Inhaltsverzeichnis:
Schädliche Vorzensur
Cleverer Schachzug zur eigenen Entlastung
Wunderwaffe “Was schlagen Sie vor?”
Die Forderung, dass Kritik konstruktiv sein müsse, gilt vielen Führungskräften als cleverer Schachzug, um die Mitarbeiter “zu lösungsorientiertem Denken zu erziehen” – und sich selbst Luft von der zuweilen destruktiven und entwertenden Kritik mancher Mitarbeiter zu verschaffen. “Was schlagen Sie vor?”, lautet denn auch die Standardfrage, die in manchen Führungsseminaren bis zum bedingten Reflex eintrainiert wird. Und in der Tat: Die so disziplinierte Kritik wird konstruktiver – und vor allem weniger. Während ersteres durchaus erwünscht ist, weist letzteres auf ein schwerwiegendes Problem hin.
Unausgesprochene Kritik
Denn was wird aus den Kritikpunkten, die auf diese Weise wegfallen? Die Probleme, auf die sie sich beziehen, verschwinden ja nicht, sie werden bloß nicht mehr ausgesprochen. “Ich sage lieber überhaupt nichts mehr,” ist das Fazit vieler Mitarbeiter, “denn am Ende hängt es von der Laune meines Chefs ab, was er konstruktiv findet und was nicht. Das ist mir zu riskant. Außerdem hat man, wenn man etwas sagt, hinterher meistens das ganze Thema an der Backe!”
Verlorene Chancen zum Lernen
Die Forderung nach konstruktiver Kritik mutiert, wie sich hier zeigt, zum taktischen Schachzug: Die Kritisierten definieren die Bedingungen, unter denen Kritik zulässig ist, und machen sich zugleich zur höchstrichterlichen Instanz in der Frage, ob sie zulässig (“konstruktiv”) war. Damit begibt sich der Kritisierende in die Hand des Kritisierten: Er läuft Gefahr, eine aufs Dach zu bekommen, wenn dem Kritisierten seine Kritik nicht gefällt. Die Folge ist das Verschwinden von Kritik: Weil viele Mitarbeiter die Falle “riechen”, halten sie von vornherein den Mund, auch wenn sie eigentlich nützliche Hinweise zu geben hätten – und enthalten damit dem Unternehmen die Informationen und Eindrücke vor, die sie zu beizutragen hätten und die möglicherweise durchaus wertvoll wären.
Wenn mit der Lösung auch das Problem verworfen wird
Das Kind mit dem Bade entsorgt
Doch die Verknüpfung von Kritik, also dem Ansprechen eines Problems, und der Forderung nach einem Lösungsvorschlag ist nicht nur bei “Gefahr im Verzug” fragwürdig, sondern generell. Denn in der Praxis wendet sich die Diskussion in 90 Prozent der Fälle sofort dem Lösungsvorschlag zu. Dabei kommt es natürlich vor, dass die vorgeschlagene Lösung verworfen wird – einfach weil sie zu wenig durchdacht, unpraktikabel oder zu aufwändig ist. Brisant ist nur, was dann passiert: In wiederum 90 Prozent dieser Fälle wird mit der untauglichen Lösung auch das Problem verworfen. Weil der Lösungsvorschlag ungeeignet war, wird auch das Problem für ungültig erklärt!
Unterdrückung von Frühwarnsignalen
Spätestens hier wird die Sache gefährlich. Denn nicht alle Probleme sind so nett, sich durch entschlossenes Ignorieren von selbst zu erledigen. Die meisten melden sich wieder, und zwar in aller Regel in verschärfter Form. Der kleine Knoten wird zur Krebsgeschwulst, der verlorene Auftrag zum Marktanteilsverlust, die Kostenüberschreibung zum Liquiditätsproblem. Durch die Forderung nach konstruktiver Kritik und das anschließende Verwerfen der Lösung samt dem Problem wird also in erster Linie Zeit verloren: Im Resultat wird die Forderung nach konstruktiver Kritik zur Unterdrückung von Frühwarnsignalen.
Keine Lösung? Trotzdem ein Problem!
Was die Sache noch brisanter macht, ist, dass auf diese Weise insbesondere die schwierigen Probleme verschleppt werden. Denn je simpler das Problem ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass den Mitarbeitern dazu brauchbare Lösungsvorschläge einfallen. Was im Umkehrschluss heißt, dass es gerade die heiklen, schwierigen, kritischen Probleme sind, zu denen im ersten Anlauf oft keine brauchbare Lösungsvorschläge kommen. Wenn der Vorgesetzte hier also “das Problem mit der Lösung ausschüttet”, rollt er damit Zeitbomben in den eigenen Keller. Und er nimmt sich selbst und dem Unternehmen die Möglichkeit zur frühzeitigen Reaktion und Schadensbegrenzung.
Problem und Lösung trennen!
Erste Frage: Wie gravierend ist das Problem?
Die Konsequenz daraus ist, Problembenennung und Lösungssuche strikt zu trennen. Die wichtigste Frage, wenn ein Mitarbeiter Kritik vorbringt, ist nicht, ob er auch einen Lösungsvorschlag hat und ob der Sinn macht, sondern ob das Problem tatsächlich existiert, und wenn ja, wie gravierend es ist. Falls das Problem gar nicht exisitiert oder belanglos ist, kann man sich auch noch so konstruktive Lösungsvorschläge sparen. Falls das Problem aber relevant ist, ist es auch dann relevant, wenn keine oder nur unbrauchbare Lösungsvorschläge vorliegen. Dann muss es ernst genommen und weiter bearbeitet werden – und zwar gerade dann, wenn noch niemand eine gute Idee für eine Lösung hat!
Zweite Frage: Wer ist für das Thema verantwortlich?
Die zweite wichtige Frage, wenn ein Problem benannt wurde, gilt immer noch nicht der Lösung, sondern der Verantwortlichkeit und “Zuständigkeit”: Wessen Job ist es, für diese Art von Problemen eine Lösung zu finden? Der entscheidende Schlüssel zur Abwehr von Rückdelegation liegt nicht in rhetorischen oder taktischen Tricks, sondern im Denken des Vorgesetzten. Denn es ist ja durchaus nicht so, dass er für alle Probleme der Menschheit sowie für deren Lösung allein zuständig ist. Infolgedessen muss er sich auch nicht jeden Schuh anziehen, der ihm von Mitarbeitern oder von Kollegen mit oder ohne ohne Hintergedanken hingehalten wird.
Statt also alle Last der Welt auf die eigenen Schultern zu nehmen, dürfen Sie als Vorgesetzter ruhig die Frage stellen: Wer wird hier im Hause eigentlich dafür bezahlt, diese Art von Problemen zu lösen? Wenn einer Ihrer Mitarbeiter für die Fragestellung zuständig ist, dann nehmen Sie ihn dafür in die Pflicht – und enthalten sich eigener Vorschläge auch dann, wenn Sie eine noch so brillante Idee haben! Denn mit dem Einbringen eigener Vorschläge beginnen Sie bereits, den zuständigen Mitarbeiter zu bevormunden und das Problem an sich zu ziehen – das ist der erste Schritt, es nicht mehr los zu werden.
Dritte Frage: Ist Unterstützung erforderlich?
Die dritte Frage, die Sie sich stellen sollten, lautet: Kann der zuständige Mitarbeiter das Problem alleine lösen oder braucht er Unterstützung? Im Regelfall sollte er alleine dazu in der Lage sein – anderenfalls wäre er in einem Job, der ihn überfordert. Doch gibt es komplizierte Problemlagen, in denen auch gute Mitarbeiter Unterstützung benötigen. Allerdings darf dafür ausschließlich das Kriterium ausschlaggebend sein, ob der Mitarbeiter die Hilfe tatsächlich benötigt – nicht, ob Sie als Vorgesetzter Lust hat, bei dieser Aufgabe “ein bisschen mitzumischen”.
Entmutigung durch unnötige Unterstützung
Im Normalfall sollte die Regel gelten, den Mitarbeiter mit seiner Aufgabe in Ruhe zu lassen, solange er nicht ausdrücklich um Unterstützung bittet, und die Unterstützung dann auch auf die Dinge zu beschränken, die der Mitarbeiter tatsächlich nicht selbst realisieren kann. Denn Unterstützung kann entmutigend sein, weil Sie dem Mitarbeiter durch Ihre Hilfe ja implizit ein Feedback übermitteln, wie Sie seine Fähigkeiten und seinen Leistungsstand einschätzen; außerdem nimmt man ihm die Möglichkeit, selbst seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Jemandem bei einer für ihn lösbaren Aufgabe zu helfen, kann daher hochgradig demotivierend sein.
Umgang mit entwertender, “vernichtender” Kritik
Entwertungstendenzen
Ein Grundproblem, das sicher mitverantwortlich ist für die große Popularität der Forderung nach “konstruktiver Kritik”, ist, dass viele Menschen (und damit auch viele Mitarbeiter und Kollegen) die Tendenz haben, in entwertender Weise zu kritisieren. Sie lassen kein gutes Haar an den Personen, Sachen oder Maßnahmen, an denen sie etwas auszusetzen haben, sondern äußern sich in einer sehr abschätzigen, oftmals geradezu vernichtenden Weise. Aus dieser “Alles-Scheiße-Grundhaltung” heraus werden die kritisierte Person zu “totalen Idioten”, Produkte werden als “absoluter Schrott” gebrandmarkt, Maßnahmen als “völlig hirnrissig”.
Mögliche Motive
Zu solch vernichtender Kritik neigen insbesondere Menschen, die mit sich selbst nicht im Reinen sind. Es ist schon etwas dran an dem Satz: “Man macht andere klein, um sie auf das eigene Niveau herunterzuholen.” Außerdem enthält solche Kritik meistens eine indirekte Botschaft an die Zuhörer. In Bezug auf die eigene Person kann das sein: “Schaut mal, wie hoch meine Standards sind und was ich für ein toller Hecht bin!” Oft ist es auch eine Anbiederung an den oder die Gesprächspartner: “Wir beide sind uns doch einig, dass das, was uns hier geboten wird, völlig ungenügend ist!” Und schließlich bilden sich nicht selten sogenannte “Lästerclubs”, in denen zwei oder mehr Personen sich völlig einig sind, welch schreckliche Versager doch alle übrigen sind. Oder, in Richtung moralische Überlegenheit getönt, dass die anderen zwar erfolgreicher sind, aber natürlich nicht wegen ihrer Fähigkeiten, sondern lediglich, weil sie ihr Fähnchen nach dem Wind hängen und auch sonst vor nichts zurückschrecken, was ihrem Erfolg dient.
Nervtötende Debatten
Für Vorgesetzte ist es schwierig, mit solch entwertender und destruktiver Kritik umzugehen. Das diplomatische Bemühen um leichte Relativierungen löst meist nur eine Bekräftigung und Emotionalisierung der Kritik aus. Wenn sie sich nicht mit den Aussagen solidarisieren wollen, müssen sich die Vorgesetzten deutlich abgrenzen. Oftmals beginnen sie daher spontan, die kritisierte Sache oder Person zu verteidigen – und finden sich unversehens in einer emotional polarisierten Debatte wieder, in der sie sich viel stärker auf die Seite der Verteidigung schlagen als sie eigentlich wollten und es ihrer wirklichen Meinung entspricht.
Rettende Sackgasse
Aus verständlichen Gründen möchte sich wohl jeder Vorgesetzte solche nervtötenden und destruktiven Diskussionen ersparen. Die Forderung nach konstruktiver Kritik erscheint hier als rettender Ausweg. (Was ja auch stimmen würde, wenn die oben beschriebenen Risiken und Nebenwirkungen nicht wären.) Was aber sind die Alternativen?
Konstruktive Haltung einfordern, nicht konstruktive Kritik!
Deutliches Feedback und Änderungswunsch
Die beste Alternative ist, diese Entwertungstendenzen mit dem betreffenden Mitarbeiter im Rahmen eines Feedbackgesprächs unter vier Augen deutlich anzusprechen, ihm klar zu machen, dass er mit seiner entwertenden Kritik dem Klima der Zusammenarbeit und damit indirekt auch sich selbst Schaden zufügt, und dies mit einem deutlichen Änderungswunsch zu verknüpfen. Machen Sie dabei deutlich, dass Kritik sehr wohl erwünscht ist, dass sie auch nicht unbedingt mit Lösungsvorschlägen verbunden werden muss (aber natürlich darf). Vor allem aber muss der Mitarbeiter lernen, dass Kritik darauf darauf zielen muss, Dinge oder Personen besser zu machen, und nicht darauf gerichtet sein darf, sie schlecht zu machen.
Die Gesinnung ist entscheidend
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass damit die “konstruktive Kritik” durch die Hintertür zurückkehrt. Das ist in der Tat nicht völlig falsch, aber mit einem entscheidenden Unterschied: Worauf es ankommt, ist nicht, dass “konstruktive” Lösungsvorschläge gemacht werden, sondern dass die Grundeinstellung, aus der heraus Kritik geübt wird, konstruktiv ist – das heißt, dass sie darauf abzielt, den anderen Menschen bzw. die gemeinsame Sache voranzubringen. Das klare Ansprechen eines Problems kann, selbst wenn es für die Adressaten äußerst unangenehm ist, ein sehr konstruktiver Akt sein (“Ihre Leistung entspricht in wesentlichen Punkten nicht dem was Sie zugesagt haben!”) – und zwar deshalb, weil es dem anderen ein deutliches Feedback gibt und ihm so dabei hilft, besser zu werden.
Konstruktive Gesinnung einfordern
Umgekehrt kann ein so genannter konstruktiver Lösungsvorschlag von seiner Absicht und Wirkung her destruktiv sein (“Ich wollte Ihnen vorschlagen, künftig erst einmal nachzudenken, bevor Sie den Mund aufmachen!”). Mit ein bisschen rhetorischem Geschick findet man immer eine Formulierung, mit der man jedes verdeckte Foul dekorativ als konstruktiven Lösungsvorschlag verkleiden kann. Aber genau um rhetorische Winkelzüge geht es nicht: Es geht darum, von allen Mitarbeitern (und natürlich erst recht von allen Führungskräften) eine konstruktive, wohlwollende Grundhaltung zu verlangen – und sie, wenn nötig, auch mit Nachdruck und Beharrlichkeit einzufordern.
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Über den Autor
Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung.