HomeMethoden & WissenTop-Management & GeschäftsführungTop-Management & GeschäftsführungZielkonflikte: Der Traum von widerspruchsfreien Zielen
“Das Einzige, was ich mir einmal wünschen würde, wären klare, eindeutige und widerspruchsfreie Ziele!” – diesen Stoßseufzer haben wohl schon viele Managern ausgestoßen. So verständlich das ist, wenn sie sich wieder einmal mit konkurrierenden Zielen herumschlagen müssen – es zeigt zugleich, dass sie ihren Job nicht verstanden haben. Denn die zentrale Aufgabe von Managern besteht genau darin, konkurrierende Ziele gegeneinander auszubalancieren, also einen – nach Möglichkeit goldenen – Mittelweg zu finden. Schade nur, dass einem das keiner sagt, geschweige denn, es systematisch lehrt.

Die Sehnsucht nach widerspruchs-freien Ziele

… ist verständlich, aber unrealistisch

Dass Ziele widersprüchlich sind und häufig sogar in Konkurrenz zueinander stehen, das ist kein Planungsversagen und auch kein Beweis dafür, dass das Top-Management unfähig ist – es ist schlicht Teil der Realität, sowohl im Beruf als auch im Privatleben. Widersprüchliche und konkurrierende Ziele sind ein ständiger und unvermeidlicher Bestandteil des Lebens. Zugleich sind sie, wie der Augsburger Organisationspsychologe Prof. Oswald Neuberger schon vor Jahrzehnten brillant herausgearbeitet hat, der tiefere Grund dafür, weshalb Führungskräfte überhaupt benötigt werden. Gäbe es nicht die permanente Notwendigkeit, Zielkonflikte zu bewältigen, wären Manager problemlos durch Algorithmen zu ersetzen – und würden von ihnen in ihrer Leistung deutlich übertroffen.

Illusionen über Ziele

Nur ein einziges Ziel für das laufende Jahr

Was den Umgang mit Zielkonflikten zusätzlich erschwert, ist, dass uns in der Regel nicht alle unsere Ziele bewusst sind – und unseren Chefinnen oder Kunden auch nicht. Beginnen wir mit einem Beispiel aus dem privaten Bereich. Angenommen jemand sagt uns, ihr einziges Ziel für das laufende Jahr sei, eine bestimmte Prüfung mit einer Spitzennote zu bestehen. (Und nehmen wir weiter an, es wäre ausreichend klar definiert, was “Spitzennote” bedeutet, und die Prüfung sei terminiert, damit das Ziel als “SMART” durchgeht.) Sollten wir ihr glauben?

Unterordnung von allem anderen unter das eine Ziel

Falls die Betreffende das tatsächlich ernst meint, wäre die logische Konsequenz, dass sie das gesamte verbleibende Jahr ausschließlich der Prüfungsvorbereitung widmet. Kein Lernen rund um die Uhr, weil das lernpsychologisch kontraproduktiv wäre, aber die maximale Ausschöpfung der verfügbaren Zeit für den Zweck des Lernens. Arbeitspausen nur so lang, wie sie lernpsychologisch sinnvoll sind. Keinerlei andere Tätigkeiten, keinerlei Verabredungen mit Freunden und Bekannten, wenig Zeit für die Familie, erst recht keine Urlaubsreisen oder Ausflüge …

Lebensqualität war nicht das Ziel

Hört sich nicht nach hoher Lebensqualität an? Mag sein, aber das war ja auch nicht das Ziel: Das einzige Ziel für das laufende Jahr ist, wie klar und eindeutig gesagt, die fragliche Prüfung mit einer Spitzennote zu bestehen. Von Work-Life-Balance, sportlicher Betätigung, Fernsehschauen, Pflege sozialer Beziehungen, gelegentlichen “Zerstreuungen” und vielem anderen mehr war nicht die Rede. Einziges Ziel heißt einziges Ziel – kein anderes gibt es dann nicht.

Nicht mogeln!

Nun kann man natürlich argumentieren, all diese anderen Dinge brauche man, um optimal für eine schwierige Prüfung lernen zu können. Aber damit würde man sich in die Tasche lügen: Man würde kurzerhand zur lernpsychologischen Notwendigkeit erklären, was man in Wirklichkeit wegen ganz anderer Ziele und Bedürfnisse tut. Es mag ja sein, dass Urlaub, Ausflüge, Verabredungen auf lange Sicht unentbehrlich oder sogar lebensnotwendig sind, aber niemand kann ernsthaft behaupten, dass sie zwingend innerhalb der nächsten paar Monate stattfinden müssen, wenn tatsächlich das “einzige” Ziel darin besteht, eine Prüfung mit einer Spitzennote zu bestehen. Das wäre schlicht Selbstbetrug. Drama-Theater.

Immer weitere Ziele tauchen auf

Was wir hier in Wirklichkeit erleben, ist, dass hinter dem einen großen und vermeintlich einzigen Ziel plötzlich immer weitere Ziele aus dem Halbdunkel auftauchen, die der Betreffenden (bzw. uns) vorher nicht voll bewusst waren, ihr aber auf den zweiten Blick doch so wichtig erscheinen, dass sie nicht einmal für ein paar Monate ohne sie auszukommen glaubt. Wie sich herausstellt, hatte die Betreffende (und mit ihr vermutlich auch wir) stillschweigend die Annahme gemacht, ihr angeblich “einziges” Ziel ohne irgendwelche Abstriche an ihrer gewohnten Lebensweise und -qualität realisieren. Mit anderen Worten, ohne irgendwelche Abstriche an ihren zahlreichen anderen Zielen zu machen.

Selten sind uns alle unsere Ziele bewusst

Das neue Ziel konkurriert mit etlichen anderen

Das kann man so machen – aber dann ist die Spitzennote eben nicht “das einzige Ziel”. Im realen Leben sind solche naiven Zielsetzungen daher regelmäßig Auslöser lehrbuchmäßiger Zielkonflikte: Auf der einen Seite die Vorbereitung auf die Prüfung, auf der anderen Seite all die anderen Ansprüche an ein gutes oder zumindest angenehmes Leben, samt Urlaub, Ausgehen und all den anderen Annehmlichkeiten, mit denen man es sich im Laufe der Zeit komfortabel eingerichtet hat. Das heißt, in Wirklichkeit will die Betreffende ihr einziges – nein, ihr zusätzliches Ziel erreichen, ohne an all ihren übrigen Zielen Abstriche zu machen.

Wenig Zeit für das “einzige” Ziel

Der Haken ist nur: All diese angenehmen Dinge wie Fernsehkonsum, Kurzurlaube und lange Nächte mit Bekannten gehen, ob lernpsychologisch nützlich oder nicht, von der verfügbaren Lernzeit ab und schmälerten das Pensum, das in der verbleibenden Zeit durchgearbeitet werden kann. Und könnten wir unsere Lernende genauer beobachten, würden wir vermutlich den ein oder anderen Ausflug in Social Media, zu YouTube oder zum Kühlschrank entdecken – lauter Aktivitäten, die auch mit viel rhetorischem Geschick kaum lernpsychologisch zu rechtfertigen sind.

Unklare Ziele der Nebenaktivitäten

Wozu all diese scheinbar völlig unnützen Nebenaktivitäten? Welche Zwecke die Betreffende damit verfolgt, wo ihr einziges Ziel für das laufende Jahr doch angeblich in einer Spitzennote bei der Prüfung besteht, das ist ihr vermutlich selbst nicht vollkommen klar. Erst recht können wir ihre Motive nicht kennen. Da sie diese und manche anderen Dinge jedoch unbezweifelbar tut, statt sich ausschließlich auf das Lernen zu konzentrieren, muss sie irgendwelche un- oder vorbewussten Absichten damit verfolgen – welche, darüber können wir nur spekulieren.

Spekulationen über konkurrierende Ziele

Theoretisch könnte es sogar sein, dass sie durch diese zeitraubenden Nebenbeschäftigungen ihren eigenen Lernerfolg sabotieren will. So etwas gibt es tatsächlich, auch wenn es noch so unlogisch klingt. Es würde heißen, dass sie neben ihrem bewussten und deklarierten Ziel, der Spitzennote, ein zweites unbewusstes Ziel verfolgt, das dem ersten direkt entgegengesetzt ist. Das könnte zum Beispiel dann der Fall sein, wenn sie sich vor den möglichen beruflichen oder privaten Konsequenzen einer Spitzennote fürchtet.

Konkurrenz von kurzund langfristigen Zielen

Wahrscheinlicher ist aber, dass wir es hier mit einem typischen Konflikt zwischen kurz- und langfristigen Zielen zu tun haben – und für solche Konflikte ist es charakteristisch, dass allzu oft die kurzfristigen gewinnen: “Eigentlich” – das ist das längerfristige, übergeordnete Ziel – möchte ich abnehmen, aber im Moment – kurzfristiges Ziel – kann bzw. will ich der Sahnetorte nicht widerstehen. Eigentlich will ich meine Fitness verbessern, aber heute habe ich überhaupt keine Lust auf Sport. Eigentlich bin ich felsenfest entschlossen, zu lernen, aber bevor ich diese mühselige Tätigkeit in Angriff nehme, will ich “nur noch ganz kurz” meine Social-Media-Accounts checken.

Was Aufschieben so verlockend macht

Was macht den “ganz kurzen” Social-Media-Check so verlockend? Vielleicht, dass er hilft, die befürchtete Qual des Lernens noch ein klein bisschen hinauszuschieben. Und/oder dass er dazu dient, sich schon vorab für sein Heldentum, sprich, den heroischen Entschluss zum eisernen Lernen, zu belohnen. Je mühsamer, anstrengender, quälender einem das bevorstehende Lernen in der eigenen Fantasie erscheint, desto größer die Motivation, es zu vermeiden – wenigstens noch ein Bisschen. Dahinter steht letztlich ebenfalls ein Zielkonflikt, nämlich die Angst vor dem Lernen, die uns ein Ausweichen nahelegt, zum anderen das (vermutlich unbewusste) Ziel, sich nicht zu viel Anstrengung zuzumuten und die eigene Komfortzone zumindest nicht zu weit zu verlassen.

“Einzige” Ziele sind in der Praxis bestenfalls Schwerpunkte

Überschätzung der verfügbaren Ressourcen

Was wir in diesem Beispiel gesehen haben, ist der Normalfall, nicht die Ausnahme: Wir haben es im Leben und bei unserer Arbeit ständig mit einer Vielzahl von bewussten, vorbewussten und unbewussten Zielen zu tun. Deshalb überschätzen wir meist maßlos, was wir durch Konzentration auf ein “einziges” Ziel erreichen können. Würden wir unsere ambitionierte Lernwillige etwa fragen, wie viele Lernstunden pro Woche sie angesichts ihres Entschlusses glaubt, im verbleibenden Jahr aufbringen zu können, würde sie vermutlich eine viel zu hohe Zahl nennen. Und würden wir sie fragen, wie viel Stunden pro Woche sie in diesem Zeitraum mit Social Media, Filmchen und anderen Ablenkungen zu verbringen gedenkt, würde sie uns vermutlich irritiert ansehen und eine viel zu niedrige Zahl nennen.

Naive Ernsthaftigkeit

Kommen wir zurück auf unsere Ausgangsfrage: Sollen wir ihr glauben, wenn sie (oder irgendwer anderer) uns sagt, ihr einziges Ziel für einen bestimmten Zeitraum bestehe in einer Spitzennote (oder in was auch immer)? Was wir ihr wohl glauben können, ist, dass sie das wirklich so meint. Skeptisch wäre ich aber, ob sie tatsächlich bereit und entschlossen ist, starke Abstriche bei allen konkurrierenden Zielen zu machen. Vielmehr wäre ich nicht überrascht, wenn ihre unausgesprochene Annahme wäre, alle übrigen Gewohnheiten im Wesentlichen so beibehalten zu können wie bisher.

Von wegen Absage an alle übrigen Ziele

Dass die Festlegung auf ein einziges Ziel logisch zwingend eine Absage an alle übrigen Ziele oder zumindest deren deutliche Zurückstufung einschließt, das machen sich die wenigsten Menschen klar. Und wenn man sie darauf anspricht, wollen sie es meist auch nicht so verstanden wissen. Unter dem Strich heißt das aber: Das Bekenntnis zu diesem “einzigen” Ziel ist in vielen Fällen nicht mehr als der Hinweis auf eine Wunschvorstellung, deren volle “Kosten” man aber nicht wirklich bezahlen will.

Alle anderen Ziele dürfen darunter nicht leiden

In Unternehmen ist das nicht anders. Wenn etwa der Vertriebschef vollmundig ankündigt: “Unser einziges Ziel für das laufende Jahr ist, unser neues Produkt als Blockbuster im Markt zu etablieren”, will er damit normalerweise nicht sagen, dass ihm der Absatz aller übrigen Produkte in diesem Jahr gleichgültig ist. Und wenn das vorgeblich einzige Ziel des Vorstands ist, den Marktanteil um 50 Prozent zu steigern, heißt das keineswegs, dass beliebige Rabatte gegeben werden dürfen, weil der Deckungsbeitrag niemanden mehr interessiert.

Manchmal wird es dabei regelrecht paradox: “Das ist unser erstes und einziges Ziel, aber alle übrigen Ziele dürfen darunter selbstverständlich nicht leiden!” – Man beachte das Wörtchen “selbstverständlich”. Es zeigt, wie markig man eine Parole ausgeben und sie im gleichen Satz ad absurdum führen kann.

Hauptziele sind bestenfalls Schwerpunkte

In der Realität sind Haupt- oder gar “einzige” Ziele im günstigsten Fall Schwerpunktziele. Kein Mensch und keine Firma kann es sich leisten, zugunsten eines einzigen Ziels alle anderen hintanzustellen. Außer vielleicht, wenn es nur noch darum geht, eine Insolvenz abzuwenden: Dann ist Liquidität tatsächlich das eine und einzige Ziel, selbst wenn man dafür das Familiensilber “liquidieren” muss.

Das Optimum ist mehr als es scheint

Unter normalen Umständen hat man es immer mit einem ganzen Sack voll Zielen zu tun, und das vermeintlich “eine und einzige” ist bestenfalls der momentane Schwerpunkt. Das klingt ernüchternd, ist aber bei genauerer Betrachtung mehr als es scheint: Falls wir es, gleich ob im Beruf oder im Privatleben, tatsächlich schaffen, einen substanziellen Anteil unserer Zeit und Energie für ein Schwerpunktziel freizumachen und (!) an den meisten anderen gewisse Abstriche zu machen, werden wir alleine dadurch schon mehr erreichen als die allermeisten Menschen. Das ist in aller Regel auch schon das Optimum: Mehr geht meistens nicht, jedenfalls nicht ohne starke Nebenwirkungen.

Zielkonflikte sind normal und unvermeidlich

Zielkonflikte unvermeidlich

Die ständigen Zielkonflikte sind ausdrücklich kein “menschliches Versagen”. Sie sind auch nicht die Folge schlechter Führung, mangelnder Selbstdisziplin oder der fehlenden Fähigkeit, Prioritäten zu setzen. Vielmehr reden wir über eine Grundtatsache des Lebens – und es lebt sich leichter, wenn man sich ihrer bewusst ist: Dass wir es beruflich wie privat nämlich ständig mit einer Vielzahl von konkurrierenden und zum Teil widersprüchlichen Zielen zu tun haben. Unsere zentrale Herausforderung ist daher in aller Regel nicht, uns für eines davon zu entscheiden, sie besteht darin, sie sinnvoll zu priorisieren und einen annehmbaren Weg zu finden, sie unter einen Hut zu bringen.

Kaum ein Ziel ist verzichtbar

Das wird am deutlichsten, wenn man seine Ziele einmal auflistet und sich fragt, welche davon man aufgeben könnte oder möchte. Hier eine vermutlich unvollständige Liste:

Eine Auswahl persönlicher Ziele - welche sind verzichtbar?

Abb.: Eine Auswahl persönlichen Ziele – wie viele sind verzichtbar?


Wenn ein Ziel alles beherrscht


Volle Konzentration auf ein einziges Ziel - zu Lasten aller übrigen Ziele



Abb.: Volle Konzentration auf ein einziges Ziel – zu Lasten aller übrigen Ziele


Es geht nicht ohne


Man kann das tun – ich will solche Lebensentscheidungen nicht verächtlich machen. Trotzdem muss ich feststellen: Mir wäre das zu eng und einseitig. Doch wer “des Lebens ganzer Fülle teilhaftig werden” will, erkauft sich dies unweigerlich mit Zielkonflikten.


Da tröstet es vielleicht, dass sich auch Eremiten irgendwann um Nahrung kümmern und dass selbst knallharte Karrieristen irgendwann ihre Wäsche waschen müssen, wenn sie nicht wegen unangenehmer Gerüche Karrierenachteile erleiden wollen. Auch wenn sie diese Tätigkeit, clever wie sie sind, delegieren, müssen sie doch erst jemanden finden, an den sie sie delegieren können, und wenn der oder die Betreffende abspringt, müssen sie, ohne dies lange aufzuschieben, Ersatz finden. Zielkonflikte, wohin man schaut.


Mit der Zahl der Ziele steigen die Zielkonflikte


Die Zahl der Zielkonflikte steigt mit der Zahl der Ziele, die man verfolgt – und dies nicht bloß linear: Theoretisch kann jedes Ziel mit jedem anderen Ziel zumindest zeitlich in Konkurrenz geraten. Das heißt, mit jedem zusätzlichen Ziel kommen rechnerisch so viele Zielkonflikte hinzu, wie bereits Ziele vorhanden sind. Praktisch sind nicht alle gleich relevant, aber die Menge der verbleibenden reicht in aller Regel aus, um uns auf Trab zu halten.

Zielkonflikte heißt Kompromisse


Allerhöchste Priorität

Die logische und unvermeidliche Folge von Zielkonflikten ist, dass wir, gleich was wir versuchen, nicht allen Zielen zu 100 Prozent gerecht werden können. Klar können wir einem Ziel – wie etwa der Karriere – die allerhöchste Priorität einräumen. Aber dann bleibt für alle anderen Ziele – Freizeit, Geselligkeit, Sport, generell für das, was wir unter “Lebensqualität” verstehen – halt nur, was übrig bleibt.


Abstriche sind logisch und unvermeidlich

Wem das nicht reicht, weil es unseren Mindestansprüchen an Lebensqualität nicht genügt, hat keine andere Wahl als, Abstriche an seinem Hauptziel zu machen. Dabei hilft es, sich einzugestehen, dass es in Wahrheit eben nicht das einzige Ziel ist, sondern nur eines unter etlichen, wenn auch vielleicht ein besonders wichtiges. Das heißt in der Konsequenz auch, dass wir diesem Ziel eben nicht 100 Prozent Einsatz widmen werden und daher wohl auch nicht das maximal Mögliche erreichen werden.


Niemand kann mehr als einem Ziel voll gerecht werden


Für die eigene Lebensqualität ist es elementar, sich klarzumachen: Es ist kein persönliches Versagen und erst recht kein Charakterfehler, wenn wir unsere Ziele in aller Regel nicht zu 100 Prozent erreichen. Vielmehr ergibt sich dies zwangsläufig aus der Natur und Logik von Zielkonflikten. Ein Ziel zu Lasten aller anderen zu verfolgen, ist in der Praxis selten die beste Lösung. Meistens ist es unter dem Strich besser, einen Kompromiss zu suchen, der allen Zielen, gewichtet nach ihrer Bedeutung, optimal gerecht wird. Wobei optimal eben genau nicht heißt: zu 100 Prozent, sondern bestmöglich – so gut, wie es unter den gegebenen Umständen eben geht.


Durchwursteln ist der Normalfall

Das heißt aber im Klartext: Der Kompromiss – oder, noch zugespitzter gesagt, das “Durchwursteln” – ist der einzig mögliche Umgang mit Zielkonflikten, gleich ob wir uns das eingestehen oder nicht. Sobald man mehr als ein Ziel verfolgt, sind Kompromisse buchstäblich alternativlos. Falls Sie also wieder einmal das Gefühl haben, nicht all ihren Zielen und guten Absichten gerecht geworden zu sein, müssen Sie sich weder ein schlechtes Gewissen machen noch über sich und die Welt verzweifeln: Anders ging es gar nicht.


Nicht alle Kompromisse sind gleich gut


Den optimalen Kompromiss finden


Dass wir unweigerlich Kompromisse machen müssen, heißt jedoch keineswegs, dass es “eh schon wurst ist” und alle Kompromisse gleich gut sind. Im Gegenteil: Es gibt ziemlich bescheidene Kompromisse, bei denen wesentliche Ziele auf der Strecke bleiben, und es gibt geradezu geniale Kompromisse, mit denen man einen kreativen Weg gefunden hat, mehr für seine Ziele zu erreichen als möglich schien.


Kreative Lösungen


Beispielsweise gelingt es manchmal, zwei oder noch mehr Ziele geschickt zu verbinden. Ein simples Beispiel ist, die beiden Ziele, seine Freunde oft genug zu sehen und einen schönen Ausflug zu machen, zu einem gemeinsamen Ausflug mit den Freunden zu kombinieren. Das ist nicht besonders kreativ und erst recht nicht genial, aber es erfüllt den Zweck, indem es zwei “To Dos” zu einem zusammenfasst. Meist spürt man in solchen Fällen sofort, wie es dadurch leichter wird: Man kommt so mit weniger Aufwand beiden Zielen näher als es zunächst aussah.


Analytisches Denken und Kreativität gefordert


Hier liegt die wirkliche Aufgabe und Herausforderung – und zwar nicht nur für Manager, sondern für jeden Menschen: Den optimalen (das heißt, den unter den gegebenen Umständen bestmöglichen) Kompromiss zwischen konkurrierenden Zielen zu finden, das ist mehr als Durchwursteln und mehr als eine halbwegs akzeptable Lösung, es ist der vielbeschworene “goldene Mittelweg” (der keineswegs immer in der Mitte liegt). Dies erfordert sowohl analytisches Denken als auch Kreativität. Und es erfordert den Mut, ein Mehr an Zielerreichung für möglich zu halten, nicht durch noch mehr Fleiß und Anstrengung, sondern durch pfiffige Ideen.


Hauptziele und Nebenziele


Die analytische Herausforderung liegt zum einen darin zu erkennen, welche Ziele kurz- und mittelfristig besonders wichtig sind, zum anderen – mindestens genauso wichtig! – auszuloten, was bei den weniger wichtigen Zielen das Minimum ist, was man tun oder erreichen muss, um keine Probleme zu bekommen. Ein simples Beispiel: Wer das Ziel hat, über aktuelle politische und regionale Ereignisse im Groben informiert zu sein, muss nicht unbedingt mehrere Zeitungen von vorne bis hinten lesen, aber er sollte ein oder zwei Quellen regelmäßig scannen, damit ihm nicht allzu viel durch die Lappen geht.


Akzeptables Minimum finden


Das Maximum zu definieren, ist keine Kunst – viel schwieriger ist, das gerade noch akzeptable Minimum zu finden. Das ist jedoch von großer Bedeutung, weil es Voraussetzung dafür ist, genügend Zeit und Kraft für die wirklich wichtigen Ziele verfügbar zu haben. Wer das richtige Minimum nicht findet, tut bei den nachgeordneten Zielen entweder zu wenig und bekommt dann Ärger, oder er investiert zu viel und verschwendet damit Zeit und Energie, die er besser für die wichtigen Ziele einsetzen würde.


Aktiver und mutiger Ausgleich der Ziele


Wünsche anderer Personen


Zu entscheiden, in welche Ziele wir wie viel Zeit und Kraft investieren wollen und sollen, hat auch einen emotionalen Aspekt: Wo immer von unserem Handeln andere Menschen betroffen sind, haben die Betreffenden ein Interesse daran, uns zu möglichst viel Einsatz für “ihr” Ziel zu veranlassen: Die Chefin möchte, dass man die anstehenden Arbeit unbedingt heute noch fertig macht, der Partner oder die Familie erwarten, dass man “rechtzeitig” nach Hause kommt, und die Steuerberaterin hat schon zweimal angerufen, weil noch Unterlagen fehlen. Lobbyarbeit für ihre jeweiligen Ziele machen alle “Stakeholder” dadurch, dass sie uns bitten, drängen, erinnern, moralisch unter Druck setzen – bis hin zur emotionalen Erpressung.


Wenn emotionale Erpressung funktioniert


Besonders anfällig dafür sind Menschen, die dazu neigen, es allen recht zu machen. Wenn ihnen jemand das Gefühl gibt, unzufrieden mit ihnen und dem Ausmaß ihrer Bemühungen zu sein, lassen sie alles andere stehen und liegen und tun, was in ihren Möglichkeiten steht, um die Betreffenden doch noch zufrieden zu stellen. Auf diese Weise lassen sie sich dazu nötigen, wesentlich mehr für die entsprechenden Ziele zu tun als sie es eigentlich vorhatten – was zwangsläufig zu Lasten anderer Ziele geht, denn der Tag hat halt mal nur 24 Stunden.


Es allen recht machen wollen


Es allen recht machen zu wollen, heißt zuverlässig, selbst zu kurz zu kommen


Abb.: Es allen recht machen zu wollen, heißt zuverlässig, selbst zu kurz zu kommen


Mitwirkung an der eigenen Erpressung


Es allen recht machen zu wollen, ist daher genauso zum Scheitern verurteilt wie das Bestreben, alle Ziele zu 100 Prozent zu erreichen. Nur bleiben in diesem Fall systematisch jene Ziele und Bedürfnissen auf der Strecke, bei denen niemand Druck macht, nämlich die eigenen: ein aussichtsreicher Weg in den Burnout. Das kann man unfair und rücksichtslos finden – andererseits kann man es den Leuten nicht verdenken, wenn sie ihren Einfluss für ihre Interessen nutzen. Statt sich daher als Opfer zu fühlen, ist es ratsam zu erkennen, dass jede Nötigung oder Erpressung nur dann funktioniert, wenn man sozusagen als Mittäter an der eigenen Erpressung mitwirkt.


In die Suche nach dem Mittelweg einbeziehen


Wer bereit ist, jeden Preis zu bezahlen, damit niemand unzufrieden oder böse mit ihm ist, wird unter Umständen einen sehr hohen Preis bezahlen müssen. Typischerweise den, dass die eigenen Ziele und Bedürfnisse unter die Räder kommen, was auf die Dauer leicht in “emotionale Erschöpfung” mündet. Wir sind aber frei, die Wünsche und Forderungen anderer, statt sie über unsere eigenen Bedürfnisse zu stellen, ausgewogen in die Suche nach einen optimalen Mittelweg einzubeziehen – und ihnen dann so viel Raum zu geben, wie es unseren eigenen Vorstellungen entspricht. Und dies auch ebenso freundlich wie deutlich zu kommunizieren. Und es auszuhalten, wenn sich die üblichen Verdächtigen dann erkennbar unbegeistert zeigen.


Die Herausforderung annehmen


Statt zu träumen, die Herausforderung annehmen


Halten wir fest: Statt dem unerfüllbaren Traum von eindeutigen und widerspruchsfreien Zielen nachzuhängen, ist es sinnvoller, das Ausbalancieren konkurrierender Ziele als zentralen Teil des eigenen Jobs und als wesentlichen Teil der eigenen Wertschöpfung zu verstehen. Statt mit der Widersprüchlichkeit zu hadern, ist entscheidend, die darin liegende Herausforderung positiv anzunehmen.


Manche Ziele stehen in direkter Konkurrenz


Beispielsweise ist es nützlich, sich klarzumachen, dass auch die beste Managerin des Universums keine Chance hat, zwei Ziele zu 100 Prozent zu realisieren, wenn sie in direkter Konkurrenz zueinander stehen. Wie etwa die Ziele, zum einen wichtige Projekte voranzubringen und für gute Ergebnisse zu sorgen, zum anderen Mitarbeiter weiterzuentwickeln.


Beispiel Performance vs. Entwicklung


Die besten Ergebnisse erzielt man, wenn man für seine Projekte erfahrene Mitarbeiter einsetzt, sprich solche, die ähnliche Aufgaben schon häufig gemacht haben. Das ist aber zugleich die Garantie dafür, dass sie sich kaum weiterentwickeln. Will man Mitarbeiter dagegen weiterentwickeln, muss man ihnen Aufgaben geben, mit denen sie noch keine oder nur wenig Erfahrung haben – was aber zugleich heißt, dass sie dann länger brauchen und ein höheres Fehlerrisiko haben.


Direkte Zielkonflikte


Manche Ziele stehen in direkter Konkurrenz und erfordern daher Kompromisse

Abb.: Manche Ziele stehen in direkter Konkurrenz und erfordern daher Kompromisse


Kompromiss statt Schlagseite

Ehrgeizige Projektleiter neigen oft zu einem “ausbeuterischen” Umgang mit ihren Teammitgliedern: Sie setzen sie vorzugsweise dort ein, wo sie viel Erfahrung haben, in der durchaus zutreffenden Einschätzung, dass sie so die besten Resultate und die höchste Kundenzufriedenheit erzielen – und den höchsten Bonus. Besonders verständnisvolle Projektleiter hingegen gefährden zuweilen ihre Projektergebnisse, weil sie zu vielen Mitarbeitern die Gelegenheit zum “Learning on the job” geben. Weder das eine noch das andere liegt im übergeordneten Interesse. Vielmehr gilt es, einen goldenen Mittelweg zu finden, der beiden berechtigten Anliegen gerecht wird.


Entlastung und Befreiung


Versteht und akzeptiert man, dass es in einem komplexen Zielraum nicht möglich ist, sämtliche Ziele zu 100 Prozent zu erfüllen, hat dies etwas Befreiendes: Dann kann und darf man sich lösen von dem ebenso unsinnigen wie aufreibenden Anspruch, allen Ziele voll zu erreichen, und kann sich stattdessen darauf konzentrieren, eine akzeptable, vielleicht sogar eine gute Balance zwischen den widersprüchlichen Zielen zu finden. Und darf mit Recht stolz sein, wenn man sie gefunden hat.


Offensiv mit Zielkonflikten umgehen

Mit Zielkonflikten offensiv umzugehen, heißt, sie aktiv zu erkennen und zu benennen. Dann kann man im Dialog mit den wesentlichen Beteiligten einen gangbaren Korridor bestimmen – und wo sinnvoll oder notwendig, auch auf eigene Faust. Zugleich braucht man auftretende Widersprüche, Friktionen und Konflikte nicht mehr persönlich nehmen: Sie sind – meistens – nicht Ihre Schuld, sondern einfach Teil Ihrer Aufgabe.


Die Essenz der eigenen Wertschöpfung

Nicht im perfekten Erfüllen jedes einzelnen Ziels liegt Ihre Wertschöpfung als Chefin oder Projektleiter, sondern darin, eine vernünftige Balance zwischen konkurrierenden Zielen herzustellen: Sicherzustellen, dass kein relevantes Ziel unter die Räder kommt, und zugleich dafür zu sorgen, dass möglichst viel Zeit und Energie auf die wichtigsten Ziele verwendet wird.


Literatur:
Neuberger, Oswald (1983): Führung als widersprüchliches Handeln
Psychologie und Praxis – Z. für Arbeits- und Organisationspsychologie Bd. 27


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Über den Autor

Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung

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