HomeMethoden & WissenVeränderungsstrategieVeränderungsmüdigkeit: Von wachsender Erschöpfung zu einer neuen Normalität
In jüngster Zeit tauchen immer mehr Studien auf, wonach die
Mitarbeiter vieler Unternehmen die ständigen Veränderungen satt
haben und darauf mit wachsender Frustration, Demotivation und abbröckelnder Identifikation
reagieren.
Diesen Überdruss erleben wir auch bei vielen unserer Kunden. Die
Frage ist, welche Schlussfolgerungen daraus abzuleiten sind.

Spürbare Ermattung

Kein Moratorium in Sicht

Sollten die Unternehmensleitungen dem vorwurfsvollen Unterton nachgeben und ein Moratorium für Veränderungsprozesse ausrufen? Selbst wenn sie wollten, könnten sie das gar nicht, weil es nicht in ihrer Macht steht. Denn wer aufhört, die Wettbewerbsfähigkeit seines Unternehmens voranzutreiben, der kann auch gleich seine Abdankung unterzeichnen. Insofern ähneln die Klagen über ständige Veränderungen denen über das Wetter: Sie ändern das Wetter nicht wirklich, aber sie machen den geplagten Seele Luft, finden breite Zustimmung und eignen sich damit gut als Gesprächseinstieg.

Anzeichen von Erschöpfung

Kein neues Phänomen …

In der vorherrschenden Veränderungsmüdigkeit mischt sich nach meinem Eindruck Neues mit Altbekanntem. In mittlerweile über 30 Jahren als Berater habe ich niemals eine Zeit erlebt, in der Mitarbeiter und Führungskräfte durchweg mit Begeisterung auf bevorstehende Veränderungen reagiert haben. Doch die Klagen und Einwände haben sich verändert. Während die zentrale Herausforderung in früheren Jahren häufig darin lag, den Mitarbeitern die Notwendigkeit für Veränderungen deutlich zu machen, ging es später mehr darum, weshalb schon wieder eine Veränderung anstehe und wann endlich wieder Ruhe einkehre. In letzter Zeit jedoch mischen sich zunehmend Züge von physischer und psychischer Erschöpfung in die Diskussionen.

… aber ein verändertes

Plakativ gesagt: Es geht nicht mehr (allein) darum, ob die Leute noch wollen, sondern es geht zunehmend darum, ob sie noch können. In dieser Situation hilft es nicht wirklich, auf die Notwendigkeit immer weiterer Veränderungen hinzuweisen, selbst wenn die im Wesentlichen unbestritten und unbestreitbar ist. Denn wenn jemand nicht mehr kann, nützt es nicht, ihm zu sagen: “Du musst aber!”

Spätfolgen von Streamlining

Zwei Ursachen scheinen mir ausschlaggebend für diese Erschöpfung. Zum einen haben sich viele Unternehmen in den letzten Jahren so weit “ge-streamlined”, dass sie kaum noch Ressourcen für Nachdenken und Weiterentwicklung haben. Sie können nur noch geradeaus fahren, das heißt, mit höchster Effizienz ihre heutigen Prozesse abspulen. Das geht gut bis zur nächsten Kurve; danach gilt: “Wenn es im Rückspiegel grün ist, haben Sie die Straße verlassen.” Dann steht die nächste hektische Restrukturierung an. Veränderungen erfordern nun einmal ein Mindestmaß an Ressourcen – wenn das nicht vorhanden ist, wird es schwierig.

Wahrnehmung der Realität

Die zweite Ursache hat mit der Wahrnehmung der Veränderungsrealität zu tun. Jeder kann, wenn ein attraktives Ziel in Sicht ist, über eine gewisse Strecke sprinten. Und jeder kann noch ein zweites und ein drittes Mal sprinten, wenn man ihm neue greifbare Ziele setzt. Doch irgendwann kommt der Punkt, wo die Leute erschöpft fragen: Wie lange soll das denn noch so weiter gehen? Lange halten wir das nicht mehr durch. Wann dürfen wir endlich einmal durchatmen?

Überholtes Denkmodell

Warten auf Stabilität und Konsolidierung

Wir arbeiten in unserem Umgang mit Veränderungen immer noch mit einem Denkmodell, das von der Realität längst überholt ist. Dieses Modell ist, dass es einerseits Zeiten der Veränderung, andererseits Zeiten der Beständigkeit, der Konsolidierung, der Stabilität gebe. Mit diesem Bild betrügen wir zunehmend sowohl uns selbst als auch unsere Mitarbeiter.

Immer neue Wellen

Die Realität ist: Ich habe kaum je Veränderungsprozesse erlebt, die in eine Konsolidierungsphase mündeten, in der man in (relativer) Ruhe die Früchte seiner Anstrengungen ernten konnte. Stattdessen folgte meistens einer Veränderungswelle die nächste, darauf mit geringem Abstand und manchmal überlappend die übernächste … (Was, nebenbei gesagt, auch die Erfolgsmessung zu einer fast unlösbaren Aufgabe macht.)

Von wegen “Refreezing”

Das altehrwürdige Phasenmodell von Kurt Lewin (1890 – 1941) mit “Unfreezing – Moving – Refreezing” ist, falls es je gegolten hat, hoffnungslos überholt. (Was angesichts der Tatsache, dass sein Urheber seit 70 Jahren tot ist, gewiss kein Vorwurf an ihn ist.) Dennoch: Ich habe in über 30 Jahren Change Management noch nie ein “Refreezing” erlebt, und ich bezweifle, dass das Zufall ist. Es ist daher an der Zeit, unseren Mitarbeitern und uns selbst die Wahrheit einzugestehen. Und die ist, dass Zeiten ohne Veränderung, wenn es sie überhaupt noch gibt, die absolute Ausnahme in unserem Berufsleben sein werden.

Veränderung ist der Normalfall

Wenn es aber stimmt, dass Veränderungen der Normalfall sind und nicht mehr die Ausnahme, dann müssten wir eigentlich zu einem fundamental anderen Management von Veränderungsprozessen kommen. Dann hat es keinen Sinn mehr, immer wieder zu sprinten und auf eine anschließende Ruhepause zu hoffen – das würde, da diese Ruhepause nicht kommt, in den sicheren Burn-Out münden. Dann müssen wir nicht nur unsere Kräfte anders einteilen, im Grunde müssten das ganze Spiel mit anderen Augen betrachten. Vermutlich müssten wir eher in Richtung Intervall-Training denken.

Ein notwendiger Paradigmenwechsel

Strukturen und Prozesse

Mit einer veränderten Einstellung zu Veränderungen ist es nicht getan. Das erforderliche Umdenken reicht tief in die Strukturen und Prozesse hinein. Viele heutigen Strukturen gehen unausgesprochen davon aus, dass größere Veränderungen die Ausnahme sind und relative Stabilität die Regel. Da das empirisch einfach nicht (mehr) stimmt, passen Strukturen und Abläufe nicht mehr zur Realität. Erforderlich wäre, die ständigen Veränderungen in unseren Strukturen und Prozessen abzubilden, statt sie, wie bisher, als vermeintliche Ausnahme auszublenden.

Beispiel Automobilindustrie

In einigen Bereichen ist dies längst gelungen, etwa bei Automobilunternehmen. Sie haben einen Modellzyklus von etwa 5 – 7 Jahren – in diesem Abstand kommt ein neuer Golf, eine neue S-Klasse und eine neue 5er-Reihe heraus. Die daraus entstehenden Veränderungen, die zyklisch das ganze Unternehmen durchziehen, sind vorhersagbar – und sie sind heute fest eingeplant.

Hilfe, wir brauchen ein neues Modell!

Man darf aber davon ausgehen, dass das nicht immer so war. In der automobilen Frühzeit dürfte ein Unternehmen wie Ford irgendwann einmal festgestellt haben, dass seine alte Baureihe, das Modell T, in die Jahre gekommen war und sich nicht mehr gut verkaufte – worauf hektisch ein Projekt eingerichtet wurde, um ein neues Modell zu entwickeln. Einige Jahre später mag sich das gleiche Drama erneut abgespielt haben – bis man schließlich entdeckte, dass sich dieses Drama nicht zufällig wiederholt, sondern wesentlicher Bestandteil des Geschäfts ist.

Von einer Krise zum Teil der Jahresplanung

Also hat man die wiederkehrende Krise durch die entsprechende Ausrichtung von Strukturen und Prozessen “gezähmt”. Man hat einen Bereich “Entwicklung” aufgebaut, dessen Job darin besteht, in regelmäßigen Abständen neue Modelle bereitzustellen, und man hat das gesamte Unternehmen, aber vor allem Produktion und Vertrieb, an die regelmäßigen Modellwechsel gewöhnt. Heute sind Modellwechsel immer noch stressig, aber sie sind keine Krise mehr. Stattdessen sind sie fester Teil der Jahresplanung, dem man mit einer Mischung von Nervosität und freudiger Erregung entgegenblickt.

Neue Normalität

Spannend ist die psychologische Auswirkung dieses “Paradigmenwechsels”: Was vorher die Ausnahmesituation war, wurde zur neuen Normalität. Nach dem Umdenken weiß man eben, dass alle paar Jahre die nächste Welle kommt, und stellt sich darauf ein. Natürlich ist jeder Modellwechsel mit Stress verbunden, mit Nervosität, ob alles gut geht und man an alles gedacht hat, mancherorts auch mit Panikattacken und vorbeugenden Schuldzuweisungen. Aber die große Überraschung und das lähmende Krisengefühl sind weg – die wiederkehrende Veränderung ist zur professionellen Routine geworden.

Veränderung zum organisatorischen Normalfall machen

Veränderungsbedarf erkennen

In ähnlicher Weise sollten wir die Umstellung auf “Veränderung als Normalzustand” anpacken. Das beginnt damit, anstehenden Veränderungsbedarf nicht nur zu erkennen, sondern ihn systematisch zu erfassen, zeitlich zu planen und zu koordinieren. Sonst entstehen rasend schnell Engpässe – sowohl in der Mannschaft, wo drei Projekte plus Tagesgeschäft gleichzeitig an den gleichen Personen zerren, als auch an der Unternehmensspitze, wo anderenfalls die klassischen Entscheidungsstaus entstehen.

Ressourcen bereitstellen

Es geht damit weiter, Ressourcen – Geld, aber vor allem Zeit – für Veränderungen einzuplanen und bereit zu stellen. (Und sicherzustellen, dass sie nicht vom Tagesgeschäft absorbiert werden.) Denn wenn es stimmt, dass ständige Veränderungen der Normalfall sind, wäre es naiv, anzunehmen, sie ständig “nebenher” bewerkstelligen zu können: Die Entwicklung neuer Automodelle kann eben nicht von Produktion und Marketing “nebenher” erledigt werden, man hat dafür zu Recht einen eigenen Bereich Entwicklung geschaffen, der wegen seiner Bedeutung für den langfristigen Geschäftserfolg typischerweise sogar ein eigenes Vorstandsressort ist. Um kontinuierlich anfallende Change-Prozesse handhabbar zu machen, müssen Kapazitäten zu deren Planung, Steuerung und Realisierung bereitgestellt werden.

In Führungsprozesse integrieren

Schließlich müssen die Führungs- und Planungsprozesse auf ständige Veränderung ausgerichtet werden. Denn auch wenn die Entwicklung dafür verantwortlich ist, neue Modelle zu entwerfen, zu planen und serienreif zu machen, die Idee ist ja nicht, dass sie sie dann auch produziert und vermarktet. Also müssen sich alle anderen Ressorts, die mit den neuen Modellen befasst sein werden, rechtzeitig auf den Modellwechsel einrichten: Der Einkauf muss die Lieferanten rechtzeitig darauf vorbereiten, welche Teile künftig nicht mehr benötigt und welche stattdessen gebraucht werden, die Umstellung der Produktionsumstellung muss geplant, die Werbung konzipiert und der Vertrieb sowie die Werkstätten geschult werden …

Anstehende Veränderungen einplanen

Das darf um Himmels willen nicht dazu führen, Planungsprozesse noch komplexer und formalistischer zu machen – vielmehr geht es darum, die anstehenden Veränderungen samt der dafür anfallenden Aufwände und Kosten in die Planung aller Ressorts zu integrieren, statt, wie es so oft geschieht, nur die Resultate einzuplanen und die gesamten übrigen Veränderungsprozesse unkoordiniert parallel zu der eigentlichen Geschäftsplanung laufen zu lassen. Denn sonst sind Konflikte mit dem Tagesgeschäft und die entsprechenden Reibungsverluste unausweichlich.

Konsequenzen aus der eigenen Erkenntnis ziehen!

So betrachtet, hat die wachsende Veränderungsmüdigkeit wohl auch eine Ursache, die selten erkannt und bekannt wird: Dass nämlich viele Unternehmensleitungen, obwohl sie oft predigen, dass ständige Veränderungen längst zum Dauerzustand geworden sind, selbst noch nicht in voller Tragweite begriffen haben, was das bedeutet, oder noch nicht die organisatorischen und planerischen Konsequenzen aus dieser Erkenntnis gezogen haben. Denn wenn sie das ernst nehmen, dann ergibt es keinen Sinn mehr, das Konzipieren und Realisieren von Veränderungen als Zusatzaufgabe zu behandeln, die man mal der einen Führungskraft, mal der anderen Mitarbeiterin parallel zum Tagesgeschäft aufs Auge drücken kann.

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Über den Autor

Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung

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