Inhaltsverzeichnis:
Veränderung braucht Freiräume
Mörderischer Kostendruck
Von Kostendruck geplagte Manager und Unternehmer werfen hier zuweilen hitzig ein, dass es bei ihren Verschlankungs- und Kostensenkungsprogrammen nicht um Profitsteigerung, sondern um das nackte Überleben ginge. Falls das stimmt und nicht bloß ein Vorwand ist, um noch ein paar Prozente mehr herauszuquetschen, dann brennt lichterloh. Denn das Argument, dass Innovation und Veränderung ein Minimum an Zeit und Ressourcen benötigen, lässt sich ja nicht mit dem Hinweis widerlegen, dass diese Zeit nicht vorhanden ist. Wenn der Einwand also zutrifft, ist dies keine gute Nachricht – dann ist dieses Unternehmen auf dem besten Weg, seine Zukunft zu verspielen.
Denn in jedem Markt kann ja nur einer der Kostenführer sein, und der muss nicht nur äußerst effizient arbeiten, sondern auch eine günstige Kostenstruktur besitzen, wie sie in Hochlohnländern kaum zu erreichen ist. Alle übrigen haben nur dann eine Chance, wenn sie rechtzeitig auf eine Differenzierungsstrategie setzen, sich also entweder durch Innovationen oder durch Spezialisierung auf bestimmte Nischen von dem Kostenführer abheben. Je höher das Wasser aber steht, desto schwieriger wird es, die nötige Zeit und Kraft für eine strategische Neuausrichtung zu mobilisieren.
Lähmung durch Übereffizienz
“Nur eine Metapher”
In seinem lesenswerten Buch Spielräume bringt der amerikanische Projektmanagement-Guru Tom DeMarco eine treffende Metapher: Das altbekannte Geduldsspiel, acht Steine, die beweglich in einem Rahmen stecken, durch geschicktes Verschieben in die richtige Reihenfolge zu bringen.

Effizienzsteigerung
Übereifrige “Lean-Manager” erkennen hier auf den ersten Blick, dass in diesem Spiel ungenutzte Kapazitäten (“Slack”) stecken und dass damit ein erhebliche Effizienzsteigerungspotenzial besteht: Die Produktivität lässt sich mühelos um 11,1 Prozent steigern, wenn man auch das freie neunte Feld mit einem Stein füllt.
Abb.: Die Beseitigung der letzten Freiräume beseitigt zugleich jegliche Flexibilität
Der Preis der Optimierung
Allerdings hat diese Effizienzsteigerung ihren Preis, wie DeMarco lakonisch feststellt: “Ohne das leere Feld gibt es keine Möglichkeit mehr, die Quadrate zu bewegen”. Mit anderen Worten, die Folge von “Total Efficiency” ist der vollständige Verlust der Veränderungsfähigkeit. Damit wird die kurzfristige Effizienzsteigerung auf lange Sicht zur tödlichen Falle. Denn so optimal die Reihenfolge der Steine für die gestrigen und heutigen Anforderungen gewesen sein mag, so wenig ist das total effiziente System dazu in der Lage, sich an die Anforderungen von morgen anzupassen.
Allzu wenig ist ungesund
DeMarcos Analogie trifft präzise die Situation vieler Unternehmen heute: Sie sind so gnadenlos “gestreamlined”, dass sie nur noch geradeaus fahren können – wenn auch mit höchster Effizienz. Jedes Gramm “Fett” wurde weggeschnitten, jeder “Slack” beseitigt, jeder Spielraum wegoptimiert. Was die Sache oft noch verschlimmert, ist, dass die Prozesse in vielen Fällen gar nicht wirklich optimiert wurden, sondern dass nur das von einer Optimierung erhoffte Ergebnis im Vorgriff auf dessen Realisierung zum Maßstab für die Personalbemessung gemacht wurde, nach der diabolischen Logik: “Dann haben die Leute den nötigen Leidensdruck, um ihre Prozessen effizient auszulegen.”
Verhängnisvolle Hetze
Doch so funktioniert das natürlich nicht. Wer überlastet ist und unter Stress steht, denkt nicht über die Optimierung seiner Prozesse nach, sondern er folgt den gewohnten Pfaden und beeilt sich dabei, so gut er kann. Deshalb sind die betroffenen Bereiche allenfalls aus der der Ferne betrachtet effizient; in Wirklichkeit herrscht dort permanente Hetze, und alle Dinge, für die keine rasche Lösung parat ist, bleiben einfach liegen. Kundenbeschwerden oder -wünsche, die ein bisschen Zeit zum Nachdenken erfordern würden, fallen “hinten runter”, desgleichen interne Verbesserungen, ja selbst notwendige Wartungs- und Reparaturarbeiten, von Weiterbildung ganz zu schweigen. Infolgedessen steigen Verschleiß und Fehlerrisiko bei Menschen wie Maschinen. Angesichts der knappen Personaldecke werden nur hektisch die allenthalben aufflackernden Brände gelöscht, doch werden weder Prozesse optimiert noch Ineffizienzen und Fehlerquellen beseitigt: Zur Beseitigung der Brandursachen reicht weder die Zeit noch die Kraft.
Zu schlank zum Denken
Verhungernde Projekte
Bei Veränderungsvorhaben äußert sich dies zum Beispiel so, dass die betreffenden Projekte zwar noch – wenn auch unter einigem Ächzen – gestartet werden, dass sie aber nur sehr schleppend vorankommen, weil immer wieder Teammitglieder bei den Projektsitzungen fehlen oder die vereinbarten “Hausaufgaben” nicht gemacht haben. Da sie darüber selbst unglücklich sind, verbringen die Teams viel Zeit mit Entschuldigungen, Schuldzuweisungen und allgemeinem Klagen über die hohe Arbeitsbelastung. Wegen der wechselnden Besetzung beginnen die Meetings immer wieder “bei Adam und Eva”, was wiederum hochgradig frustrierend für diejenigen ist, die – bislang! – regelmäßig teilgenommen haben. Damit beginnt ein Teufelskreis: Während im Team Stimmung und Produktivität absacken, wächst der Druck von außen. Die Kollegen, die die Mehrbelastung für die projektbedingten Ausfallzeiten zu tragen haben, werden zunehmend ungeduldig, zumal sie kritisieren, dass “aus dem Projekt bislang wenig herausgekommen ist.” Das wiederum erhöht den Druck auf das Projekt und führt schließlich oft zu dessen Zerfall oder zu seinem “sanften Einschlafen”.
Mangelnde Reaktions-fähigkeit
Aber auch operativ geht diese mörderische Effizienz höchstens so lange gut, bis die erste Kurve kommt. Dann kommt die ganze übereffiziente Maschinerie von der Straße ab – oft, ohne dass es die überlasteten Betreiber überhaupt bemerken. Denn im Zuge des Effizienzwahns wurden meistens auch die Ressourcen für eine rasche Korrektur von Fehlentwicklungen eingespart: Diejenigen, die das Problem als erste bemerken – wie etwa der Vertrieb oder die Reklamationsbearbeitung –, finden keine Ansprechpartner, weil diejenigen, die theoretisch für die Korrektur zuständig wären, weder die Zeit noch die Ressourcen haben, sich darum zu kümmern. Das ändert sich erst, wenn es im Rückspiegel grün ist und man sich der Erkenntnis nicht mehr entziehen kann dass man die Straße verlassen hat. Erst dann, viel zu spät, setzt hektische Betriebsamkeit im Management ein, und das nächste “Effizienzsteigerungsprogramm” wird ausgerufen.
Wachsende Abhängigkeit von Beratern
Das ist eine wunderbare Nachricht für Berater. Denn wenn ein Unternehmen vor lauter Effizienz nicht mehr dazu in der Lage ist, sich aus eigener Kraft an veränderte Markt- und Wettbewerbsbedingungen anzupassen, können notwendige Veränderungen nur noch mit externer Hilfe realisiert werden. Beraterherz, was willst du mehr, möchte man da sarkastisch fragen: Erst verdient man daran, dass man seine Kunden effizient bis zur Handlungsunfähigkeit macht; ab dann kassiert man munter weiter, weil die Kunden vor lauter Effizienz ihre eigene Zukunft nicht mehr gestalten können. Wobei besonders erfreulich ist, dass die Beratungsaufträge größer und lukrativer werden, weil sie erst bei massiven Problemen gestartet werden und zweitens wegen interner Überlastung nur schleppend vorankommen. Dumm eigentlich nur, dass dieses Vergnügen etwas einseitig ist.
Einplanen von Freiräumen
Verhungernde Projekte
Es führt kein Weg daran vorbei: Innovation, Optimierung und Veränderung erfordern Freiräume. Wer schon mit dem Tagesgeschäft am Anschlag ist, denkt nicht über die Zukunft nach. Andererseits zeigt die Erfahrung der Vergangenheit, dass alleine die Existenz von Freiräumen noch keine Innovation garantiert. Das Management von Freiräumen ist daher keine triviale Angelegenheit. In der guten alten Zeit, als die Reserven zumindest in vielen Großunternehmen und im öffentlichen Dienst noch reichlich waren, wurde zwar viel Zeit verplaudert, verschludert oder mit überkorrekt-bürokratischen Vorgängen verschwendet, aber es war zumindest genügend Puffer vorhanden, um Projekte mühelos als Zusatzaufgabe zum normalen Tagesgeschäft durchführen zu können. Heute hingegen ist die Personaldecke vielerorts so knapp bemessen, dass viele Projekte, wie oben beschrieben, auf halber Strecke verhungern.
Absorption durch das Tagesgeschäft
Um dem abzuhelfen, ist es nicht damit getan, die Personaldecke einfach etwas großzüger zu bemessen als es der Streamlining-Berater empfohlen hat. Nach unserer wiederkehrenden Erfahrung werden solche kleinen Reserven, gleich wofür sie vorgesehen waren, einfach vom Tagesgeschäft aufgesogen. Sie dienen als willkommende Entlastung, erlauben vielleicht einen etwas ausführlicheren Plausch, das Studium einer Betriebsanleitung oder die sorgfältigere Bearbeitung einer Reklamation – lauter Dinge, die zwar nicht verkehrt sind, aber auch keinen Beitrag zu der benötigten Innovations- und Veränderungsfähigkeit leisten.
Zwei Optionen
Im Grunde gibt es nur zwei Möglichkeiten, mit dieser Situation umzugehen: Entweder man bemisst die Freiräume so großzügig, dass ein einigermaßen stressfreies Arbeiten möglich ist. Oder, wenn das aus Kostengründen nicht geht, muss man die Innovations- und Veränderungsressourcen vom normalen Geschäft getrennt halten, die betreffenden Mitarbeiter also in einer anderen Organisationseinheit zusammenführen oder sie zumindest anderen Vorgesetzten unterstellen. Wer es sich leisten kann, sollte den ersten Weg wählen, denn der zweite bewirkt, dass wegen der Rollentrennung nicht mehr alle Erfahrungen aus dem Tagesgeschäft in die Gestaltung der Zukunft einfließen.
Ideal: 5 – 10 Prozent “Slack”
Wie viel Kapazität muss man für diese Freiräume kalkulieren? Nach meiner Meinung sind 5 – 10 Prozent “Slack” eine vernünftige Größenordnung. Dahinter steht folgende Überlegung: Im Idealfall sollte es ohne Beeinträchtigung des Tagesgeschäfts möglich sein, dass jeder Mitarbeiter einen halben Tag pro Woche nicht an seinem Platz ist. Das wären 10 Prozent seiner Kapazität. Auch wenn dies nur für jeden zweiten Mitarbeiter gilt, lässt sich noch einiges an Innovation und Veränderung nebenher betreiben – dann wären wir bei 5 Prozent. Alles, was deutlich darunter geht, wird nach unserer Erfahrung “vom System resorbiert”, insbesondere wenn die Arbeitsbelastung ohnehin hoch ist. Wer also mit weniger als 3 Prozent an Innovationsressourcen arbeiten muss, tut gut daran, die entsprechenden Mitarbeiter separat zu führen. Das Gleiche gilt für Firmen, in denen die Arbeitsbelastung pro Kopf in jüngster Zeit deutlich angestiegen ist: Solche Kulturen neigen dazu, alle zusätzlich zu Verfügung gestellten Ressourcen für die Reduzierung der noch unverdauten Mehrbelastung zu verbrauchen.
Aktives Management der “Veränderungsreserven”
Aktives Management der Reserven
Gleich welchen Weg Sie wählen: In beiden Fällen bieten die geschaffenen Freiräume zwar die Chance auf Innovation und Veränderung, aber noch lange keine Garantie dafür. Ohne aktives Management der Zusatzressourcen geht der Großteil davon ungenutzt verloren, trägt allenfalls dazu bei, ein bisschen Stress und ein paar Fehlerquellen aus dem Arbeitsalltag herauszunehmen. Was zwar nicht verwerflich ist, aber an dem eigentlichen Zweck der Aufstockung vorbei geht. Es ist daher wichtig, die freien Kapazitäten kontinuierlich mit Aufträgen zu füllen: mit einem Strom von kleineren, mittleren und großen Veränderungsprojekten, die nacheinander abgearbeitet werden können.
Veränderung als Normalfall
Dieses Vorgehen trägt auch der Tatsache Rechnung, dass Veränderungen in der betrieblichen Realität längst vom Ausnahmefall zum Normalfall geworden sind. Es ist zugleich der beste Weg, der verbreiteten Veränderungsmüdigkeit entgegenzuwirken. Sowohl die Mitarbeiter als auch die Geschäftsleitung müssen sich von der Vorstellung verabschieden, dass es einerseits Zeiten der Veränderung, andererseits Zeiten der Beständigkeit, der Konsolidierung, der Stabilität gibt. Seit Jahren kommt es immer seltener vor, dass Veränderungsprozesse in eine Konsolidierungsphase münden, in der man in (relativer) Ruhe die Früchte seiner Anstrengungen ernten kann. Stattdessen folgt einer Veränderungswelle die nächste, darauf mit geringem Abstand die übernächste, und in den letzten Jahren scheinen sich die Wellen zunehmen zu überlappen.
Planung kontinuierlicher Veränderung
Wenn es aber stimmt, dass wir in Zeiten ständiger Veränderung leben, dann wäre es eigentlich keine schlechte Idee, sowohl unser Denken als auch unsere Zeit- und Ressourcenplanung an diese Tatsache anzupassen. In der Konsequenz heißt das, das Management von Veränderungen aus dem Status des Sonderfalls herauszuholen und es zum Bestandteil der geschäftlichen Routinen zu machen. Dafür ist es nicht nur erforderlich, gewisse Ressourcen fest einzuplanen, sondern es ist auch notwendig, anstehenden Veränderungsbedarf routinemäßig zu erfassen, zeitlich zu planen und zu koordinieren. Anderenfalls entstehen schnell Engpässe – sowohl in der Mannschaft, wo alle auf dieselben Personen zurückgreifen, als auch an der Firmensspitze, wo sich Entscheidungsstaus bilden. So gemanagt, wird “Slack” zur aktiven Zukunftsstrategie.
Literatur
Literatur:
DeMarco, Tom (2001): Spielräume – Projektmanagement jenseits von Burn-out, Stress und Effizienzwahn
Verwandte Themen: Veränderungsmüdigkeit Verhungernde Projekte Kostensenkung
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Über den Autor
Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung.