Inhaltsverzeichnis:
- 1 Teambuilding bewirkt keine Integration
- 2 Die Konfrontation ergibt sich aus den Rahmenbedingungen
- 3 Sachorientiert, schnell und mit möglichst wenig Schmerzen
- 4 Voraussetzung sind klare Verhältnisse
- 5 Ein bisschen Vergangenheitsbewältigung muss sein
- 6 Weshalb gute Absichten eine Eskalation nicht verhindern
- 7 Drei wirksame Gegenmaßnahmen gegen die Polarisierung
- 8 Neutrale Moderation nützlich
- 9 Teamentwicklung im Prozess
- 10
- 11 Kostenfreies Erstgespräch
Teambuilding bewirkt keine Integration
Keinerlei persönlichen Spannungen
Machen wir uns zuallererst die Ausgangslage klar. Bei den Mitarbeitern und vor allem den Führungskräften der beiden fusionierenden Firmen ist bei der Post-Merger-Integration die Anspannung hoch. Das Konfliktpotenzial ist groß – aber es rührt nicht daher, dass die Beteiligten ein persönliches Problem miteinander hätten. Wären sie sich bei einem offenen Seminar oder einer Tagung “auf neutralem Boden” begegnet, würden sie sich möglicherweise glänzend verstehen, zumindest aber problemlos miteinander auskommen. Was sie in eine Konfrontation zueinander bringt, ist nichts Persönliches – es ist die Konkurrenzsituation, in die sie durch die Fusion oder Übernahme geraten sind.
Die Konfrontation ergibt sich aus den Rahmenbedingungen
Objektive Konkurrenzsituation
Denn durch die bevorstehende Verschmelzung stehen sie in vieler Hinsicht im Wettbewerb: bei der Besetzung der Führungspositionen, bei der Realisierung der angestrebten “Synergieeffekte”, bei der Bestimmung der Spielregeln, die künftig für die Zusammenarbeit gelten, bei Produktbereinigungen und Systemintegrationen und nicht zuletzt bei der Frage, wer in dem fusionierten Unternehmen weiter vorankommt und wer aufs Abstellgleis geschoben wird. Diese Konkurrenzsituation lässt sich nicht dadurch beseitigen, dass man gemeinsam um ein Lagerfeuer sitzt, sich gegenseitig von der Vergangenheit erzählt oder Teambuilding-Gymnastik miteinander macht, gleich ob Indoor oder Outdoor.
Ähnlich feindlichen Armeen
In gewisser Weise ist die Ausgangslage – ich wähle diese Metapher sehr bedacht – so ähnlich wie wenn “feindliche” Armeen aufeinandertreffen: Die jungen Kerle, die sich da schwer bewaffnet und mit unendlich viel Angst in den Knochen als “Feinde” gegenüberstehen, haben persönlich überhaupt nichts gegeneinander. Sie beschießen sich nur deshalb, weil sie “zufällig” in unterschiedlichen Staaten geboren wurden und sich von der jeweils anderen Seite bedroht sehen. Nicht persönliche Antipathien sind die Ursache der Feindseligkeiten, es sind allein die Rahmenbedingungen, unter denen sie aufeinandertreffen. Sprich, durch die lebensgefährliche Situation, in die sie ihre oberste Führung gebracht hat.
Die Rahmen bedingungen sorgen für Polarisierung
Wollte man angesichts der Konfrontation zweier Armeen die Gefahr einer blutigen Schlacht bannen, dann wäre es eine groteske Idee, lagerübergreifende Teambildungsprogramme mit den “feindlichen” Soldaten und Offizieren durchzuführen, mit dem Ziel, dass sie sich besser kennen- und verstehen lernen und auf einer persönlichen Ebene Vertrauen zueinander entwickeln. Die einzige Chance zur Verhinderung tödlicher Gefechte liegt darin, an den Ursachen der militärischen Konfrontation anzusetzen und die politisch Verantwortlichen dazu zu bewegen, ihre Differenzen durch Verhandlungen beizulegen, statt eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld zu suchen.
Kennenlernen beseitigt die Konkurrenz nicht
Nach einer Fusion oder Übernahme Teambuilding-Events zur Integration zu veranstalten, ist vom Ansatz her kaum weniger naiv und albern, als derartige Workshops mit “feindlichen” Offizieren durchzuführen. Zwar würden diese Offiziersworkshops, wenn sie halbwegs geschickt gestaltet sind, unweigerlich mit der Erkenntnis enden, dass die von der anderen Seite auch nur ganz normale Menschen sind: sympathische und weniger sympathische, umgängliche und Büffel. Aber das alles würde nichts daran ändern, dass sie im sogenannten Ernstfall auf der Gegenseite stünden und man daher auf sie schießen müsste, genau wie die anderen es auch es täten.
Wer infolge der Teambuilding-Erfahrungen Skrupel hätte, auf diese ganz normalen, sympathischen und umgänglichen Menschen zu schießen, die die eigene oberste Heeresleitung als “Feind” bezeichnet, hätte, evolutionsbiologisch gesehen, einen Selektionsnachteil gegenüber denen auf der anderen Seite, die weniger Hemmungen haben abzudrücken. Und umgekehrt.
Brutal? Ja. Aber Realität.
Sachorientiert, schnell und mit möglichst wenig Schmerzen
Die Vorgabe erzeugt die Konfrontation
Nun ist ein Merger kein Krieg – auch wenn er sich für die Betroffenen ähnlich anfühlt. Entsprechend sind auch die Deeskalationsstrategien andere als bei einer militärischen Konfrontation.
Auf Verhandlungen auf der “politischen Ebene” braucht man hier keine Hoffnungen zu setzen: Sie haben ja bereits stattgefunden – und sind mit einem Ergebnis zu Ende gegangen, dass gerade der Auslöser der Konfrontation ist: Man hat sich für eine Fusion oder Übernahme entschieden, bei deren Realisierung im Zweifel substanzielle Synergieeffekte erzielt werden sollen. Mit anderen Worten, die bevorstehenden Einschnitte sind keine bedauerlichen “Verluste”, sie sind das Ziel: Es sollen Strukturen und Prozesse “verschlankt”, Systeme zusammengeführt und nicht zuletzt Stellen abgebaut werden.
Möglichst schmerzarm
Der Konflikt ergibt sich in diesem Fall nicht aus einem Streit darüber, ob eine Fusion erfolgen soll, sondern aus der Entscheidung für deren Realisierung. Dementsprechend liegt der Schlüssel zur Vermeidung einer Eskalation hier nicht in Verhandlungen, er liegt in einer guten Gestaltung des Integrationsprozesses. Gut gestaltet ist der Prozess dann, wenn die Integration sachorientiert, zügig und ohne unnötige Schmerzen erfolgt. Dazu können Integrations-Workshops durchaus einen Beitrag leisten, sofern sie auf die richtigen Themen fokussiert sind. Und das heißt vor allem: Wenn sie darauf angelegt, zügig sachorientierte Entscheidungen zu treffen.
… ganz ohne Schmerzen wird es nicht gehen
Bitte beachten Sie die Formulierung: “Ohne unnötige Schmerzen” heißt nicht ohne Schmerzen. Denn das wäre kein erfüllbares Versprechen. Wenn ein Projekt, ein Produkt oder ein System eingestellt wird, in das Sie jahrelang viel Energie und viel Herzblut investiert haben, tut das weh. Wenn Sie die Position verlieren, in die Sie erst vor kurzem befördert wurden, und entweder gar keine Stelle angeboten bekomme oder nur eine weniger attraktive, verursacht das ebenfalls Schmerzen. Doch derartige Schmerzen sind im Zuge einer Integration nicht immer zu vermeiden. Unvermeidlich wird es Überschneidungen zwischen den fusionierenden Unternehmen geben, und die wird man kaum bestehen lassen können und wollen, vielmehr will man genau dort die vielbeschworenen Synergieeffekte heben.
Sachorientierung und Schnelligkeit
Umso wichtiger sind die beiden anderen Kriterien, nämlich Sachorientierung und Schnelligkeit. Wenn sich schon der Schmerz nicht vermeiden lässt, den unangenehme Entscheidung unweigerlich auslösen, lässt sich doch die Qual einer langen Zeit der Ungewissheit erheblich verkürzen. Für die Frage, ob Menschen eine für sie negative Entscheidung akzeptieren können, spielt zudem eine wichtige Rolle, ob diese Entscheidung nach sachlichen Kriterien erfolgt ist oder ob sie nach Willkür, Vetternwirtschaft und alten Seilschaften riecht. Oder gar zum Himmel stinkt.
Voraussetzung sind klare Verhältnisse
Voraussetzung: Stellenbesetzung
Die ersten Integrationsworkshops können und sollten beginnen, sobald die Stellenbesetzungen im Wesentlichen durch sind. Man wird dabei nicht auf die letzten Einzelfälle warten können, die sich aus irgendwelchen Gründen verzögern; jedoch man kann erst dann sinnvoll miteinander arbeiten, wenn die Verhältnisse im Wesentlichen geklärt sind.
Vorbedingung für Verbindlichkeit
Solange man weder weiß, ob man in drei Wochen noch einen Job hat, noch, wer von “den anderen”, die mit in der Runde sitzen, bei dem nächsten Meeting noch dabei sein wird, ist es unmöglich, produktiv zu arbeiten. Verbindliche Verabredungen kann man erst treffen, wenn einigermaßen sicher ist, dass diejenigen, die heute um den Tisch sitzen, auch diejenigen sind, die in sechs Wochen dort sitzen werden.
Stellenbesetzung muss höchste Priorität haben
Das heißt in der Konsequenz: Eine zügige Stellenbesetzung hat in der Anfangsphase einer Integration allerhöchste Priorität, weil (fast) alles Weitere davon abhängt. Um die unzähligen Sachthemen und Entscheidungen im Zuge einer Integration voranzubringen, braucht man personelle Stabilität. Denn wenn die Besetzung wechselt, gehen viele Diskussionen beim nächsten Mal wieder von Neuem los.
Vorbedingungen für die Stellenbesetzung
Allerdings gibt es für die Stellenbesetzung ebenfalls Prämissen: Um sie vornehmen zu können, muss die künftige Organisationsstruktur stehen, und dafür wiederum muss die künftige strategische Ausrichtung klar sein. Zum Glück sind beides Weichenstellungen, die man bei einer professionellen Vorbereitung der Integration schon sehr früh treffen kann. Dementsprechend sollten sie beim “Closing” unter Dach und Fach sein bzw. nur noch formal bestätigt werden müssen.
Ein bisschen Vergangenheitsbewältigung muss sein
Rückblick und Abschied von der alten Welt
Bei dem ersten Workshop mit der neuen Mann- und Frauschaft sollte man nicht zu viel Zeit mit “Vergangenheitsbewältigung” zubringen – aber ein bisschen doch. Ein Rückblick auf alte Zeiten und Abschied von der alten Welt sind sinnvoll, um das Vergangene hinter sich lassen und nach vorne schauen zu können. Allerdings muss man darauf achten, dass dieser Schritt nicht ungewollt polarisierend verläuft und etwa in die unterschwellige Botschaft mündet: “Wir sind erstens ganz anders und zweitens viel besser als ihr, und deshalb wollen wir drittens auch niemals so werden wie ihr!” Deshalb bedarf es eines durchdachten Vorgehens.
Rückblick auf Vergangenheit
Das erste Ziel sollte sein, herauszuarbeiten und zu benennen, was die bisherige Firma ausgezeichnet hat, worauf man stolz war und was man an ihr geschätzt hat. Eine gute Möglichkeit für das Vorgehen ist, sich über diese und ähnliche Fragen in zunächst im Kreis der alten Kolleginnen auszutauschen und die wichtigsten Ergebnisse zusammenzutragen. In einem zweiten Schritt informiert man die neuen Kolleginnen darüber, wie man die alte Firma erlebt hat und worauf man stolz war.
Gegenseitig über die Vorgeschichte informieren
Das soll in einer ruhigen, freundlichen, nachdenklichen Atmosphäre erfolgen, etwa so, wie wenn man einen zurückliegenden Lebensabschnitt bilanziert. Sich über diese Dinge auszutauschen, ist für ein besseres gegenseitiges Kennenlernen nicht bloß nützlich, sondern sogar ausgesprochen wertvoll – so wie es bei neuen Bekannten wertvoll ist, wenn man ein bisschen was über ihre Lebensgeschichte erfährt.
Kein Vergleichen, keine Gegenüberstellung der Kulturen
Bewusst verzichtet werden sollte hingegen auf ein Gegenüberstellen und Vergleichen der Kulturen. Denn das mündet schnell in eine kontraproduktive und polarisierende Besser-Schlechter-Diskussion. Und es gibt auch keine Notwendigkeit dafür. Man würde, wenn man sich den Lebensweg neuer Bekannter erzählen lässt, ja auch nicht in eine Debatte darüber einsteigen, wer den besseren Lebensweg hatte: Man kann beide nebeneinanderstellen, sie aufmerksam registrieren und einfach so stehen lassen.
Um dennoch eine Beziehung zwischen den beiden Kulturen herzustellen, ist eine gute Möglichkeit, dass man reihum jede einzelne Teilnehmerin bittet, ein Merkmal der jeweils anderen Kultur zu benennen, dass sie ansprechend findet und gerne in die neue gemeinsame Kultur integrieren würde.
Attraktive Merkmale der anderen Kultur
Dabei gilt die Regel: Jede/r aus der Runde nennt genau ein Merkmal, nicht zwei oder drei. Die Aussagen dürfen nicht ironisch, sarkastisch oder sonst wie mehrdeutig sein. (Wenn Einzelne gar kein Merkmal finden, dass sie nennen können oder wollen, dürfen sie auch schweigen – das ist besser als “erzwungene” positive Rückmeldungen. Was hingegen nicht zulässig ist, ist, stattdessen ein Merkmal zu benennen, das man auf keinen Fall übernehmen möchte.)
Blick nach vorn
So viel “Nabelschau” ist durchaus von Nutzen. Mehr als anderthalb oder zwei Stunden sollte eine solche Rückschau allerdings nicht in Anspruch nehmen. Dann, gegebenenfalls nach einer etwas längeren Pause, muss sich der Blick nach vorne richten: Auf das zügige, sachorientierte Treffen der Entscheidungen, die diese Gruppe treffen kann und muss, damit die Integration vorankommt.
Weshalb gute Absichten eine Eskalation nicht verhindern
Hohes Polarisierungs-potenzial
Das Problem ist nur, dass all diese Sachentscheidungen ein unerwartet hohes Polarisierungspotenzial haben. Denn wie auch immer die Fragestellung lautet: Was die beste Entscheidung ist, hängt in starkem Maß davon ab, welche Kriterien man zugrunde legt. Und welche Kriterien man zugrunde legt, ist wiederum bestimmt davon, wie man die Welt sieht und worauf man besonderen Wert legt – auf Schnelligkeit oder auf Fehlerlosigkeit zum Beispiel. Dies jedoch ist letztlich von der Unternehmenskultur geprägt, der man angehört. Unterschiedliche Kulturen haben daher unterschiedliche Maßstäbe dafür, was die beste Entscheidung ist.
Konträre Vorstellungen
Auch ohne irgendwelche taktischen Spielchen ist deshalb erstens zu erwarten, dass beide Seiten häufig völlig unterschiedliche Lösungen als die beste Entscheidung ansehen werden. Zweitens (und noch schlimmer) werden sie überhaupt nicht einsehen, wieso “die von der anderen Seite” völlig andere Lösungen als die besten ansehen und überhaupt nicht einsehen wollen, dass nicht ihr, sondern der eigene Vorschlag die beste Lösung ist. Denn für beide Seiten ist die eigene Sichtweise unbezweifelbar die richtige: Sie können nicht verstehen, wie jemand, der bei klarem Verstand ist, das anders sehen kann.
Verdacht der Unehrlichkeit und taktische Spielchen
Spätestens wenn sich solche unerwarteten und unverständlichen Kontroversen zum dritten Mal wiederholen, kommt bei den ersten der Verdacht auf, dass die andere Seite nicht ehrlich spielt, sondern taktisch-politisch argumentiert, um ihre Interessen durchzusetzen. Da sie davon auch durch Ermahnungen, Appelle und gutes Zureden nicht abzubringen ist, verändert sich das Gespräch schleichend von einer kooperativen Suche nach der optimalen Lösung zu einem Kampf um die Durchsetzung der eigenen Vorstellungen und Interessen.
Aus subjektiver Sicht ist das durchaus logisch: Wenn die andere Seite für (aus der eigenen Sicht) rationale Argumente nicht zugänglich ist, sondern stattdessen auf ihren “irrationalen” Positionen beharrt, ist das ärgerlich und empörend. Und dann wird es leider notwendig, sich mit gleichen Mitteln zur Wehr zu setzen. Zu allem Übel erlebt die andere Seite das genauso. Deshalb steckt in der unschuldigen Frage nach der “besten Sachentscheidung” ein großes Potenzial für Polarisierung, Lagerbildung und Eskalation – auch ohne die geringste böse Absicht.
Eigendynamik und “Clash der Kulturen”
Die Tragweite dieser Dynamik ist kaum zu unterschätzen. Sie hat zur Folge, dass der gefürchtete “Clash der Kulturen” heimtückischerweise auch dann droht, wenn eigentlich beide Seiten bester Absicht sind, nach der optimalen Sachlösung zu suchen – und zwar einfach deshalb, weil sie, ohne es zu merken, kulturbedingt mit unterschiedlichen Maßstäben an die Sachfragen herangehen.
Dabei erkennen sie unglücklicherweise in der Regel nicht, dass es ihre eigenen Sichtweisen, Präferenzen und kulturellen Prägungen sind, aus denen ihre unterschiedlichen Vorstellungen von der besten Lösung entstehen. Stattdessen gehen sie stillschweigend davon aus, dass ihre Sicht auf die Welt nicht nur die richtige ist, sondern die einzig logische.
Verdacht finsterer Absichten
Deshalb reagieren sie mit zunehmender Befremdung und wachsendem Misstrauen auf die Erfahrung, dass die anderen häufig anderer Meinung sind: Sie können sich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Gegenpositionen oft wider alle Logik eingenommen werden. Daher liegt es für sie nahe zu vermuten, dass dahinter etwas ganz anderes steckt, nämlich eine gut getarnte, aber knallharte Interessenpolitik.
Zu allem Übel wird dieser Verdacht noch dadurch erhärtet, dass es in Integrationen tatsächlich immer wieder auch Versuche gibt, eigene Interessen durchzusetzen. Für die zunehmend misstrauisch gewordenen Parteien ist dies der endgültige Beweis, dass die andere Seite nicht fair spielt. Die logische Konsequenz erscheint da geradezu zwingend, nämlich, “aus reiner Notwehr” zu ähnlichen Mitteln zu greifen.
Drei wirksame Gegenmaßnahmen gegen die Polarisierung
Die fatale Dynamik transparent machen
Zwei Maßnahmen sind besonders geeignet, dieser destruktiven Fehlentwicklung entgegenzuwirken oder ihr zumindest die Spitze zu nehmen. Erstens hilft es, die fatale Dynamik transparent zu machen, bevor(!) man in die inhaltlichen Diskussionen einsteigt. Das heißt in der Praxis, der Gruppe genau diese Dynamik zu erklären – oder sie idealerweise sogar durch eine spielerische Übung erlebbar zu machen. Die Mechanismen sind ja eigentlich nicht schwer zu verstehen, und wenn man sie kennt und verstanden hat, schaltet das ihre Wirkung zwar nicht völlig aus, aber man erkennt sie zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit bei sich selbst und anderen wieder.
Kriterien benennen und transparent machen
Zweitens ist es ratsam, als eiserne Regel festzulegen, dass zu Beginn einer jeden Diskussion über anstehende Entscheidungen als erstes die Kriterien und Maßstäbe explizit herausgearbeitet und benannt werden, nach denen diese Entscheidung getroffen werden soll. Also beispielsweise: Von welchen Kriterien sollten wir es abhängig machen, welche Produkte wir streichen und welche wir fortführen? Von welchen Kriterien sollten wir es abhängig machen, für welche Prozesse und Systeme wir uns entscheiden?
… auch wenn sie scheinbar offensichtlich sind
Manchmal scheint das so offensichtlich, dass dieser Zwischenschritt vielen Beteiligten völlig überflüssig erscheint. Machen Sie ihn trotzdem – eisern und ausnahmslos! Denn wenn die Kriterien tatsächlich so klar sind, kann es ja auch nicht viel Zeit kosten, sie aufzuschreiben. Und an einem Bogen Flipchart-Papier sollte es auch nicht scheitern. Nicht selten stellt sich jedoch heraus, dass die Kriterien zwar allen Beteiligten glasklar sind – dass es aber leider nicht die gleichen Kriterien sind, die ihnen klar sind. Dann war dieser Schritt elementare Krisenprävention: Sonst wären sich die Beteiligten angesichts ihrer unterschiedlichen Maßstäbe binnen kürzester Zeit in die Haare geraten.
Gründe für unterschiedliche Gewichtungen transparent
Die Transparenz der Kriterien kann nicht verhindern, dass beide Seiten intuitiv trotzdem unterschiedliche Bewertungen vornehmen oder zumindest unterschiedlichen Gewichtungen angebracht finden. Aber sie bringt diese Unterschiede frühzeitig ans Tageslicht und verhindert, dass sie unerkannt und unter der Decke zu einer fortschreitenden Polarisierung der Diskussion führen: Es ist ein Unterschied, ob man sich über die Kriterien geeinigt hat und nur darüber diskutiert, wie sie bewertet und gewichtet werden sollten, oder ob die Beteiligten ihrer Argumentation unausgesprochen unterschiedliche Kriterien zugrunde legen. Im letzteren Fall werden sie sich immer weiter zerstreiten – einfach weil sie nicht verstehen, wie die andere Seite so borniert sein kann, auf einer völlig unhaltbaren Sichtweise zu beharren.
Um Erklärungen bitten, statt Schleifen zu fliegen
Ein drittes Instrument ist nützlich, um einer Polarisierung entgegenzuwirken – auch wenn es in der Hitze des Gefechts nicht leicht ist, es einzuhalten. Aber manchmal merkt man ja selbst, dass man nur noch dabei ist, mit wachsender Frustration die gleichen Argumente zu wiederholen. Spätestens dann lohnt es sich, statt einer nutzlosen weiteren Schleife die andere Seite um eine Erläuterung und Erklärung ihres Standpunkts zu bitten: Woran genau macht ihr fest, dass die eine Variante besser ist als die andere? Welche Kriterien und Maßstäbe, welche Denkweise und Logik steckt dahinter? Nicht immer, aber in vielen Fällen führt dieses vertiefende Ausleuchten zu einem besseren Verstehen und macht es möglich, bisher unausgesprochene Annahmen explizit und damit diskutierbar zu machen.
Neutrale Moderation nützlich
Von Misstrauen blockiert
Trotz alledem steht für alle Beteiligten so viel auf dem Spiel, dass diese Diskussionen fast unweigerlich streckenweise in einem angespannten, nervösen Klima verlaufen. Unterschwellig ist das Misstrauen spürbar, ob “die anderen” ehrlich spielen oder ob sie tricksen. Das macht die Gespräche extrem mühsam: Manche Teilnehmer sind von der Angst, über den Tisch gezogen zu werden, so gelähmt, dass sie selbst auf sinnvolle, pragmatische Vorschläge mit Abwehr reagieren und so selbst zu Blockierern werden.
Klassische Moderation: “Neutralität”
In solchen Situationen kann es sehr hilfreich sein, wenn eine wohlwollende neutrale Person, die keiner der beiden Seiten angehört, die Moderation übernimmt. Das kann eine klassische Moderatorin sein, die sich aus den Inhalten völlig heraushält, sich um Neutralität bemüht und sich ausschließlich auf den Diskussionsprozess konzentriert, also zum Beispiel Vorschläge zum Vorgehen macht, Wortmeldungen verwaltet, Zwischenzusammenfassungen gibt etc. Dies entspricht am ehesten der häufig geäußerten Forderung nach “Objektivität” und “Neutralität” des Moderators, krankt aber daran, dass es Objektivität und Neutralität nicht gibt, weil Moderatorinnen oft auch dann eine Meinung zu den beteiligten Personen und Argumenten haben, wenn sie sie klugerweise nicht offen äußern.
Am Interesse des Gesamtsystems orientierte Moderation
Nützlicher ist nach meiner Erfahrung und Überzeugung eine sachorientierte Moderation, die sich aus den Inhalten nicht komplett heraushält, sondern – zurückhaltend und unter Wertschätzung für alle Beteiligten und ihre Argumente – in der Sache mitredet, Vorschläge macht und Bewertungen anbietet, was nach ihrer oder seiner Meinung am besten den Interessen des Unternehmens insgesamt dient. Diese Art von Moderationsrolle ist nicht “unparteiisch”, sondern, wie man es in der Mediation nennt, “allparteilich”: Sie ist bestrebt, zu Entscheidungen beizutragen, die für das Gesamtsystem und damit für die Summe aller Beteiligten optimal sind (wenn auch nicht zwangsläufig für jeden einzelnen Beteiligten).
Neutrale Drittmeinung
Natürlich ist das ein schmaler Grat, denn eine Stellungnahme in der Sache ist unvermeidlich immer auch eine Stellungnahme zu einer geäußerten Meinung und der Person, die sie vertreten hat. Entsprechend wichtig ist es bei der Moderation, wertschätzend gerade mit den Meinungen und Personen umzugehen, denen man nicht beipflichtet. Trotzdem ist meine Erfahrung, dass die Stellungnahme eines kompetenten Dritten, der keine eigenen Interessen verfolgt und sich nur den Interessen des Unternehmens verpflichtet fühlt, allen Beteiligten hilft: Sie bietet ihnen sozusagen eine um Neutralität bemühte “Drittmeinung” an. Das macht es ihnen leichter, Vorschläge zu akzeptieren, die ihnen einerseits einleuchtend erscheinen, bei denen sie aber andererseits die Befürchtung haben, doch einen versteckten Haken zu übersehen und ausgetrickst zu werden.
Teamentwicklung im Prozess
Gefahr der Frontenbildung
Unweigerlich fördert es die Frontenbildung, wenn sich die beiden Seiten in den Gesprächen immer nur als Vertreter ihres jeweiligen Lagers gegenübersitzen. Eine klare Ansage des Top-Managements, dass es für sie seit dem Closing kein “Wir” und “Die” mehr gibt, sondern nur noch die neue gemeinsame Firma, wirkt dem entgegen und ist daher wichtig, auch wenn sie die reale Erfahrung häufiger divergierender Positionen nicht beseitigen kann. Deshalb ist es empfehlenswert, die häufig erlebte Gegenposition bewusst und gezielt durch Aktivitäten aufzulockern, die aus der Konfrontation herausführen.
Bewusste Förderung der Teambildung
Das können im einfachsten Fall gemeinsame Pausen und Mahlzeiten sein, sofern sich die Teams dabei mischen – worauf die Verantwortlichen daher bewusst achten sollten. Es können auch Teambuilding-Events sein, die durch externe Trainerinnen oder Moderatoren angeleitet werden. Eine oft unterschätzte, hohe Wirksamkeit hat aber auch, “gemischten” Unterteams gemeinsame Aufgaben zuzuweisen. Und zwar gerade dann, wenn diese Aufgaben so anspruchsvoll sind, dass sie die nur durch gute und intensive Zusammenarbeit gelöst werden können.
Zwang zur frontübergreifenden Zusammenarbeit
Tatsächlich bringt kaum ein Mittel die kulturelle Integration wirksamer voran als eine Notlage und die daraus resultierende unabweisbare Notwendigkeit zur Zusammenarbeit. Wenn man seine Haut – oder seine Reputation – nur durch ein gutes Ergebnis retten kann und ein gutes Ergebnis nur durch gute Zusammenarbeit zu erzielen ist, dann arbeiten (manchmal) sogar Feinde zusammen, in jedem Fall aber Menschen, die eigentlich gar nichts gegeneinander haben, sondern nur zufällig in unterschiedlichen Firmen “akkulturiert” wurden.
Vorteil gegenüber klassischem Teambuilding
Solch reale Not hat gegenüber Teambuilding-Übungen einen unschätzbaren Vorteil: Teambildung und die durch sie vermittelten Erlebnisse und Erfahrungen kann, wer möchte, als “Spielchen” abtun: Sie fanden ja in der Schutzzone eines Workshops statt und nicht unter dem realen Stress und den Interessenkonflikten eines Mergers. Wenn sich dagegen zwei Managerinnen zur Zusammenarbeit gezwungen sahen, weil sie nur so die Chance hatten, ein anspruchsvolles Ziel zu erreichen, an dem sie beide gemessen werden, und wenn sie dabei trotz gelegentlicher Schwierigkeiten feststellen, dass das sogar funktioniert, dann ist das eine Erfahrung, die man weder rückgängig machen noch wegdiskutieren kann.
Persönliche Konsequenzen
Deshalb halte ich es nicht nur vertretbar, sondern sogar für empfehlenswert, die Führungskräfte beider “Herkunftsländer” zur Förderung einer schnellen kulturellen Integration unter einen gewissen Erfolgsdruck zu setzen: Von ihnen zu fordern, dass sie Ergebnisse abliefern, die nur durch eine gute lagerübergreifende Zusammenarbeit zu erzielen sind. Man muss dabei nicht so weit gehen, ihnen für den Fall des Scheiterns explizit oder implizit mit dem Hinauswurf zu drohen, aber die Zielerreichung darf durchaus spürbare persönliche Konsequenzen für sie haben. Nur wenn die Zusammenarbeit das kleinere Übel ist als das Verfehlen der Ziele, ist die Kooperation für alle Beteiligten attraktiv genug, um eine Verhaltensänderung auszulösen. Und die Verhaltensänderung zieht dann ihrerseits – nach einer Weile – auch eine Veränderung der Einstellungen nach sich.
Knappheit hilft bei der Integration
Das hat eine Konsequenz, die unschön ist, aber trotzdem beim Namen genannt werden muss: Nämlich, dass Druck und Personalmangel die Integration fördern und eine zu großzügige Personalausstattung sie erschwert. Wenn jede Hand benötigt wird, um die anstehende Arbeit zu schaffen, dann ist man froh um jede und jeden, der mit zupackt. Entsprechend wenig Raum ist für “Spielchen”. Je mehr Personal hingegen zu Verfügung steht, desto eher kann man sich Ausgrenzungen und Ränkespiele leisten. Auch wenn es den Stress der Integration nicht mindert, ist Knappheit bei der Stellenbemessung daher die bessere Leitlinie als Generosität.
Keine “überzähligen” Kräfte im operativen Geschäft
Das gilt auch und erst recht im Bereich der Führungspositionen. Es klingt erst einmal sehr weitblickend, sich nicht von allen durch die Fusion überzählig gewordenen Führungskräfte sofort zu trennen, weil man in den Monaten danach erfahrungsgemäß mit einer erhöhten freiwilligen Fluktuation rechnen muss. Doch wenn man das tut, darf man die “überzähligen” Personen auf keinen Fall im operativen Geschäft belassen, sonst gibt es Mord und Totschlag. Stattdessen kann man sie beispielsweise für anspruchsvolle Sonderprojekte einsetzen, sie mit Übergangsprozessen betrauen – oder zur Not in ein Sabbatical schicken. Entscheidend ist, dass es keine unmittelbare Konkurrenz mehr gibt – und reichlich Arbeit.
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Vereinbaren Sie hier ein kostenfreies Erstgespräch! Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung.
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