Inhaltsverzeichnis:
- 1 Konsens (nur) in Überschriften
- 2 Die latente Destruktivität von Konsensillusionen
- 3 Das fatale Gefühl, dass die Kollegen nicht mitziehen
- 4 Die bessere Alternative: Rechtzeitige Klärung
- 5 Von abstrakten Begriffen zu beobachtbaren Indikatoren
- 6 Letztlich geht es um Verhalten und um Resultate
- 7 Indikatorenbildung erfordert etwas Übung
- 8 Schwierig, aber lohnend
- 9 Entwicklung von Indikatoren in der Praxis
- 10 Zu konkreten Festlegungen kommen
- 11 Die Indikatorenliste überschaubar halten
- 12 Verwandlung eines Bewertungs- in ein Beobachtungsproblem
- 13
- 14 Kostenfreies Erstgespräch
Konsens (nur) in Überschriften
Fast so viele Interpretationen wie Personen
So bestand in einem Management-Team Einigkeit, dass man die Mitarbeiter mehr fördern müsse – bis der Fertigungsleiter vorsichtig einwendete, in seinem Bereich sei das schwierig, weil es für die Mitarbeiter in der Fabrik ja kaum Beförderungsmöglichkeiten gebe. Gerade die guten Leute brauche er an den Maschinen, nicht in irgendwelchen Stabsfunktionen. Das sei ja auch gar nicht gemeint, wandte die Finanzchefin ein, es gehe vielmehr darum, ihnen auch mal Sonderaufgaben zu übertragen oder sie in Projekte einzubeziehen, in denen sie neue Fähigkeiten erwerben könnten.
Wenn der Scheinkonsens zerbröselt
Das könne er sich für seinen Bereich kaum vorstellen, weil seine Leute so viel wie möglich beim Kunden sein müssten, bemerkte der Vertriebsleiter, aber er wolle ihnen gern von Zeit zu Zeit eine gute Schulung angedeihen lassen. Dafür wiederum konnte sich der Leiter der Entwicklung nicht begeistern: Die größten Entwicklungsschritte machten Mitarbeiter nach seiner Auffassung, wenn sie die Gelegenheit bekommen, an neuen, herausfordernden Entwicklungsprojekten mitzuarbeiten. Alles schön und gut, kommentierte die Marketing-Chefin, aber wenn es sich für die Mitarbeiter nicht in einer höheren Vergütung niederschlüge, würden sie das kaum als Förderung empfinden. Das könne sie nicht mittragen, wandte die Finanzchefin ein, die Personal- und insbesondere die Overheadkosten seien ohnehin schon zu hoch.
Die latente Destruktivität von Konsensillusionen
Eine kollektive Konsensillusion
Bei näherer Betrachtung war der erzielte Konsens, die Mitarbeiter mehr zu fördern, also ziemlich wenig wert. Schlimmer noch: Er weckte den Eindruck einer Übereinstimmung, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden war. Die Manager glaubten, sich einig zu sein, ja, sie waren sicher, einen klaren und eindeutigen Beschluss gefasst zu haben. In Wirklichkeit hingen sie kollektiv der Illusion an, die anderen Beteiligten verstünden das Gleiche – oder zumindest etwas ziemlich Ähnliches – unter dem verwendeten Begriff wie sie. Wäre nicht durch den unschuldigen Einwand des Fertigungsleiters eine Diskussion aufgebrochen, der den Scheinkonsens ans Licht brachte, wären sie mit der ebenso festen wie falschen Überzeugung aus der Besprechung gegangen, sich absolut einig zu sein, was zu tun ist.
Manager schlecht vorbereitet
So häufig dieses Problem ist, es trifft die meisten Manager schlecht vorbereitet. Sie sind geübt darin, über Zahlen zu entscheiden. Gleich ob es um Verkaufsziele oder um Budgets geht, Zahlen sind eindeutig, und es kann weder eine Diskussion darüber geben, was damit gemeint ist, noch, wie man feststellt, ob sie erreicht sind. Auch wenn es um Investitionen geht, ist die Sache in der Regel ziemlich klar: Meist ist ausreichend spezifiziert, was man bestellt hat, um hinterher problemlos feststellen zu können, ob das Richtige geliefert wurde.
Einladung zum Scheinkonsens
Wenn es dagegen um die Formulierung von Erwartungen an Mitarbeiter und Führungskräfte, um die Festlegung von Auswahlkriterien oder um die Beschreibung einer Sollkultur geht, sind viele Manager überfordert, ihre Zielvorstellungen präzise und unmissverständlich auf den Punkt zu bringen, und flüchten sich in vage Metaphern wie “unternehmerisches Denken” oder “Kunden begeistern”, die ein breites Spektrum Auslegungen zulassen und damit jeder Art von Scheinkonsens Tür und Tor öffnen. Doch die meisten ihrer Kollegen können auch nicht präziser artikulieren, was sie meinen, und solidarisieren sich daher, gemäß Löhners Diktum, mit jenen, die “dafür die gleichen Worte verwenden”.
Folgenlose Beschlüsse
Leider fliegt solch ein Scheinkonsens in der Mehrzahl der Fälle nicht auf, weil niemand hinterfragt, was mit den beschlossenen Zielen konkret gemeint ist. Das hat Folgen, deren latent destruktive Kraft nicht zu unterschätzen ist. Denn angesichts des vermeintlichen Konsens’ verlassen die Beteiligten die Besprechung mit der Erwartung, dass ihre Kollegen nun auch im gleichen Sinne handeln werden wie sie – oder genauer, so, wie es ihrer Interpretation des Begriffs entspricht. In vielen Fällen stellt sich der kollektive Irrtum entweder gar nicht heraus oder erst sehr viel später. In solchen Fällen sind die getroffenen Beschlüsse schlicht folgenlos: Jeder tut, was er für richtig hält, als ob kein Konsens erzielt und kein Beschluss gefasst worden wäre.
Das fatale Gefühl, dass die Kollegen nicht mitziehen
Verwunderung, Enttäuschung, Verärgerung
Falls die Beteiligten dagegen mitbekommen, wie die Kollegen die Sache in ihren Verantwortungsbereichen handhaben, wird es erst recht schwierig. Dann macht sich Verwunderung und Enttäuschung breit: Wir haben das Thema doch ausgiebig diskutiert und eine Entscheidung getroffen – wie kommt es, dass die Kollegen sie nicht umsetzen? Warum halten sie sich nicht an die getroffenen Vereinbarungen? Wenn sie mit der Entscheidung nicht einverstanden waren, warum haben sie es dann nicht gesagt? Haben sie vielleicht nur zum Schein zugestimmt, um ihre Ruhe zu haben, hatten aber in Wirklichkeit gar nicht die Absicht, den Beschluss umzusetzen?
Unterschiedliche Interpretationen kommen meistens nicht ans Licht
Der Schaden hielte sich in Grenzen, wenn diese Verwunderung und Enttäuschung bei nächster passender Gelegenheit offen thematisiert würde: Dann würde sich rasch herausstellen, dass sich die Beteiligten bis auf die Überschrift eigentlich in nicht viel einig waren. Doch in vielen Fällen wird sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht offen angesprochen – und auf die eigentlich naheliegende Erklärung, dass die Kollegen die gleichen Begriffe ganz unterschiedlich verstanden haben, kommen die Beteiligten in der Regel nicht, weil es die wenigsten Menschen für möglich halten, dass jemand die Begriffe, deren Bedeutung einem doch so offentlichtlich und buchstäblich “alternativlos” erscheinen, anders interpretieren könnte.
Aufkommendes Misstrauen
Stattdessen setzt hier allzuoft die zersetzende Kraft der Spekulationen ein: Man rätselt, wieso die Kollegen den Beschluss nicht umsetzen, obwohl sie ihm doch zugestimmt haben – und beginnt, an ihnen zu zweifeln. Denn vor dem Hintergrund der stillschweigenden Überzeugung, dass die Bedeutung der beschlossenen Inhalte klar und eindeutig sei, bleiben dafür eigentlich nur zwei Erklärungen: Entweder sie können es nicht oder sie wollen es nicht. Damit stellt man implizit entweder ihre Fähigkeiten oder, fast noch fataler, ihre guten Absichten in Frage: Misstrauen schleicht sich ein.
Schleichender Zerfall von Management-Teams
Im schlimmsten Fall kann sich dieses gegenseitige Misstrauen im Laufe der Zeit bis zu einem offenen Bruch eskalieren, weil jeder dem anderen voller innerer Empörung unterstellt, dass er den von ihm forcierten Beschlüssen nur pro forma zugestimmt hat, sie aber in Wirklichkeit gezielt unterläuft. Doch selbst wenn es nicht zum offenen Streit kommt, entfaltet das Misstrauen seine schleichende zersetzende Wirkung. Denn für diejenigen, die feststellen bzw. festzustellen glauben, dass ihre Kollegen nicht mitziehen, stellt sich ja die Frage, was sie daraus schließen sollen. Und viele leiten daraus für sich den Schluss ab, dass es in diesem Umfeld leider zu nichts führt, übergreifende Verabredungen zu treffen. Also konzentrieren sie sich fortan auf den eigenen Bereich, in dem sie auf die Unterstützung der Kollegen nicht angewiesen sind, und machen dort “ihr Ding”.
Die bessere Alternative: Rechtzeitige Klärung
Enttäuschung auf den Tisch bringen
Nun wäre es natürlich eine gute Alternative zu dem enttäuschten Rückzug auf den eigenen Verantwortungsbereich, wenn die Umsetzung nicht im erhofften Sinne läuft, seine Enttäuschung und Verwunderung offen anzusprechen. Das böte dann zumindest die Chance, das Missverständnis hinter der gemeinsamen Konsensillusion zu entdecken und zu beseitigen.
Nachträgliche Klärung schwierig
Doch selbst wenn dies geschieht, ist es keineswegs sicher, dass sich das Missverständnis auflösen lässt. Denn angesichts des aufgekommenen Misstrauens werden manche geneigt sein, die Erklärungen ihrer Kollegen, dass sie etwas ganz anderes unter dem gefassten Beschluss verstanden hatten, für windige Ausreden und nachträgliche Rechtfertigungen zu halten, die nur über ihren Mangel an ernsthaftem Umsetzungswillen hinwegtäuschen sollen. Zudem kann man in dieser Situation sehr leicht in Streit darüber geraten, welche Auslegung die richtige und gültige ist. Denn natürlich hält jeder seine Auslegung der Begriffe für die (einzig) korrekte.
Von Anfang an Bedeutung klären
Statt sich im Nachhinein darüber zu verständigen (oder zu zerstreiten), was die vor einer Weile gefassten Beschlüsse eigentlich konkret bedeuten sollen, ist es klüger, deren konkrete praktische Bedeutung schon bei bzw. vor der Beschlussfassung zu klären. Dazu muss man aber etwas tiefer einsteigen und einige Abstraktionsstufen nach unten steigen, denn auf der Ebene abstrakter Begriffe lässt sich Vieldeutigkeit nicht vermeiden: Es ist immer wieder verblüffend, wie unterschiedlich die Be-Deutungen sind, die verschiedene Menschen einem vermeintlich klaren und eindeutigen Begriff beimessen.
Beliebig interpretierbare Begriffe
Wer diese unglaubliche Bandbreite der Interpretationen ein paarmal erfahren hat, entwickelt eine generelle Skepsis gegenüber wohlklingenden abstrakten Begriffen, gleich ob sie unternehmerisches Denken, Motivation oder Führung, Coaching, Kommunikation oder sonstwie heißen. Oft rührt die breite Zustimmung, die sie hervorrufen, wohl wirklich zum großten Teil daher, dass jeder in sie hineininterpetieren kann, was schon immer seine Überzeugung war. Und dass ihm andere sofort aus vollem Herzen beipflichten, ist ebenfalls hauptsächlich der Tatsache geschuldet, dass sie ihre Sichtweise in die Worte hineininterpretieren, und bedeutet daher wenig.
Von abstrakten Begriffen zu beobachtbaren Indikatoren
Von der Konsensillusion zum Konsens
Aber wie schafft man den Schritt von den abstrakten Überschriften, die bei allen Beteiligten eine vage und meist unbegründete Hoffnung auf inhaltliche Übereinstimmung wecken, hin zu einer klaren und eindeutigen Auslegung? Wie kommt man also von einer Konsensillusion zu einem tatsächlichen und belastbaren Konsens?
Definitionen bringen kaum zusätzliche Klarheit
Wissenschaftlich geschulte Menschen werden hier vermutlich sofort an eine lehrbuchmäßige Begriffsdefinition denken. Aber Definitionen nützen für solche Zwecke nicht allzu viel: Einen abstrakten Begriff durch ein Bündel an anderen abstrakten Begriffen zu beschreiben, bringt zwar eine gewisse Eingrenzung des Assoziationsfelds, aber keine wirkliche Klarheit. Außerdem sagen Definitionen meist nur denjenigen etwas, die mit der Materie ohnehin schon vertraut sind.
Beobachtbare, nachprüfbare Indikatoren festlegen
Der bessere Weg ist eine Konkretisierung und Operationalisierung. Sie wird erreicht, indem man gemeinsam festlegt, an welchen beobachtbaren und nachprüfbaren Tatsachen man erkennen kann, ob die gewünschten Veränderungen erreicht oder zumindest auf einem guten Weg sind: Welche konkreten Veränderungen müsste man dann feststellen können? Diese beobachtbaren Fakten nennt man Indikatoren. Sie sind eng verwandt mit dem, was man in Assessment Centern und bei der Personalauswahl als “Verhaltensanker” bezeichnet.
Letztlich geht es um Verhalten und um Resultate
Verhalten und Ergebnisse – keine Einstellungen
Bei den Indikatoren kann man unterscheiden zwischen Verhaltensweisen, die künftig zu beobachten sein sollen, und nachprüfbaren Ergebnissen, die damit erreicht werden sollen. Dagegen ist es nicht sinnvoll, auf Einstellungen und Überzeugungen (oder “Mindsets”) abzuheben – und zwar einfach deshalb nicht, weil man sie von außen nicht eindeutig feststellen und beobachten kann. Erkennen könnte man eine veränderte Einstellung allenfalls an den Verhaltensweisen und Ergebnissen, die sie – hoffentlich – auslöst. Dann aber ist es besser, von vornherein die Verhaltensweisen und Ergebnisse zu nennen, die erreicht werden sollen, denn die lassen sich im Gegensatz zu den Einstellungen direkt beobachten.
Einstellungen und Überzeugungen sind nicht direkt beobachtbar
Letzten Endes geht es ausschließlich um Verhalten und um Resultate – alles andere sind nur Vor- und Zwischenstufen, die noch dazu in aller Regel kaum direkt zu beobachten sind. Wenn die Mitarbeiter zum Beispiel hochmotiviert sind, etwas zu tun, ist das zwar ausgesprochen erfreulich, aber es ist erstens nicht direkt beobachtbar, und zweitens ist es letztlich nur dann etwas wert, wenn es sich dann auch in Verhalten und in Resultaten niederschlägt. Mit der Motivation alleine ist nichts gewonnen, solange sie sich nicht in Verhalten niederschlägt.
Und umgekehrt: Wenn ein Mitarbeiter in der richtigen Weise handelt, ist es erstens nicht von außen erkennbar und zweitens auch gar nicht so wichtig, ob er das aus tiefster innerer Überzeugung tut oder einfach nur deshalb, weil er verstanden hat, dass das zu seinen Aufgaben gehört oder dass sein Chef größten Wert darauf legt. (Das soll ausdrücklich nicht heißen, dass Einstellungen und Überzeugungen unwichtig sind – aber direkt beobachten lassen sie sich nun einmal trotzdem nicht.)
Negative Indikatoren zur Ergänzung
Sinnvoll ist dagegen, die “positiven” Indikatoren, die die gewünschten Verhaltensmuster und Ergebnisse beschreiben, durch “negative” zu ergänzen. Das erweist sich in der Praxis sogar als ausgesprochen nützlich, denn manchmal ist es leichter, auf den Punkt zu bringen, welche Verhaltensweisen und Ergebnisse man künftig nicht mehr sehen möchte, als das gewünschte Verhalten positiv (und beobachtbar!) zu beschreiben. Negativ-Indikatoren sind oft plakativer und spiegeln “des Lebens ganze Fülle” wider: Ein Indikator wie “Kein Multitasking” ist einfach weit anschaulicher als jeder Versuch, das Ziel “Volle Konzentration auf den Gesprächspartner” positiv zu operationalisieren.
Indikatorenbildung erfordert etwas Übung
Festlegung von beobachtbaren, nachprüfbaren Fakten
Die einfachste Möglichkeit, solche Indikatoren zu bestimmen, ist, sich ganz einfach zu fragen: Einmal angenommen, das gewünschte Merkmal oder Verhalten wäre zu unserer vollsten Zufriedenheit erfüllt, an welchen beobachtbaren Fakten würden wir es erkennen? Und welche Fakten dürften dann auf keinen Fall zu festzustellen sein? Was genau würden wir dann zum Beispiel beobachten, wenn “unternehmerisches Denken” in dem von uns gewünschten Sinne vorläge, und worüber müssten wir uns dann nicht mehr ärgern?
Manager in Verlegenheit
Wenn man Managern eine solche Frage stellt oder sie gar darum bittet, eine Liste beobachtbarer und nachprüfbarer Indikatoren in einer Gruppenarbeit zu erstellen, kommen sie oft in größte Verlegenheit. Mühsam quälen sie sich durch die Aufgabe, einigen sich vielleicht noch auf Aussagen wie “mitdenken” und “eigenständig handeln”, die in der Tat in Stück konkreter als “unternehmerisches Denken” sind, aber auch nicht wirklich beobachtbar. Denn an welchen beobachtbaren Fakten würde man erkennen, ob jemand mitdenkt oder eigenständig handelt? Beim “eigenständigen Handeln” kommt hinzu, dass man sich genau überlegen sollte, ob man das sich ohne jede Einschränkung, Spezifikation und Leitplanke wirklich wünschen sollte.
An völlig unklaren Erwartungen gemessen
Oft gestehen selbst Top Manager nach einer solchen Übung: “Das war schwieriger, als wir uns gedacht hatten.” Andere reden über das Problem hinweg: “Was unternehmerisches Denken ist, lässt sich nicht schwer in Worte fassen, aber ich erkenne es sofort, wenn ich es sehe.” Für die Mitarbeiter ist das eine beängstigende Aussage, denn für sie bedeutet das: Ihr Chef kann ihnen zwar nicht sagen, was er von ihnen erwartet, aber er wird sie daran messen, ob sie es erfüllen oder nicht. Das macht ihre Tätigkeit – und damit ihre Karriereplanung – zu einer Herausforderung für Hellseher.
“Auswärtsspiel” nicht nur für Manager
Dass die meisten Manager hier solche Schwierigkeiten haben, liegt nicht daran, dass sie “unfähig” sind, sondern daran, dass sie unversehens in ein “Auswärtsspiel” geraten sind: So etwas haben sie – ebenso wenig wie die meisten anderen Menschen – jemals in ihrem Leben gemacht, geschweige denn systematisch trainiert. Zudem fordert ihnen – uns – die Aufgabe ab, gegen die normale Richtung unseres Denkens zu arbeiten.
Schwierig, aber lohnend
Denken heißt (oft), Muster zu erkennen
Unser Denken besteht sehr häufig im Erkennen von Mustern, also im Abstrahieren: Wir beobachten Menschen, Märkte, Ereignisse und entdecken in dem, was wir beobachten, sich wiederholende Phänomene. Wenn wir beispielsweise bei einem Menschen des Öfteren feststellen, dass er äußerst vorsichtig, defensiv und abwehrbereit reagiert, schließen wir daraus auf seine Persönlichkeit und schreiben ihm einen “ängstlichen Charakter” zu. Wenn wir bei einer anderen Person feststellen, dass sie häufig überheblich auftritt und abweisend oder herabsetzend mit anderen umgeht, bezeichnen wir sie vielleicht als arrogant. Auf diese Weise verdichten wir viele Einzelbeobachtungen in einen abstrakten Überbegriff. So erreichen wir eine erhebliche Komplexitätsreduktion, allerdings um den Preis, dass wir dabei die Details verlieren.
Denken entgegen der normalen Richtung
Die Indikatorenbildung verlangt von uns, dass wir “in der umgekehrten Richtung denken”. Nun sollen wir plötzlich rekonstruieren, aus welchen konkreten Beobachtungen wir abstrahiert haben, dass der eine arrogant ist, der andere ängstlich und der dritte unternehmerisch denkt. Das ist ungewohnt und läuft gegen die eingeübte Routine – kein Wunder, dass es anstrengend ist und erst einmal etwas holprig geht. Aber es ist eine ausgesprochen nützliche Fähigkeit, deshalb lohnt es sich, das Bilden von Indikatoren zu trainieren.
Vom Ratespiel zur klaren Ansage
Denn nur wenn wir dazu in der Lage sind, anderen Menschen konkret und auf einer beobachtbaren Ebene zu sagen, was wir von ihnen erwarten, haben sie überhaupt die Chance, unsere Erwartungen zu erfüllen. Ansonsten schicken wir sie in ein frustrierendes Ratespiel nach dem Motto: “Ich kann Ihnen zwar nicht sagen, was ich von Ihnen erwarte – ich werde aber sehr böse werden, wenn sie es nicht tun.” Das ist den meisten Menschen auf die Dauer zu blöd. Das ist so ähnlich wie wenn Sie einem Architekten beauftragen: “Bitte entwerfen Sie mir ein Haus, das etwas hermacht und in dem ich mich wohlfühlen kann!” Damit stellen Sie hohe Ansprüche an dessen hellseherische Fähigkeiten – und haben vermutlich eine Überraschung vor sich.
Ausgesprochen nützliche Fähigkeit
Deshalb ist es eine ausgesprochen nützliche Fähigkeit, Wünsche und Erwartungen konkret und präzise formulieren so können – nicht nur in der Führung, sondern auch in vielen anderen Lebensbereichen, einschließlich Erziehung und Partnerschaft. Je präziser wir benennen können, was genau wir uns von anderen Menschen erwarten oder wünschen, desto größer ist die Chance, dass unsere Wünsche erfüllt werden. Häufiger als man denken würde, scheitert deren Erfüllung gar nicht an der mangelnden Bereitschaft der anderen Beteiligten, sondern daran, dass sie nicht verstehen, was genau wir von ihnen wollen. Das ist zum Beispiel die einerseits ernüchternde, andererseits verblüffend einfache Erklärung, weshalb Mitarbeiter oft nicht das tun, was sich ihre Chefs von ihnen erhoffen.
Entwicklung von Indikatoren in der Praxis
Sich an konkrete Erfahrungen zurückerinnern
Indikatorenbildung besteht letztlich darin, dass man sich zurückerinnert, aus welchen konkreten Beobachtungen wir jene abstrakten Begriffe, Ziele oder Werte abgeleitet haben, die man für anstrebenswert hält. Welche konkreten Beobachtungen und Erfahrungen haben wir zum Beispiel gemacht, wenn wir abstrahierend von einer hohen Kundenorientierung sprechen? Und welche Beobachtungen und Erfahrungen dürften wir dann auf keinen Fall gemacht haben?
Schlechte Erfahrungen machen Erwartungen sichtbar
Jeder von uns hat Erfahrung sowohl mit ausgeprägter als auch mit miserabler Kundenorientierung – und ein guter Anfang ist, sich einfach einige dieser Erlebnisse in Erinnerung zu rufen. Meistens geht es mit schlechten Erfahrungen einfacher, aber das ist völlig in Ordnung, denn im Negativen ist das Sollbild genauso enthalten wie im Positiven. Negativ ist eine Erfahrung ja nur deshalb, weil sie von unserem Wunschbild deutlich nach unten abweicht und deshalb eine Enttäuschung auslöst.
Beispiel Kundenorientierung
Wann zum Beispiel weicht in puncto Kundenorientierung unsere Erfahrung negativ von unseren Erwartungen ab? Wenn wir lange warten müssen zum Beispiel, gleich ob am Telefon, bei der Beantwortung von Mails oder leibhaftig, etwa im “Wartezimmer” – allein der Begriff ist aus Kundensicht schon eine Provokation. Also müssten wir jetzt nur noch angeben, was wir unter “lange” verstehen, dann hätten wir bereits einen Indikator, der erstens relevant und zweitens perfekt nachprüfbar ist.
Schlüsselrolle der Nachprüfbarkeit
Was “lange” ist, hängt natürlich von Fall zu Fall ab: Die Wartezeit auf die Lieferung einer Einbauküche wird legitimerweise länger sein als die auf die Annahme eines Anrufs. Aber um eine Festlegung kommen wir nicht herum, denn nur dann ist der Indikator tatsächlich nachprüfbar. Was eine angemessene Dauer ist, darüber muss diskutiert und, wenn nötig, auch gestritten werden. Gerade diese Diskussionen bewirken einen Fortschritt: Zum ersten Mal muss man sich jetzt auf eine gemeinsame Festlegung einigen. Die Forderung “Keine langen Wartezeiten” hätten alle noch blind unterschrieben – weil jeder etwas anderes darunter verstanden hätte.
Immer wieder fragen: Reicht das schon?
Unter Umständen müssen auch mehrere Antwortzeiten festgelegt werden, weil sich nicht alles über einen Kamm scheren lässt – wobei dann ein zusätzlicher Indikator lauten könnte: “Maximale Antwortzeiten auf unterschiedliche Kundenanforderungen sind definiert.” Doch ist es keineswegs pingelig, festzustellen: Allein die Festlegung der Antwortzeiten macht noch keine Kundenorientierung aus, wenn das Dokument dann abgeheftet wird und in einem Schrank verstaubt. Also würden wir den Indikator vielleicht ergänzen um den Halbsatz: “… und werden nachgehalten.”
Zu konkreten Festlegungen kommen
Metaphern in Indikatoren umwandeln
Aber natürlich gehört zu Kundenorientierung mehr als schnelle Antwortzeiten – als Kunde möchte man auch, dass danach in der Sache zügig etwas vorangeht. Irgendwer schlägt daher vielleicht als weiteren Indikator vor, es dürfe nicht vorkommen, dass Kunden in der Luft hängen gelassen werden.
Das ist ein wichtiger Hinweis, aber noch kein brauchbarer Indikator, auch wenn alle wissen (oder zu wissen glauben), was gemeint ist: Physisch in der Luft hängende Kunden sind eher selten das Problem. Also muss die anschauliche Metapher in einen beobachtbaren Indikator übersetzt werden. Er könnte zum Beispiel lauten: “Kunden erhalten eine sofortige Zwischeninformation, wenn die Auslieferung ihre Bestellung bzw. die Bearbeitung ihres Anliegens länger als 12 Stunden dauert.”
Die Indikatoren ausdiskutieren
Wichtig ist, die Indikatoren wirklich auszudiskutieren. Es hat keinen Sinn, nach dem Motto “Papier ist geduldig” zuzulassen, dass Indikatoren festgelegt werden, die Ihnen unsinnig oder unerfüllbar erscheinen. Wer zum Beispiel der Meinung ist, dass die oben genannten 12 Stunden viel zu lang oder unrealistisch kurz sind, muss dies sagen und einen anderen Vorschlag machen – und erst recht, wer eine derartige Festlegung überhaupt nicht für sinnvoll hält. Das muss dann “ausgestritten” und zu einer verbindlichen Entscheidung geführt werden.
Keine diplomatischen Pflaster über Dissens kleben
Zur Not muss der oder die Vorgesetzte eine Entscheidung treffen. Oder man einigt sich auf eine vorläufige Festlegung und überprüft nach ein paar Wochen, ob sie praktikabel ist. Kontraproduktiv wäre hingegen, den Dissens hinter einer vagen Formulierung zu verstecken, etwa die 12-Stunden-Regel zu ersetzen durch “nicht zeitnah erfolgen kann”. Damit hätte man den Dissens nicht ausgeräumt, sondern den fortbestehenden Dissens nur mit einem diplomatischen Pflaster überklebt. Das jedoch wäre das Ende der Überprüfbarkeit, mit der Folge, dass der Indikator jede Orientierungswirkung verliert, weil alles Wesentliche weiterhin offen ist.
Kriterium Beitrag zum Geschäftserfolg
Doch die Indikatoren müssen nicht nur realistisch sein, sie sollten auch einen Beitrag zum Geschäftserfolg leisten. Es hat daher keinen Sinn, die Schwelle so niedrig anzusetzen, dass sie zwar leicht zu überspringen ist, aber keinen wirklichen Beitrag zu dem Ziel, etwa einer verbesserten Kundenorientierung, leistet. Ebenso wenig ist es sinnvoll, Indikatoren in die Liste aufzunehmen, die zwar überprüfbar sind, aber, selbst wenn sie voll erfüllt wären, keinen wesentlichen Fortschritt brächten. Deshalb ist sinnvoll, jeden Indikator kritisch zu hinterfragen: Angenommen, er wäre voll erfüllt, wären wir unserem Ziel dann näher? Und Indikatoren, die dieses Kriterium nicht erfüllen, unbarmherzig zu streichen.
Die Indikatorenliste überschaubar halten
Liste aller notwendigen Bedingungen
Wenn man auf diese Weise eine Reihe von Indikatoren gesammelt hat und die Vorschläge für weitere nicht mehr so munter sprudeln, kann und sollte man sich irgendwann die Frage stellen: angenommen, diese Indikatoren wären alle erfüllt: Könnte es dann trotzdem noch sein, dass unsere Kundenorientierung unzureichend ist oder größere Schwachpunkte aufweist? Wenn nein, kann man die Liste schließen, dann hat man (nach bestem derzeitigem Wissen und Gewissen) alle notwendigen Indikatoren aufgelistet.
Hinreichende Bedingung definiert
Formallogisch entspricht die Summe aller notwendigen Bedingungen einer hinreichenden Bedingung – sprich, wenn all diese Indikatoren erfüllt sind, ist Kundenorientierung nicht mehr zu verhindern. Denn wenn es nicht mehr möglich ist, dass trotz Erfüllung aller Indikatoren keine (ausreichende) Kundenorientierung vorliegt, heißt das, dass bei Erfüllung aller Indikatoren (= Bedingungen) Kundenorientierung zwangsläufig vorliegen muss.
Auf eine Seite beschränken
Wie umfangreich darf und muss eine solche Indikatorenliste sein? Klar ist, dass ein so facettenreiches Abstraktum wie Kundenorientierung nicht mit ein oder zwei Indikatoren abzudecken ist. Es ist daher kein schlechtes Zeichen, wenn die Liste etwas länger wird. In der Praxis ist es auch kein Problem, bei der praktischen Anwendung der Indikatoren 10, 15 oder auch 20 Indikatoren durchzugehen. Das geht sogar besser, als wenn man, um an der Zahl zu sparen, mehrere heterogene Kriterien in einen Indikator zusammenpackt. Aus praktischen Gründen ist es aber zweckmäßig, sich bei der Indikatorenliste auf eine A4-Seite (in vernünftiger Schriftgröße) zu beschränken. Das gelingt meist problemlos, wenn man Indikatoren streicht, die nur semantische Variationen anderer Indikatoren sind.
Pro Kulturziel / Anforderung eine Indikatorenliste
Da sich die Indikatorenlisten immer nur auf ein Kulturziel bzw. eine Anforderung oder Erwartung beziehen, muss es für jedes Ziel eine eigene Indikatorenliste geben. Wenn die Beschreibung einer Sollkultur also beispielsweise aus sechs verschiedenen Kulturelementen (oder -zielen) besteht, muss es auch für jedes eine eigene Indikatorenliste, also insgesamt sechs Listen geben. Diese sechs Listen in eine Gesamtliste zu vereinigen, ist aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht sinnvoll, aber natürlich können (und sollten) sie in einem gemeinsamen Dokument versammelt sein.
Verwandlung eines Bewertungs- in ein Beobachtungsproblem
Zugewinn an Klarheit und Orientierung
Der größte Nutzen einer solchen Indikatorenliste ist ein erheblicher Zugewinn an Klarheit und Orientierung: Danach versteht nicht nur jeder Einzelne wesentlich klarer, was die Ziele und Erwartungen sind, sondern es verstehen auch alle annähernd das Gleiche darunter. Auf diese Weise reduziert sich die Streubreite der Interpretationen innerhalb einer Gruppe oder Organisation erheblich, und es entsteht ein wesentlich besseres gemeinsames Verständnis und daraus auch eine höhere Synchronität des Handelns.
Beobachten statt bewerten
Philosophisch gesprochen, verwandelt die Indikatorenliste ein Bewertungsproblem (“Liegt Kundenorientierung vor?”) in ein Beobachtungsproblem (“Sind die verabredeten Indikatoren erfüllt?”). Das klingt abstrakt, aber es ist für die Praxis ein ungeheurer Vorteil. Denn Beobachtungsprobleme sind sehr viel leichter und eindeutiger entscheidbar als Bewertungsprobleme: Man muss dafür nur noch auf die Fakten schauen, aber nicht mehr diskutieren, wie die Lage einzuschätzen ist. Über die Fakten gibt es aber in aller Regel sehr viel weniger unterschiedliche Meinungen als über Bewertungen.
Beispiel Leistungsbeurteilung
Zum Beispiel bei einer konkreten Leistungsbeurteilung: Dann müssen Vorgesetzter und Mitarbeiter nicht mehr lange diskutieren, was der eine unter “Kundenorientierung” versteht und was der andere – sie brauchen nur noch gemeinsam die Indikatorenliste durchschauen und prüfen, ob die festgelegten Indikatoren erfüllt sind. Unterschiedliche Auffassungen kann es dann allenfalls noch darum geben, ob zum Beispiel die Antwortzeit tatsächlich unter dem festgelegten Wert lag, aber das ist nach aller Erfahrung kein wirkliches Problem, weil die meisten Mitarbeiter in Bezug auf die Fakten durchaus ehrlich sind – und die meisten Führungskräfte souverän genug, um aus kleinen Diskrepanzen kein Drama zu machen.
Selbstbewertung der Unternehmenskultur
Das Gleiche gilt, wenn es um die Bewertung einer Unternehmenskultur geht: Dann muss man ebenfalls nur die Indikatorenliste durchgehen und die festgelegten Indikatoren durchprüfen. Und falls es doch einmal unterschiedliche Auffassungen geben sollte, ist klar, was man zu tun hat: Dann muss man nur die Fakten recherchieren und prüfen, wie es in der betrieblichen Realität wirklich aussieht. Zugleich liefern die nicht erfüllten Indikatoren konkrete Ansatzpunkte für Verbesserungen. Und falls man in der Diskussion Schwachpunkte (oder auch Stärken) feststellt, die in der Indikatorenliste nicht abgedeckt sind, obwohl sie eindeutig zu dem angesprochenen Leitbegriff gehören, dann sollte die Liste sofort entsprechend ergänzt werden.
Fortlaufende Weiterentwicklung
Überhaupt sollte man solche Indikatorenlisten nicht als ein Werk verstehen, das nach seiner Fertigstellung für die Ewigkeit (oder zumindest für die nächsten fünf Jahre) gültig ist und keinerlei Veränderungen mehr erfährt. Vielmehr sollte man es als ein Arbeitsdokument verstehen, das fortlaufend fortgeschrieben, ergänzt und verändert wird, wenn sich die eigenen Erkenntnisse weiterentwickelt haben. Und zwar nicht, um die Ergebnisse nachträglich zu schönen, sondern um es auf dem Stand der Zeit zu halten, gemäß dem bewährten Grundsatz: Ein Dokument, das seit zwei Jahren nicht geändert wurde, kann wahrscheinlich gelöscht werden, weil es ohnehin niemand benutzt.
Literatur: Berner, Winfried (2019): Culture Change – Unternehmenskultur als Wettbewerbsvorteil. 2012, erweiterte Neuauflage 2019
Verwandte Themen: Misstrauen Widerstand durch Zustimmung Diplomatie Zielklarheit Zielkonsens
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Über den Autor
Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung.