem Transport indirekt erhebliche Energiekosten enthalten sind. Unter anderem hätte das auch zur Folge, dass Produkte, die aus der näheren Umgebung kommen, günstiger würden als solche, die von weither herangeschafft werden – was der Globalisierung entgegenwirken und eine Re-Regionalisierung fördern würde.
Unerwünschte “Nebeneffekte”
Allerdings würde die Verteuerung der Energie für energieintensive Branchen den Anreiz verstärken, in Länder mit billigerer Energie abzuwandern – jedenfalls wenn nicht alle Länder bei der Umsteuerung mitziehen. Dann würde das ganze Programm nur zu einer Verlagerung des Energieverbrauchs in andere Länder oder Weltregionen führen; sein eigentlicher Zweck würde verfehlt. Weiterhin hätte die Verteuerung der Energie zur Fogle, dass sich viele Menschen manche Dinge nicht mehr leisten können. Das würde nicht nur zu einem Verlust an – materiellem – Wohlstand führen, sondern auch zu einem Einbruch der Nachfrage, also zu einer Rezession. Dem könnte man freilich entgegenwirken, indem man die zusätzlichen Steuereinnahmen für eine Steuerreform nutzt, welche nicht nur Energie verteuert, sondern zugleich die menschliche Arbeit entlastet. Das würde die Preisrelationen zwischen Waren und Dienstleistungen verschieben: Kinder-, Kranken- und Altenpflege würden dann preisgünstiger, Produkte würden teurer, vor allem solche, deren Bereitstellung viel Energie kostet.
Destruktive Folgen starker Preisschwankungen
Doch Steuern sind nur eine Möglichkeit, die Rahmenbedingungen für Erzeuger und Verbraucher zu verändern, und oft nicht die Wichtigste. Mindestens ebenso wichtig ist, was man in Wirtschaft und Verwaltung “Planungssicherheit” nennt. Wie man gerade bei den erneuerbaren Energien beobachten kann, ist schlimmer als steigende Preise unberechenbare Preise. Denn die Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen erfordert Investitionen, und die werden nur gemacht, wenn man die künftige Entwicklung einigermaßen verlässlich vorhersehen kann. Unglücklicherweise führt aber schon die Marktdynamik zu zunehmenden Schwankungen der Energiepreise: Hohe Ölpreise machen Investitionen ins Energiesparen sowie in alternative Energien sinnvoll, würgen aber die Konjunktur ab. Ein Konjunktureinbruch sorgt für fallende Ölpreise, was viele energiebezogene Investitionen zu Fehlinvestitionen macht, aber die Voraussetzugen für ein erneutes Anspringen der Konjunktur schafft. So entsteht ein konjunktureller Sägezahneffekt, der sowohl für die Wirtschaft tödlich ist als auch für den Umbau der Energielandschaft.
Für Planungs-sicherheit sorgen
Hier könnte die Politik die Rahmenbedingungen zum Vorteil aller Beteiligten verändern, indem sie für eine Verstetigung der Energiepreise sorgt: Durch eine variable Besteuerung, die sie in einem definierten Zielkorridor hält, würden die Energiepreise dann sanft, aber kontinuierlich und berechenbar steigen. Investoren wie Verbraucher hätten dann Planungssicherheit: Sie wüssten, was auf sie zukommt, und könnten ihre Entscheidungen daran ausrichten. Das Ziel eines Umbaus der Energieversorgung käme so mit Sicherheit schneller voran als wenn man sich entweder allein auf das freie Spiel der Kräfte verließe oder den Umbau durch dirigistische Eingriffe zu steuern versuchte.
Literatur:
Gladwell, Malcolm (2000): Der Tipping Point
Thaler, Richard S.; Sunstein, Cass R. (2008): Nudge
Heinberg, Richard (2011): The End of Growth
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Über den Autor
Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung.