HomeMethoden & WissenPsychologieLeidensdruck: Die wichtigste Triebfeder für Veränderung
Rationale Einsicht ist folgenlos. Sie lässt uns erkennen, was wir eigentlich tun müssten, doch sie veranlasst uns weder dazu, Sport zu treiben, noch mit dem Rauchen aufzuhören, noch, die notwendigen Veränderungen im Unternehmen vorzunehmen. Sowohl im Privatleben als auch im Change Management gibt es nur zwei Dinge, die wirklich dazu führen, dass Gewohnheiten verändert werden: Leidensdruck und Hoffnung. Zu allem Übel müssen auch noch beide zusammen kommen, damit wirklich etwas geschieht.

Leidensdruck und Hoffnung

Gescheiterte Aufklärung

Obwohl tausendfach gescheitert, wird immer wieder der Versuch unternommen, Menschen mit rationalen Argumenten zu bekehren. Das Paradebeispiel dafür lieferte Anfang der siebziger Jahre die Studentenbewegung, als langhaarige Jungakademiker vor Werkstoren Flugblätter verteilten, um die Arbeiter von der Verderblichkeit der kapitalistischen Systems und der Ausbeutung der Arbeiterklasse zu überzeugen. Doch statt den Studenten ergriffen für diese Aufklärung über den wahren Charakter des Kapitalismus zu danken und fortan heldenhaft und solidarisch für die Interessen der Arbeiterklasse zu kämpfen, warfen die Ausgebeuteten den Studenten ihre Flugblätter vor die Füße, forderten sie auf, nach “drüben” zu gehen, und kehrten ergrimmt an die Stätte ihrer Ausbeutung zurück. Gescheiterte Aufklärung.

Rationale und emotionale Überzeugungsstrategien

Verdeckter Widerstand

Bevor Sie sich allzu sehr über so viel Naivität amüsieren, prüfen Sie, ob Sie nicht oftmals in die gleiche Falle gehen. Viele Überzeugungsbemühungen im Unternehmen laufen im Grunde ganz ähnlich ab, nur dass sich der Widerstand hier weniger offen artikuliert. Die Mitarbeiter reagieren auf die Argumente ihres Vorgesetzten oder der Geschäftsleitung nicht aggressiv, sondern schweigen. Sie sprechen ihre Vorbehalte meistens nicht aus, weil sie das nicht ratsam halten und es ihnen möglicherweise Ärger einbringen könnte. Dennoch ist ihre innere Reaktion auf die Präsentationen des Managements und seiner Berater sinngemäß die gleiche wie auf die Flugblätter der Studenten: “Lasst uns doch mit diesem Blödsinn in Ruhe!”

Bewährte Strategie

Genau die umgekehrte Linie fährt seit Jahrtausenden die katholische Kirche. Sie verzichtet weitestgehend auf rationale Argumentation, stattdessen predigt sie die (Erb-)Sünde, aber auch die Chance, durch tugendhaftes Verhalten und das Vertrauen auf die Gnade Gottes die ewige Seligkeit zu erlangen. Leidensdruck und Hoffnung – da sind sie wieder, die ungleichen Zwillinge. Wie Sie sehen, sprechen wir hier nicht über eine neue, unausgegorene Idee aus einem psychologischen Forschungslabor, sondern über ein Rezept, das sich seit Jahrhunderten im Großversuch bewährt.

Gegenwärtige oder künftige Nachteile

Was genau ist Leidensdruck? Es ist der Stress, der aus einer schwer erträglichen Situation entsteht. Er kann aus aktuellem Leiden kommen, also aus körperlichen oder seelischen Schmerzen, aber auch aus Angst vor zukünftigem Unheil (wie z.B. der drohenden Verstoßung in die Hölle oder der Insolvenz der Firma). Da wir Menschen das einzige Lebewesen sind, das zur Antizipation fähig ist, das sich also Gedanken (und Gefühle) über die Zukunft machen kann, spielt die Befürchtung künftiger Nachteile für das Entstehen von Leidensdruck in der Regel eine größere Rolle als akuter Schmerz. Doch allzu abstrakt darf der Gedanke nicht sein, sonst bewirkt er keine Gefühle und damit auch keinen Leidensdruck: Die rationale Einsicht, dass unsere Gesundheit durch Bewegungsmangel und falsche Ernährung gefährdet ist, lockt niemanden vom Schreibtisch weg.

Hoffnung mobilisiert Energie

Doch Leidensdruck allein schafft keine Veränderung. Was bei genauerem Nachdenken auch logisch ist. Denn wenn es einem Individuum oder einem Unternehmen zwar miserabel geht, es aber keine Möglichkeit sieht, seine Situation zu verändern, dem bleibt ja keine andere Wahl als seinen momentanen Zustand zu erdulden. Wer keine Wahl hat, muss ertragen, was eigentlich kaum zu ertragen ist. Leidensdruck allein erzeugt daher lediglich Resignation und Apathie. Damit Energie zur Veränderung entsteht, muss zu dem Leidensdruck eine positive Perspektive kommen. Erst wenn das Leiden herausgefordert wird von der Idee, dass es auch anders sein könnte und dass diese Änderung realistischerweise erreichbar ist, entsteht ein Gefühl der Hoffnung, und mit ihr die Energie zur Veränderung.

“Horror vacui”: Rat- und Hilflosigkeit führt zu Verdrängung

Leidensdruck nicht überziehen!

Deshalb hat es auch keinen Sinn, ausschließlich an der Verstärkung des Leidensdrucks – oder wie man im politischen Raum sagt, am “Bewusstsein” der Adressaten – zu arbeiten, um Veränderungsbereitschaft zu schaffen. Denn wenn die Leute keine Lösung für ein Problem sehen, neigen sie dazu, das Problem entweder zu verdrängen oder seine Existenz zu bestreiten: “Ich glaube nicht, dass unsere Firma in Gefahr ist: Sie hat schon ganz andere Schwierigkeiten überstanden. Das sind bloß wieder diese Panikmacher im Management!” Denn die wenigsten Menschen können es ertragen, über längere Zeit ein bedrohliches Problem vor Augen zu haben, ohne eine Perspektive für dessen Lösung zu haben.

Beispiel Umwelt

Ein Paradebeispiel hierfür ist die Umweltbewegung, die in den vergangenen Jahren zu viel auf “Bewusstsein” gesetzt hat (Atomkraft, Waldsterben, Gentechnik …) und zu wenig an konkreten Handlungsmöglichkeiten angeboten hat. Mit der Folge, dass die gewachsene Handlungsbereitschaft der Bevölkerung an vielen Stellen umgekippt ist in Resignation und Verdrängung. Erneute Hinweise auf bestehende Umweltrisiken lösen dann in vielen Fällen genervte oder aggressive Reaktionen aus – eigentlich logisch, wenn man sich klar macht, dass diese Hinweise von den Betroffenen, solange sie keine Handlungsmöglichkeiten sehen, lediglich als das Verbreiten von Missstimmung und nutzlose Quälerei empfunden werden. Diese Art von Verdrängung findet man bei vielen politischen Themen – zum Beispiel auch gegenüber Armut und Hunger in der Dritten Welt. Das hat – jedenfalls bei vielen Bürgern – nichts mit Abstumpfung oder Desinteresse zu tun, wie die Aktivisten häufig enttäuscht meinen, sondern ist deren “psychische Notwehr” gegenüber Problemen, an denen sie nichts ändern zu können glauben.

Angst vor Ratund Hilflosigkeit

Dieser “Horror vacui”, die Angst vor der eigenen Rat- und Hilflosigkeit, ist eine der größten Veränderungsbarrieren überhaupt. Die meisten Menschen – bis hinauf ins Top-Management – weigern sich schlicht, Probleme zur Kenntnis zu nehmen, solange sie keine Idee für deren Lösung haben. Daran sind schon viele Unternehmen (und viele Menschen) zugrunde gegangen. Denn wenn die Probleme – etwa im Falle von Marktanteilsverlusten (oder bei einer Krankheit) – schließlich so groß geworden sind, dass man nicht mehr umhin kann, sie zur Kenntnis zu nehmen, kann es für das Finden einer Lösung bereits sehr spät sein. Zumal die dann aufkommende Panik in der Regel auch kein guter Ratgeber ist.

Lösungs-perspektive

So wichtig Leidensdruck daher für das Schaffen von Veränderungsbereitschaft ist, so gefährlich wäre es, ausschließlich auf ihn zu setzen. Um dem beschriebenen Abwehrmechanismus zuvorzukommen, ist es wichtig, Leidensdruck möglichst sofort mit einer Lösungsperspektive und konkreten Handlungsmöglichkeiten zu verbinden.

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Über den Autor

Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung. 

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