Inhaltsverzeichnis:
Lähmung durch interne Konflikte
Weder Spaß noch Resultate
Wörtlich erklärte der neue Vorsitzende in unserem ersten Gespräch: “Ich verbringe zu viel Zeit meines Lebens in der Arbeit, um auf die Dauer damit leben zu können, dass Lebensqualität erst nach Feierabend beginnt!” Infolge des Misstrauens und der allseitigen Abwehrhaltung war auch die Produktivität und Entscheidungsfähigkeit des Gremiums beklagenswert: “Es macht keinen Spaß, und es kommt nichts heraus. Von Teamgeist keine Spur”, meinte er. Die meisten Entscheidungen treffe er am Ende selbst, damit überhaupt etwas entschieden würde und das Management nicht zum Flaschenhals für das ganze Unternehmen werde. Doch wisse er im Grunde nie, ob seine Kollegen mit diesen Entscheidungen einverstanden waren und sie mittrügen oder ob sie sie für kompletten Schwachsinn hielten – oder ob sie sie achselzuckend hinnahmen.
Ermutigende Vorgespräche
Genügend Leidensdruck
Offenkundig empfand zumindest der Vorsitzende genügend Leidensdruck, um an einer grundlegenden Veränderung interessiert zu sein. Das war ein gutes Zeichen, aber noch lange keine Erfolgsgarantie: Entscheidend für einen Wandel ist nicht allein, wie stark der Wunsch nach einer Veränderung ist, sondern auch und vor allem, ob der oder die Beteiligten bereit sind, den “Preis der Veränderung” zu bezahlen, der zum Beispiel darin bestehen kann, dass sie auch an ihren eigenen Gewohnheiten Änderungen vornehmen (und durchhalten!) müssen. Die Frage, wie es denn um diese Bereitschaft stünde, überraschte den Geschäftsführer zunächst, aber nach kurzem Nachdenken meinte er, er könne in der Tat nicht ausschließen, dass auch sein eigenes Verhalten zum gegenwärtigen Zustand beitrüge – auch wenn er sich nicht bewusst sei, wie und wodurch. Wenn sich herausstellen sollte, dass auch er sich ändern müsse, sei er in jedem Fall bereit, ernsthaft darüber nachzudenken – auch wenn er nicht pauschal zusagen könne und wolle, jede von ihm gewünschte Veränderung vorzunehmen.
Veränderungs-bereitschaft
Auf den ersten Blick klingt dies nach einer sperrangelweit offen stehenden Hintertür. Doch bei genauerer Betrachtung ist solch eine Aussage ehrlicher und realistischer als eine eilfertige Blankounterschrift unter noch unbekannte Forderungen. Dass er nicht zusagen wollte, den Preis einer Veränderung in jedem Fall zu bezahlen, solange er nicht näher beziffert war, war letztlich ein Zeichen von Seriösität. Umso mehr, als er glaubhaft seine Bereitschaft erklärt hatte, dies, wenn es konkret wird, ernsthaft zu prüfen. Solch eine Aussage ist nach unserer Erfahrung mehr wert als voreilige Gelöbnisse.
Klima im Mangement-Team
Doch auch wenn er erstens der Chef und zweitens guten Willens war: Ein einzelner Mensch hat es nicht in der Hand, das Klima einer Gruppe dauerhaft zum Positiven zu verändern; dies setzt eine gewisse Bereitschaft auch bei den anderen Gruppenmitgliedern voraus. Wir schlugen daher vor, vor dem ins Auge gefassten Workshop zunächst Einzelgespräche mit den anderen Mitgliedern der Geschäftsführung zu führen, um zu eruieren, wie sie die Situation sahen, ob sie ebenfalls an einer Veränderung interessiert waren und falls ja, unter welchen Voraussetzungen.
Übereinstimmende Sichtweisen
Die Gespräche ver/liefen nach anfänglicher Reserviertheit sehr offen, und sie erbrachten weitgehende Übereinstimmung in drei zentralen Punkten: (1) Sämtliche Mitglieder des sogenannten “Management-Teams” empfanden die derzeitige Atmosphäre in diesem Gremium als extrem belastend und kontraproduktiv. (2) Alle träumten im Stillen von einem wirklichen Management-Team, in dem man offen miteinander reden, kritische Themen ohne Rücksicht auf allseitige Überempfindlichkeiten diskutieren und sich der gegenseitigen Unterstützung und Solidarität sicher sein konnte. (3) Es gab offenbar keine gravierenden persönlichen Verletzungen zwischen den verbliebenen und/oder neu hinzugekommenen Mitgliedern des Gremiums; die beiden größten Urheber von Verletzungen hatten das Gremium im Zuge des Revirements verlassen.
Von der Betroffenheit zu Konsequenzen
Berührung
Als ich diese Ergebnisse zu Beginn des vereinbarten Workshops präsentierte, herrschte Betroffenheit und spürbare emotionale Berührung. Einen langen Augenblick lang war Stille; dann murmelte einer der Teilnehmer leise: “Was sind wir bloß für Idioten!” Und löste damit ein befreiendes Gelächter aus.
Das Eisen schmieden
Das war der Moment, Nägel mit Köpfen zu machen. In solch einer Stimmung sind die Herzen ein bisschen offener als sonst, und die Beteiligten sind bereit, einen Sprung über den eigenen Schatten zu wagen. Doch diese Aufbruchsstimmung verblasst nach einer Weile, und wenn man sie nicht sofort für konkrete Schritte nutzt, bleibt von ihr nicht viel mehr übrig als die wehmütige Erinnerung an eine versäumte Chance.
Den Soll-Zustand konkretisieren
Also wandten wir uns zunächst der Beschreibung des Ziel-Zustands zu: Angenommen, das Management-Team würde tatsächlich der Durchbruch zu einem von Grund auf verbesserten Klima schaffen, wie sollten seine Mitglieder dann in einem Jahr den erreichten Zustand beschreiben? Was sollten sie auf keinen Fall mehr über die Atmosphäre, den gegenseitigen Umgang und die Ergebnisse der Sitzungen sagen? Und was sollten die nachgeordneten Mitarbeiter künftig über dieses Gremium sagen bzw. nicht (mehr) sagen? Innerhalb einer knappen Stunde entstand eine lange Liste, die zwar keine wirklichen Sensationen enthielt, aber bekräftigte, dass die Geschäftsführer weitestgehende Übereinstimmung über den angestrebten Soll-Zustand hatten. Das tat gut, aber angesichts des entstandenen Idealbilds rührte sich auch Skepsis: “Das wäre ja das Paradies”, meinte einer. “Ich wäre schon zufrieden, wenn wir nur einen kleinen Schritt in diese Richtung machen würden!”
Beobachtbare, nachprüfbare Spielregeln
Spielregeln für Führung und Zusammenarbeit
Doch selbst dafür mussten sich etliche Dinge im gegenseitigen Umgangsstil ändern. Also machten wir uns daran, aus den Zielen “Spielregeln für Führung und Zusammenarbeit” abzuleiten. Dabei wendeten wir einen entscheidenden Kunstgriff an, den ich von Michael Löhner gelernt habe: Wir achteten sorgfältig darauf, dass diese Spielregeln nicht auf die Ebene von wohlklingenden, aber beliebig auslegbaren Leitsätzen stehenblieben, sondern zu beobachtbaren und nachprüfbaren Indikatoren konkretisiert wurden. Das ist deshalb so wichtig, weil Normen – und um solche handelt es sich ja – nur dann eine belastbare Basis für die Zusammenarbeit liefern, wenn sie nicht beliebig interpretierbar sind, sondern eindeutig und klar. Das heißt, mit ebenso wohlklingenden wie wolkigen Sätzen à la “Wir gehen offen und vertrauensvoll miteinander um” ist im Ernstfall nichts anzufangen; spannend wird es erst, wenn man festlegt, welche konkreten Ge- und Verbote diese Regel vermitteln soll, das heißt, welche konkreten Handlungsweisen sie einschließt und welche sie ausschließt.
Warnsignal allgemeine Zustimmung
Ein Warnsignal ist in solch einem Prozess immer, wenn eine vorgeschlagene Formulierung sofort allgemeine Zustimmung findet. Denn das bedeutet mit großer Wahrscheinlichkeit, dass keiner der Beteiligten daraus für sich einen Veränderungsbedarf ableitet. Noch schlimmer, möglicherweise rührt die spontane Begeisterung auch daher, dass einige daraus ableiten, dass nicht sie, aber einige andere nun etwas an ihrem Verhalten ändern müssen. Im schlimmsten Fall sieht keiner für sich selbst einen Handlungsbedarf, aber alle verstehen die Aussage “eindeutig” so, dass die anderen sich nun ändern müssten. Man kann sich leicht das Enttäuschungspotenzial ausmalen, das aus solchen “Vereinbarungen” erwachsen kann.
Streit als Konfliktprävention
Legt man hingegen konkret fest, was die vorgeschlagene Regel ein- und was sie ausschließen soll, entstehen sofort Diskussionen – und manchmal auch Streit. Das ist ein gutes Zeichen, weil es bedeutet, dass nun (und wirklich erst jetzt!) eine Klärung der gegenseitigen Erwartungen begonnen hat. Unterschiedliche Vorstellungen, die zuvor noch von “staatsmännischen Formulierungen” zugedeckt waren, treten nun offen zutage – und können so geklärt werden, ohne dass ein konkreter Streitfall vorliegt. Was hier auf recht unspektakuläre Weise stattfindet, ist Konfliktprävention durch die proaktive Klärung von Erwartungen – “proaktiv” deshalb, weil es vorausschauend geschieht und nicht erst dann, wenn ein Problem vorliegt. Das ist ein riesiger Vorteil, denn in einem konkreten Konflikt entsteht sofort eine Polarisierung in “Angreifer” und “Verteidiger”.
Die Grenzen des Vertrauens
Plötzliche Zurückhaltung
Spannend war nun, dass das werdende Management-Team diese klärende Auseinandersetzung bei den meisten Themen recht offen führte, dass es aber bei einigen Fragen unmerklich zurückhaltender wurde und zusehends in “diplomatische Formulierungen” abglitt. Offensichtlich war bei diesen Themen etwas anders als bei den übrigen. Aus irgendeinem Grund waren hier die derzeitigen Grenzen des Vertrauens und des in der Gruppe vorhandenen Mutes erreicht. Wie sich später herausstellte, handelte es sich dabei um Themen, bei denen der Vorsitzende der Geschäftsführung, selbst ein ausgesprochenes “Alphatier”, selbst emotional betroffen war.
Rolle des Moderators
Als Moderator kann und darf man eine Gruppe an einem solchen Punkt nicht zwingen, über ihren Schatten zu springen, aber man kann sie ermutigen. Am Ende ist es dennoch die Entscheidung der beteiligten Individuen, ob sie den Schritt ins Risiko gehen und das entstandene Vertrauen auf die Probe stellen. Nur wenn sie diesen Mut aufbringen, geben sie ihm die Chance, sich entweder zu bewähren und weiter zu wachsen oder an seine Grenze zu stoßen.
Die Forderung nach einer “Fehlerkultur”
Im konkreten Fall hatte der Geschäftsführer nachdrücklich für eine “Fehlerkultur” plädiert: Es müsse im Management-Team möglich sein, Fehler zu machen, ohne dass sie einem ewig nachgetragen würden; die Gruppe müsse bereit sein, Fehler zu verzeihen. Von der Sache her war gegen diesen Punkt kaum etwas einzuwenden – umso erstaunlicher daher die plötzliche Zurückhaltung der Gruppe. Offensichtlich war hier etwas im Busch, was nicht ausgesprochen wurde. Doch zunächst kam nicht mehr als die zaghafte Anmerkung, dass dies aber nicht dazu führen dürfe, dass jemand lustig und unbefangen Fehler mache und sich anschließend auf die “Kultur des Verzeihens” berufe.
Grenzen des Mutes
Auf der Toilette wurde dann ausgesprochen, was im Seminarraum niemand zu sagen wagte: Dass der große Vorsitzende im Ruf stand, geltende Regeln in eigener Sache eher liberal auszulegen, und dass man ihm hierfür nicht auch noch einen Freibrief ausstellen wolle. Auf die Frage, weshalb sie das nicht offen sagten, war die Antwort, man wolle sich den Mund nicht zu sehr verbrennen. Offenkundig war diese Grenze des Vertrauens noch nicht reif zum Überschreiten – jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt; vielleicht würde es in einigen Stunden, Wochen oder Monaten möglich sein. Jedenfalls war es ein Merkposten für die Nachbesprechung mit dem Geschäftsführer.
Konkrete Spielregeln
Also beschränkten wir uns im Workshop darauf, hier wie bei den anderen Punkten auszuarbeiten, was die Fehlerkultur einschließen und was sie ausschließen sollte. Und immerhin gelangen dabei Formulierungen wie: “Wir akzeptieren Fehler, aber nicht die Wiederholung von Fehlern” und: “Unsere Fehlerkultur bezieht sich auf Fehler, nicht aber auf bewusste oder fahrlässige Regelverstöße”. Natürlich war das heimliche Thema damit nur indirekt angesprochen – aber wenn die Gruppe sich stillschweigend so entscheidet, muss der Moderator das akzeptieren, auch wenn es ihn nicht freut. Aber es wäre auch eine unrealistische und allzu ehrgeistige Erwartung, den vollständigen Weg von einem tief sitzenden Misstrauen zu einem vollem Vertrauen in einem einzigen Workshop zu gehen.
Kommunizieren oder nicht kommunizieren?
Folge-Workshop
Leben kam wieder in den Workshop, als wir zum Schluss über die nächsten Schritte nachdachten. Schnell war klar, dass in einigen Wochen ein Folge-Workshop erforderlich war, in dem eine Zwischenbilanz von Erfolgen, Rückschlägen und Enttäuschungen gezogen werden musste. Denn wenn man zu lange damit wartet, eventuelle Fehlentwicklungen festzustellen und zu korrigieren, ist die positive Energie verflogen, und es bleibt einem nur noch, gemeinsam das Versanden des ehrenwerten Unterfangens zu konstatieren.
Taten statt Worte?
Weit auseinander gingen die Meinungen hingegen zu der Frage, was man den Mitarbeitern über den Workshop kommunizieren sollte. Umfassend informieren und den Prozess sofort auf die nächsten Ebenen ausrollen, forderten die einen. Gar nichts sagen und erst einmal die vereinbarten Hausaufgaben machen, schlug ein anderer vor; im Augenblick würde sich die Geschäftsführung mit großen Ankündigungen nur lächerlich machen. Wenn sie ihre guten Vorsätze in die Tat umgesetzt hätten, so fuhr er fort, würden die Mitarbeiter dies von ganz alleine merken und es sicher mit großer Erleichterung und Dankbarkeit registrieren.
Beweislast vor Rollout
Am Ende einigten wir uns darauf, dass das Management tatsächlich erst einmal den Beweis führen musste, dass seine “Spielregeln” mehr waren als eine romantische Selbsttäuschung. Trotzdem sollten sie ihren Mitarbeitern ruhig von dem Workshop berichten, schon deshalb, weil ja im Vorfeld auch die eine oder andere Bemerkung dazu gefallen war, oft von Skepsis und Sarkasmus geprägt. Da wäre eine vorsichtige Korrektur durchaus angebracht – und würde einen hilfreichen Erwartungsdruck auf das Management aufbauen. Dennoch musste die Geschäftsführung jetzt erst einmal den Beweis antreten, dass sie nicht nur veränderungsbereit, sondern auch veränderungsfähig war. Erst dann wäre es sinnvoll, über einen “Rollout” nachzudenken.
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Über den Autor
Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung.