HomeMethoden & WissenVeränderungsstrategieEigeninteressen: Die Tabuisierung und ihr Preis
Wenn Mitarbeiter und Führungskräfte einerseits das Gefühl haben, es sei nicht ratsam, sich offen zu ihren Eigeninteressen zu bekennen, sie diese Interessen aber auch nicht einfach aufgeben wollen, kommt es zunächst zu verdeckten Verhandlungen

Verdecktes Vorgehen

Ursachen im System

Manche Menschen tun sich prinzipiell schwer, sich offen zu ihren Wünschen und Interessen zu bekennen. Sie bevorzugen es, den Mitmenschen ihre Vorstellungen irgendwie “unterzujubeln”. Das führt dann zu den in der Firma wie auch im Familienkreis zu den so beliebten Ratespielen: “Was will er/sie denn jetzt wirklich?” Doch taugt die individuelle Persönlichkeit als Erklärung nur dort, wo sich Einzelne so verhalten – wenn indes ein Großteil der Mitarbeiter und vor allem Führungskräfte mit ihren Eigeninteressen hinter dem Berg hält, ist unwahrscheinlich, dass dies an einer rein zufälligen Häufung bestimmter Charaktere handelt. Vielmehr liegt der Grund dann in aller Regel darin, dass das Artikulieren von Eigeninteressen in diesem Unternehmen “tabu” ist. Je ausgeprägter die Tabuiserung, desto häufiger kommt es zu verdeckten Verhandlungen. Denn Eigeninteressen verschwinden ja nicht dadurch, dass man ihre offene Artikulation “verbietet”.

Besser offen als unter dem Tisch

Ausgeprägter “Corpsgeist”

Eine besonders ausgeprägte Tabuisierung von Eigeninteressen findet man häufig in Organisationen an, die einen sehr ausgeprägten “Corpsgeist” pflegen, sprich, in denen der Erfolg des Unternehmens, die Einhaltung des “Comment” und/oder die Verwirklichung der gemeinsamen Werte und Ziele als sehr hohes Gut angesehen werden. Das gibt es nicht nur in Wirtschaftsunternehmen, sondern sehr ausgeprägt auch in sozialen und politischen Organisationen, etwa in Krankenhäusern, Hilfsorganisationen, Religionsgemeinschaften und Parteien. Der Hinweis, dass eine bestimmte Maßnahme zum Wohle des “übergeordneten Ganzen” unerlässlich (bzw. dafür schädlich) wäre, erlaubt dann fast jede Vergewaltigung sowohl der Tatsachen als auch der Interessen der Beteiligten – und ist umgekehrt ein wirksames Mittel zur Durchsetzung verdeckter eigener Interessen.

“Faschistoide Systeme”

Der Philosoph, Jesuitenpater und Managementtrainer Prof. Dr. Rupert Lay bezeichnet solche Systeme als faschistoid, wobei er definiert: “Ein System ist genau dann faschistisch, wenn es sich selbst zum höchsten zu erhaltenden Gut erklärt.” (Etwa: “Du bist nichts – dein Volk ist alles!”) Problematisch werden solche Tendenzen spätestens dann, wenn in der Diskussion über bevorstehende Veränderungen über Eigeninteressen nur noch in Bezug auf Abwesende gesprochen wird – oder in willfähriger Unterordnung unter das Gesamtinteresse: “Wenn es im Interesse des Unternehmens ist, bin ich selbstverständlich bereit, meine Position abzugeben!”

Prinzipielle Legitimität

Auch wenn sie den Plänen des Managements durchaus in die Quere kommen können, muss festgehalten werden: Eigeninteressen sind nichts Unanständiges. Jeder Mensch, jeder Mitarbeiter und jede Führungskraft hat persönliche Bedürfnisse, Vorlieben und Interessen, die sich auf die unterschiedlichsten Themen und Gebiete beziehen können, von der bevorzugten Raumtemperatur über das Ausmaß sozialer Kontakte bis zu den bevorzugten Arbeitsinhalten. Das ist prinzipiell legitim, jedenfalls solange es nicht mit den berechtigten Interessen anderer Beteiligter oder des Unternehmens in Konflikt kommt. Und es macht allen Beteiligten das Leben leichter, wenn es erlaubt ist, damit offen umzugehen. Deshalb sollte es in einem gesunden Unternehmen möglich sein zu sagen: “Ich will diesen Job behalten, denn ich mache ihn gerne, und ich mache ihn gut, deshalb möchte ich ihn auch weiter machen!”

Abwägung zwischen Einzel- und Gesamtinteresse

Faire Abwägung

Daraus folgt allerdings nicht, dass diese Eigeninteressen Vorrang vor allem anderen haben, dass also beispielsweise im obigen Fall das Unternehmen den Wünschen des Einzelnen in jedem Fall entsprechen müsste. Wenn ein Konflikt besteht, ist es Aufgabe der Vorgesetzten, eine Abwägung von Einzel- und Gesamtinteressen vorzunehmen. Das Gesamtinteresse wird dabei in aller Regel Vorrang haben; die Interessen des Einzelnen sollten dabei aber nicht beiseite gewischt, sondern, so gut es eben geht, berücksichtigt werden – schon deshalb, weil man nicht riskieren möchte, einen guten und motivierten Mitarbeiter zu verlieren.

Vorrang des Gesamtinteresses

Wo es möglich ist, kann es sinnvoll sein, die betroffenen Einzelnen in diese Abwägung einzubeziehen. Unter Umständen findet sich dabei eine für alle Beteiligten annehmbare Lösung. Wenn nicht, kann und darf die Entscheidung aber auch gegen die Interessen des oder der Einzelnen fallen, auch ohne deren Einverständnis und gegebenenfalls gegen deren Protest. Denn sonst wäre ein Unternehmen weitgehend handlungsunfähig und damit auch nicht mehr in der Lage, sich an Veränderungen von Markt und Wettbewerb anzupassen. Denn Veränderungen, die die ungeteilte Zustimmung aller Beteiligten finden und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit steigern, sind ausgesprochen selten.

Ausgleich der Interessen

Dafür, dass trotz dieses Vorrangs des Gesamtinteresses die Interessen der Einzelnen im Konfliktfall nicht völlig unter den Tisch fallen, sozusagen “wertschätzend ignoriert” werden, sorgen mindestens zwei Gründe: Zum einen der Betriebsrat, dessen gesetzlicher Auftrag genau darin besteht, im Rahmen der Mitbestimmung für einen fairen Interessenausgleich zwischen Unternehmensinteressen und den Interessen der Beschäftigten zu sorgen, zum anderen die schlichte Tatsache, dass Mitarbeiter ja nicht jede Veränderung klaglos schlucken müssen, die das Unternehmen ihnen auferlegt: Je höher ihr Marktwert ist, desto leichter können Mitarbeiter beschließen, ihr Glück anderswo zu versuchen. Was wiederum in aller Regel nicht im Eigeninteresse des Unternehmens wäre, sodass es klug beraten ist, auch deren Interessen, so gut es geht, zu berücksichtigen.

Keine Extrawürste

Was das Management hingegen nicht hinnehmen kann, ist unprofessionelles Verhalten, sprich, dass einzelne Mitarbeiter oder Führungskräfte ihre Eigeninteressen über das Gesamtinteresse stellt und versuchen, ihre eigenen Vorstellungen mit List und Tücke und ohne Rücksicht auf die Folgen für das Gesamtsystem durchzudrücken. Die klassischen Kandidaten dafür sind die “erfolgreichen Regelignoranten”, doch zuweilen versuchen dies auch andere Personen, zum Teil in völliger Fehleinschätzung ihrer Unersetzlichkeit. Hier sind Wachsamkeit und Unnachgiebigkeit gefragt, denn wenn die Geschäftsleitung hier einigen eine “Extrawurst” durchgehen lässt, kommt sie in Argumentationsnot, wenn andere “gleiches Recht für alle” fordern. Um einen Dammbruch zu verhindern und die eigene Glaubwürdigkeit zu wahren, ist es daher wichtig, solchen Versuchen von Anfang an mit Nachdruck entgegenzutreten.

Verwandte Themen: Verdeckte Verhandlungen Macht Konflikte Widerstände Machtkämpfe Erfolgreiche Regelignoranten Professionalität

Kostenfreies Erstgespräch 

Vereinbaren Sie hier ein kostenfreies Erstgespräch!

Über den Autor

Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung. 

Sprechen wir!

Wir haben mehr als 21 Jahre Erfahrung und beraten Sie gern!

Buchen Sie unsere kostenfreie Erstberatung. Wir melden uns bei Ihnen.

    Es gelten unsere Datenschutzbestimmungen

    Themen in diesem Artikel