HomeMethoden & WissenPersonalPersonalFluktuation: Weshalb sie unmittelbar ergebnisrelevant ist
“Wir streben überhaupt keine niedrige Fluktuationsrate an”, hielt mir der HR-Manager eines Großkonzerns entgegen, “denn wir sind überzeugt, dass eine gewisse Fluktuation gut für unser Geschäft ist, weil sie frischen Wind in die Firma bringt.” Das klingt erst einmal überraschend und durchaus nicht unvernünftig. Das Problem ist nur: Die negativen Folgen einer hohen Fluktuation gehen nicht davon weg, dass man Fluktuation für erwünscht erklärt.

Ist ein gewisses Maß an Fluktuation wünschenswert?

Verlust von Produktivität

Aber was sind die negativen Folgen von Fluktuation? Das versteht man wahrscheinlich am besten, wenn man die Arbeit einer ausgeschiedenen Kollegin miterledigen bzw. als Vorgesetzte auf die übrigen Mitarbeiter verteilen muss. Oder wenn ein Vertriebsgebiet unbesetzt ist und dort keine oder nur die allernötigsten Kundenbesuche stattfinden. Oder wenn sich Kunden beschweren, weil sie nicht oder erst nach ärgerlich langer Wartezeit bedient werden. Oder wenn Arbeit schlicht liegenbleibt.

Unvermeidlich enstehen Produktivitätsverluste, wenn eine erfahrene und gut vernetzte Mitarbeiterin ausscheidet und – oft erst nach längerer Vakanz – durch eine neue ersetzt wird. Denn natürlich braucht die Neue, gleich wie lernfähig und lernwillig sie ist, erst einmal eine Weile, bis sie ihre Aufgaben und die für sie relevanten Arbeitsprozesse verstanden und “routinisiert” hat. Allein das reicht schon für eine “Produktivitätsdelle” von einem halben Jahr oder mehr.

Zusätzlicher Aufwand, der vom Kunden nicht bezahlt wird

Knüpfen eines Beziehungsnetzes

Noch länger dauert es, bis sie sich ein Beziehungsnetz aufgebaut hat, bis sie also beispielsweise genügend Leute in der Firma kennt, an die sie sich wenden kann, wenn sie Unterstützung oder eine Zuarbeit braucht. Zugleich kostet jede neue Kollegin ihre vorhandenen Kolleginnen ein Stück Produktivität, weil man ihr oftmals Dinge zeigen oder erklären muss – was auch dann Zeit kostet, wenn es bereitwillig gemacht wird. Dazu kommt, dass man sich nicht auf Zuruf versteht, sondern sich “zusammenraufen” und ein gemeinsames Verständnis entwickeln muss. Klar, das kann auch die Chance zu einem Neuanfang sein, wenn die Vorgängerin “schwierig” oder wenig kooperativ war. Aber das sind Ausnahmen; in den meisten Fällen ist es erst mal zusätzlicher Aufwand.

Aufmischen der Gruppendynamik

Aber das ist noch längst nicht alles. Jeder Wechsel bringt das betreffende Team aus der Balance und zwingt es, sich neu zu sortieren. Es durchläuft erneut, wenn auch in Kurzfassung, die klassischen Gruppenphasen des “Storming”, “Forming” und “Norming”, bevor es wieder ins “Performing” kommt, also die volle Arbeitsfähigkeit erreicht.

Denn jedes ausscheidende Mitglied hinterlässt ja eine Lücke: Es hatte neben seinen formalen Aufgaben auch eine bestimmte Rolle in der Gruppe – nun fehlt plötzlich diejenige, die zum Vorankommen drängt, oder der, der bei Konflikten mit einem kleinen Scherz etwas Spannung herausnimmt. Zugleich verändert jedes neue Teammitglied die Gruppendynamik ebenfalls, weil es eine eigene Persönlichkeit mitbringt und daher nicht einfach in die gruppendynamische Rolle des ausgeschiedenen Mitglieds schlüpft.

Bedarf, sich zusammenzuraufen

Also muss sich die Gruppe bzw. das Team erst einmal neu sortieren – was manchmal ziemlich schnell und reibungslos geht, manchmal aber auch länger dauert, etwa wenn das neue Teammitglied einem vorhandenen seine Rolle streitig macht und es daher zu einem Konflikt (“Storming”) kommt, der erst einmal in irgendeiner Weise geklärt werden muss.

Zusätzlicher Aufwand ohne Wertschöpfung

Man kann und darf das, wie der eingangs erwähnte HR-Manager, erfrischend finden – gerade wenn die internen Strukturen eines Unternehmens vielleicht etwas verknöchert sind. Aber das ändert nichts daran, dass es trotzdem zusätzlicher Aufwand ist, der Arbeitszeit und Energie kostet – und zwar für Aktivitäten, die im Sinne des Lean Management “Muda” sind: Verschwendung, die vom Kunden nicht vergütet wird. Deshalb schmälert Fluktuation den Erlös eines Unternehmens und erhöht und so den Kostendruck. Dem entgeht man nicht, indem man Fluktuation für erwünscht erklärt.

Erhöhte Unruhe

Bei ungewöhnlich hoher und/oder stark steigender Fluktuation kommen Effekte zweiter Ordnung hinzu. Die fortgesetzte Abwanderung von Leistungsträgern verunsichert die verbleibende Mannschaft, zumal unter Kolleginnen meist recht offen über die Gründe gesprochen wird, die in der Kultur und speziell in der Führungskultur liegen. Zugleich sie erschwert ihre Arbeit, weil verlässliche Partner wegfallen. Im schlimmsten Fall bringt sie laufende Projekte an den Rand des Scheiterns oder darüber hinaus, wie etwa in einem Fall, wo ein unersetzbarer Know-how-Träger unmittelbar vor der heißen Phase des Projekts seine Kündigung einreichte und zu einem Konkurrenten wechselte. “Sein” Projekt erholte sich davon nicht, es fiel förmlich auseinander.

Zunehmende Wechselwilligkeit

Je mehr gute Leute gehen, und je größer die Unruhe wird, desto mehr denken auch die Verbliebenen darüber nach, ob sie in dieser Firma weiter bleiben wollen oder sich einmal nach Alternativen umhören sollten. Sie werden ansprechbarer für Recruiter und attraktive Stellenanzeigen – was gewiss nicht in jedem Fall in einen “Abgang” mündet, aber in einer erhöhten Zahl von Fällen. Umgekehrt schlägt sich eine erhöhte Fluktuation oft auch in negativen Bewertungen in Job-Portalen nieder, weil die Abwanderer sich und anderen erklären wollen, warum sie gehen. Das erschwert die Personalbeschaffung.

Wie viel Fluktuation ist “gesund”?

Natürliche Fluktuation

Klar ist, dass die Fluktuation niemals bei null liegen kann: Beschäftigte gehen ja irgendwann in Rente. Manche können auch aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten, andere entdecken eine neue Berufung oder ziehen weg – aus welchen Gründen auch immer. Oder sie steigen in den Betrieb ihrer Familie oder ihrer Partnerin ein, machen sich selbständig oder beschließen, für eine Weile “auszusteigen” und die Welt zu erkunden: Die Gründe, weshalb Menschen kündigen, ohne dass dies seine Ursache in tatsächlichen oder empfundenen Missständen in ihrem derzeitigen Job hat, sind vielfältig.

Das absolute Minimum

Das absolute Minimum ist daher wohl eine Fluktuation um die 3 oder 3,5 Prozent. Zu erreichen ist dieser Wert allerdings nur für Firmen, bei denen die meisten Beschäftigten direkt nach der Schule oder spätestens nach dem Studium einsteigen und dann bis zur Rente bleiben. Schon wenn eine Firma auch Vierzigjährige oder noch “Ältere” einstellt, entscheidet sie sich damit automatisch für eine höhere Fluktuationsrate, denn die Betreffenden werden ja nicht bis zum Alter von 75 arbeiten. Selbst wenn sie bis zur Rente bleiben, bleiben ihnen nur noch 25, 20 oder 15 Jahre – was unter dem Strich auf eine Fluktuation von etwa 5 Prozent hinausläuft.

Generationen-effekte

Deutlich niedrigere Fluktuationsraten gibt es nur in Firmen, die einige Jahre lang stark gewachsen sind und daher ein ungewöhnlich niedriges Durchschnittsalter haben – und damit für die allermeisten noch relativ weit bis zur Rente. Aber das holt sie irgendwann ein, wenn das Wachstum nachlässt und irgendwann eine ganze Generation von Beschäftigten binnen weniger Jahre in Rente geht. Durch solche “Generationeneffekte” kann es zeitweilige Unterschreitungen des rechnerischen Minimums geben – doch auch für die betreffenden Firmen gilt langfristig: Im Durchschnitt kommt der Durchschnitt heraus.

Abhängig von Branche, Funktion, Geschäftsmodell

Welche Fluktuationsrate “gesund” ist, lässt sich nicht allgemein angeben: Es ist branchenabhängig, funktionsabhängig und darüber hinaus abhängig vom Geschäftsmodell. Als plakatives Beispiel bietet sich der Profisport an: Wenn die typische Dauer der professionellen Sportausübung bei 15 Jahren liegt, liegt die Fluktuation selbst ohne Vereinswechsel und verletzungsbedingte Frühinvalidität im Minimum um die 7 Prozent, realistischer wohl bei 10. (Wobei allerdings die Funktionäre mit ihrer traditionellen “Sesshaftigkeit” einiges dafür tun, diese erhöhte Fluktuation zu kompensieren.) Auch anderswo gibt es Tätigkeiten, welche die wenigsten bis zur Rente ausüben, von der Dachdeckerin über den Personenschutz bis zur Feuerwehr.

Beispiel Beratung

In anderen Branchen sorgen die jeweiligen Geschäftsmodelle für erhöhte Fluktuation. In der Unternehmensberatung beispielsweise bleiben die allerwenigsten Youngsters, die dort frisch von der Uni eingestellt werden, bis zur Rente; vielen dient der Job “in gegenseitigem Einvernehmen” als Sprungbrett in eine Industriekarriere. Andere Beratungsfirmen stellen überhaupt nur Mitarbeiter mit substanzieller Berufs- bzw. Führungserfahrung ein – und diese langjährige Erfahrung reduziert zwangsläufig ihre verbleibende Lebensarbeitszeit. Sie geht unvermeidlich zu Lasten ihrer Verweildauer und erhöht damit die Fluktuationsrate. Solange die Geschäftsmodelle funktionieren, ist dagegen wenig einzuwenden, auch wenn die Fluktuationsraten dort unter dem Strich bei 10 oder 15 Prozent und mehr liegen können.

Direkte und indirekte Kostennachteile

Erhöhte Kosten für nicht wertschöpfende Aktivitäten

Problematisch wird Fluktuation spätestens dann, wenn sie zum direkten oder indirekten Kostennachteil wird. Also etwa dann, wenn die Produktivität leidet, weil eine Firma wesentlich höhere Kosten für Personalbeschaffung, Schulung und Einarbeitung hat als ihre Wettbewerber. All dies sind ja Aktivitäten, die einerseits unausweichlich sind, wenn man ständig neue Mitarbeiterinnen einstellen muss, die aber andererseits keine direkte Wertschöpfung für den Kunden leisten und daher aus Lean-Management-Sicht zur Verschwendung werden, sobald sie über das unvermeidliche Minimum hinausgehen.

Auf den Mehrkosten bleibt man sitzen

Nun kann man einwenden, dass der Kunde das in aller Regel überhaupt nicht merkt, weil er ja keinen Einblick in diese internen Daten hat und sich dafür im Normalfall auch überhaupt nicht interessiert. Das ist einerseits richtig und geht andererseits am Kern der Sache vorbei. Denn der Mehraufwand schlägt sich zwangsläufig in erhöhten Kosten nieder. Doch diese Mehrkosten wird der Kunde nicht akzeptieren: Er vergleicht schlicht die Preise und bezahlt nur das absolute Minimum, also letztlich die Personalbeschaffungskosten, die der effizienteste Wettbewerber hat.

Kunden vergleichen nicht die Kosten, sondern die Preise

Am deutlichsten wird das im Handel, wo man das identische Produkt von den unterschiedlichsten Händlern angeboten bekommt. Da kann kein Händler kommen und sagen: “Wir brauchen leider etwas höhere Preise, weil wir nicht so effizient sind wie andere.” Denn der Kunde würde entgegnen: “Schade für euch und ohne Zweifel ein Problem, aber nicht meines.” Einen Mehrpreis bezahlt der Kunde allenfalls dort, wo er einen zusätzlichen Nutzen davon hat, weil er das Produkt beispielsweise vor Ort ausprobieren und/oder sofort mitnehmen kann. Oder weil er zusätzlich zum Produkt eine kompetente Beratung erhält, die ihm hilft, sich seiner Entscheidung sicherer zu sein. Aber selbst das ist heute, in Zeiten schneller Online-Bestellungen nicht mehr sicher: Da bestellen manche Kunden noch im Laden – online beim Billigsten.

Erhöhte Kosten für Personalbeschaffung

Einen indirekten Kostennachteil bringt eine erhöhte Fluktuationsquote etwa dann, wenn sie der eigenen Reputation im Markt schadet, zum Beispiel durch viele negative Kritiken in Job-Portalen. Das schlägt sich am Ende ebenfalls in höheren Personalbeschaffungskosten nieder: Man bekommt weniger “gute” Bewerbungen, weil sich manche Brancheninsider gar nicht bewerben; Jobangebote werden häufiger abgelehnt, weil sich die Interessentinnen inzwischen umgehört haben; und ein erhöhter Anteil neuer Mitarbeiterinnen kündigt alsbald wieder, weil sie vielen frustrierten Kolleginnen begegnet sind und sich in diesem Klima nicht wohl fühlten.

Frustration und Abwanderung von Kunden

Ein weiterer indirekter Kostennachteil entsteht, wenn die Zufriedenheit der Kunden von der Unzufriedenheit der Beschäftigten in Mitleidenschaft gezogen wird: Frustrierte Mitarbeiterinnen behandeln Kunden unfreundlich, agieren wurstig und unaufmerksam, lassen bei Qualität und Service Fünfe gerade sein. Wenn sich das häuft, schlägt es sich nicht nur in erhöhten Reklamationen (und deren Kosten) nieder, sondern auch in der Abwanderung von Kunden und in negativen Kritiken in den Social Media – mit der Gefahr einer selbstverstärkenden Kettenreaktion.

Die Kosten einer erhöhten Fluktuation bestimmen

Wann erreicht eine neue Mitarbeiterin die volle Produktivität?

Wie viel Zeit es braucht, bis eine neue Mitarbeiterin ihre volle Produktivität erreicht, also gleich effizient wie eine eingearbeitete Kraft, ist von Funktion zu Funktion sehr unterschiedlich. Bei manchen geht es ziemlich schnell, da dauert die Einarbeitung nur ein paar Tage oder Wochen – etwa bei körperlichen und administrativen “Fließbandtätigkeiten” mit einem hohen, repetitiven Routineanteil wie etwa der Erfassung und Buchung von Belegen. Bei anderen Tätigkeiten kann es ein bis zwei Jahre dauern, in speziellen Fällen noch länger.

Besonders langwierig in “Beziehungs-geschäften”

Als Faustregel kann gelten: Je mehr es darauf ankommt, sich ein Beziehungsnetz aufzubauen, ungeschriebene Regeln zu erlernen und sich selbst eine Reputation erwerben, desto länger dauert es. Das heißt praktisch, wer als Verkäufer Laufkundschaft bedient, hat die volle Produktivität erreicht, sobald er oder sie die angebotenen Produkte kennt und verstanden hat, auf welche Weise sie den gängigen Kundenwünschen gerecht werden können. Wer hingegen in einem Beziehungsgeschäft mit anspruchsvollen Stammkunden tätig ist, steht möglicherweise auch nach zwei oder drei Jahren noch im Schatten seiner Vorgängerin.

Unterschiedliche Fälle

Das heißt praktisch: Die Bedienung in einem Straßenlokal in der Großstadt dürfte ziemlich schnell eingearbeitet sein. Wer hingegen für eine Non-Profit-Organisation Großspenderinnen oder potenzielle Legatsgeber betreut, wird ziemlich lange brauchen, bis die aufgebauten Vertrauensbeziehungen seiner Vorgängerin vollständig auf ihn oder sie übergegangen sind. Entsprechend unterschiedlich sind die Fluktuationskosten: Im ersten Fall reichen ein paar Wochen bis zur vollen Produktivität, im anderen vergehen Jahre.

Die vollen Fluktuationskosten

Um die vollen Fluktuationskosten zu bestimmen, muss man den Blick allerdings etwas erweitern: Man muss nicht nur die Produktivität einer neuen Kraft mit der einer langjährigen Beschäftigten vergleichen, sondern muss dazu die tatsächlichen Kosten einer Neubesetzung einschließlich der Personalbeschaffungs- und Schulungskosten addieren. Andererseits sind die Gehaltskosten neuer Mitarbeiter meist etwas weniger als langjährige, sodass sich bei der Vergütung, genauer, beim “Arbeitgeber-Brutto” in der Regel eine gewisse Entlastung ergibt. Sie wird die Mehrkosten zwar in aller Regel nicht annähernd kompensieren, muss aber korrekterweise trotzdem in die Kalkulation einbezogen werden.

Mehraufwand für Kolleginnen und Vorgesetzte

Theoretisch müsste man auch den Mehraufwand einrechnen, der bei Kolleginnen und Vorgesetzten durch die Einarbeitung neuer Beschäftigter entsteht, also die Zeit, die sie, statt andere Arbeiten zu machen, für die Neuen aufwenden. Doch hier kann man argumentieren, dass dies betriebswirtschaftlich “Eh-da-Kosten” sind: Die Leute sind eh da und bekommen dafür keine zusätzliche Vergütung. Deshalb lässt man diesen Punkt normalerweise außer Acht, weil er “das Kraut nicht fettmacht”.

Erheblicher Zusatzaufwand für Kolleginnen

Doch das stimmt auch nicht immer: Manchmal leidet die Produktivität der anderen Mitarbeiter erheblich unter dem Einarbeitungsaufwand, etwa wenn ein Außendienstmitarbeiter produktive Tage verliert, weil er seine neue Kollegin bei Kundenbesuchen begleitet, oder wenn die Vorgesetzte andere Dinge liegen lassen muss, weil die Einarbeitung ihrer Neuen sie zu sehr in Anspruch nimmt. Ein Extremfall, über den in den letzten Jahren häufigr berichtet wurde, ist die Intensivpflege: Dort bringt eine nicht eingearbeitete neue Mitarbeiterin den Teams zunächst einmal keine Entlastung, sondern macht im Gegenteil das gesamte Team über Monate hinweg unproduktiver, bevor sie schließlich so weit ist, einen positiven Beitrag zu bringen.

“Absaufen” der Vorgesetzten

Immer häufiger begegnet mir auch eine zweite Variante: In vielen Organisationen sind die Führungsspannen so knapp bemessen, dass alles gerade noch funktioniert, wenn die allermeisten Mitarbeiterinnen wissen, was von ihnen erwartet wird, und genügend Erfahrung besitzen. Haben sie auf einmal mehrere neue Mitarbeiter gleichzeitig, noch dazu unter teilweisen Home-Office-Bedingungen, saufen die Vorgesetzten ab, und die Neuen erreichen sehr lange nicht ihre volle Produktivität, weil es ihnen an Anleitung und Feedback fehlt. Im schlimmsten Fall hat das zur Folge, dass eine einstmals vorzügliche Servicekultur völlig abschmiert.

Deutliche Delle im Nettoertrag

Kostendifferenz ist entscheidend

Die tatsächlichen Fluktuationskosten bestehen aus der Differenz zwischen dem Nettoertrag einer neuen Mitarbeiterin und dem einer eingearbeiteten: Wir vergleichen dabei nicht nur die Produktivität, also wieviel Arbeit sie jeweils erledigen, wie viel sie also zum Beispiel verkaufen. Vielmehr müssen wir von diesem Bruttoertrag ihre jeweiligen Kosten für Arbeitgeber abziehen. Auf diese Weise bestimmen wir, was unter dem Strich für den Arbeitgeber übrigbleibt. Bei der weiterarbeitenden bisherigen Kraft bestehen diese Kosten im wesentlichen aus ihrem Gehalt (Arbeitgeber-Brutto); bei der “Neuen” kommen einmalig beträchtliche Kosten für die Personalbeschaffung, Schulung und Einarbeitung hinzu.

Jede/r Neue startet mit “Kostenrucksack”

Diese zusätzlichen Kosten sorgen dafür, dass neue Mitarbeiter trotz ihrer meist etwas niedrigeren Gehälter mit einem schweren “Kostenrucksack” starten, den sie erst einmal abarbeiten müssen, bevor sie unter dem Strich einen positiven Ertrag bringen. Jede Neubesetzung ist für den Arbeitgeber erst einmal eine Investition, sprich, ein Liquiditätsabfluss: Er muss ihnen ab dem ersten Beschäftigungstag Gehalt bezahlen, auch wenn sie dieses Gehalt noch längst nicht einspielen; vor allem schlagen aber die Kosten für die Personalbeschaffung zu Buche, erst recht, wenn teure Headhunter oder Agenturen eingeschaltet werden mussten oder der Besetzungsprozess aus anderen Gründen besonders teuer war.

Ertragsdelle kann nicht mehr ausgeglichen werden

Natürlich ist dieser “Kostenrucksack” nicht von den neuen Mitarbeitern verschuldet – er hat seine Ursache in der Fluktuation und den Gründen, die sie ausgelöst haben. Aber das ändert nichts daran, dass jede Neubesetzung zu einer deutlichen “Delle” im Nettoertrag führt. Und zwar zu einer Delle, die auch durch die wachsene Produktivität der neuen Mitarbeiter in aller Regel lange mehr ausgeglichen wird. Denn erfahrene Mitarbeiter, die bei ihrer Firma geblieben sind, arbeiten ja weiter, lernen hinzu und behalten auf diese Weise ihren Vorsprung. (Mit einer einzigen Ausnahme: Wenn ein sehr teurer und/oder sehr unproduktiver Mitarbeiter durch einen neuen ersetzt wird, der ihn an Produktivität nach kurzer Zeit überflügelt, ist das im Einzelfall einmal anders.)

Kosten von Vakanzen

Auch längere Vakanzen sind teuer: Nicht wegen ihrer direkten Kosten, denn man spart sich ja das Gehalt, sondern wegen der indirekten. Denn eine Mitarbeiterin, die nicht da ist, arbeitet auch nicht – das heißt, je länger die Stelle unbesetzt ist, desto mehr Nettoertrag geht dem Unternehmen verloren. Solche Zahlen sind oft schwer exakt zu bestimmen, denn wie soll man etwa wissen, wie viele Kundinnen ein Geschäft ohne Kauf wieder verlassen haben, weil sie keine Verkäuferin gefunden haben? Trotzdem sollte man sich da nicht in die Tasche lügen: Wenn Mitarbeiter keinen Nettoertrag brächten (oder Aufgaben erledigten, die aus anderen Gründen zwingend erforderlich sind), würde man sie ja nicht einstellen.

Breakeven erst nach geraumer Zeit erreicht

Wie lange es dauert, bis neue Mitarbeiter diesen Kostenrucksack abgestreift haben und den Breakeven erreichen, also den Tag, an dem sie unter dem Strich erstmals einen positiven Nettoertrag für ihren Arbeitgeber erwirtschaften, zeigt nachfolgende Modellrechnung:

Abbildung: Der kumulierte Nettoertrag neuer Mitarbeiter geht durch ein Tal, bevor er ins Plus dreht

Abb.: Der kumulierte Nettoertrag neuer Mitarbeiter geht durch ein Tal, bevor er ins Plus dreht

Neue Mitarbeiter müssen sich erst einmal aus ihrem “Tal” herausarbeiten

Dass der Breakeven in dieser Modellrechnung nach etwa zwölf Monaten erreicht wird, ist einerseits Zufall, weil eine bloße Folge der zugrunde gelegten Annahmen, dürfte andererseits aber nicht untypisch für Tätigkeiten von mittlerem Schwierigkeitsgrad sein, also für solche, die eine gewisse Einarbeitung erfordern, aber keine besonders lange.

Wichtig ist, bei der Betrachtung der Modellrechnung den Breakeven nicht zu verwechseln mit dem Tag, an dem der oder die Neue erstmals mehr Nettoertrag bringt als er an Gehalt kostet: Dieser Tag liegt deutlich früher, nämlich dort, wo die Kurve ihren unteren Wendepunkt hat, also nach drei bis vier Monaten. Trotzdem ist der Arbeitgeber zu diesem Zeitpunkt wegen des “Kostenrucksacks” noch weit im Minus: Der oder die Neue braucht noch rund ein Dreivierteljahr, bis er bzw. sie sich mit weiter wachsender Produktivität aus diesem Tal herausgearbeitet hat.

Unwiederbringlich verlorene Erträge

Gegenüberstellung ohne Kündigung

Noch unangenehmer wird die Betrachtung der Fluktuationskosten, wenn man sie mit dem fiktiven Fall vergleicht, dass die Mitarbeiterin nicht gekündigt, sondern stattdessen noch etliche Jahre weiter in ihrer bisherigen Funktion weitergearbeitet hätte. Dann steht die erwähnte Ertragsdelle den durchlaufenden Nettoerträgen einer kontinuierlichen Weiterbeschäftigung gegenüber (rote vs. graue Linie).

Große Ertragsdifferenz

Abbildung: Große Ertragsdifferenz zwischen neuen und erfahrenen Mitarbeitern vor allem im ersten und zweiten Jahr

Abb.: Große Ertragsdifferenz zwischen neuen und erfahrenen Mitarbeitern vor allem im ersten und zweiten Jahr

Kosten für Rekrutierung, Schulung und Einarbeitung sind verloren

Die Fläche zwischen den beiden Kurven stellt den Nettoertrag dar, den die Firma durch die Fluktuation verliert – und zwar unwiederbringlich: Auch wenn die neue Mitarbeiterin nach einiger Zeit ihre volle Produktivität erreicht (also ab diesem Zeitpunkt ähnlich produktiv ist wie ihre fiktive weiterbeschäftigte Kollegin), sind die zusätzlichen Kosten für Personalbeschaffung, Schulung und Einarbeitung auf Nimmerwiedersehen verloren.

All diese Kosten hätten Nettoertrag sein können, wenn die Vorgängerin nicht vorzeitig den Bettel hingeworfen hätte. Logischerweise macht sich das vor allem im ersten Jahr bemerkbar, weil hier die zusätzlichen Kosten für Personalbeschaffung und Schulung zu Buche schlagen. Doch auch im zweiten Jahr ist die Differenz noch spürbar; erst im dritten Jahr nähert sich die Performance an – bzw. wird zusehends von persönlichen Leistungsunterschieden überlagert.

… auch wenn man die Fluktuation für erwünscht erklärt

Spätestens in dieser Gegenüberstellung wird klar: Es nützt herzlich wenig, ein gewisses Maß an Fluktuation für erwünscht oder gar für anstrebenswert zu erklären. Die Kosten hat man trotzdem – und auch die Erträge, die ohne Personalwechsel möglich gewesen wären, fehlen trotzdem, auch wenn man die Fluktuation billigend in Kauf nimmt.

Denn noch einmal: Ein “gewisses Maß” an Fluktuation hat man ohnehin, schon weil Menschen die Gewohnheit haben, nicht ewig zu arbeiten, und darüber hinaus eine gewisse Mobilität aufweisen (die, wie erwähnt, je nach Branche, Funktion und Geschäftsmodell unterschiedlich ist). Doch eine Fluktuation, die über das Übliche hinausgeht, wird leicht zum Wettbewerbsnachteil. Deshalb sollte man eine gewisse Sorgfalt an den Tag legen bei dem, was man sich wünscht …

Die häufigsten Kündigungsgründe in Erfahrung bringen

Wer sich nicht damit abfinden will, dass ihm eine zu hohe Fluktuation das Geschäftsergebnis seiner Firma oder Organisationseinheit verhagelt, hat die Möglichkeit, ihr gezielt entgegenwirken. Um gezielt handeln zu können, ist es freilich notwendig, ihre Ursachen zu kennen. Statt zu spekulieren, ist es sinnvoller, die häufigsten Kündigungsgründe durch Austrittsinterviews in Erfahrung zu bringen, also durch möglichst offene Gespräche mit Mitarbeitern, die gekündigt haben. (Was es einem vielleicht in dem einen oder anderen Fall auch erspart, die Kündigungsgründe in den einschlägigen Jobportalen veröffentlicht zu sehen.)

Gespräche über Enttäuschungen und Ärgernisse

Aber natürlich sind Gespräche mit Mitarbeitern, die (noch?) nicht gekündigt haben, genauso wertvoll – auch wenn die oft zurückhaltender damit sind, in aller Klarheit auf Ärgernisse und Enttäuschungen hinzuweisen. Trotzdem erfährt man erstaunlich viel, wenn man sie zum Beispiel mit ehrlichem Interesse und der Bereitschaft zuzuhören fragt: “Was war eigentlich die größte Enttäuschung (oder das größtes Ärgernis), das Sie in unserer Firma im letzten Jahr erlebt haben?”

Führungskräfte in die Pflicht nehmen

Dabei ist es sinnvoll zu trennen zwischen den Gründen, die vom Unternehmen insgesamt zu verantworten sind, und denen, die mit dem Verhältnis zu den direkten Vorgesetzten und Kolleginnen zu tun haben. Bei ersteren kann meist nur das Unternehmen selbst bzw. das Top-Management für Abhilfe sorgen; bei den Gründen, die mit dem eigenen sozialen Umfeld zu tun haben, ist es dagegen ratsam und vermutlich sogar notwendig, die direkten Vorgesetzten in die Pflicht zu nehmen. Denn die Vorstellung, die Senkung der Fluktuation an den HR-Bereich delegieren zu können, ist eine Illusion. Der kann dabei wertvolle Unterstützung bieten, doch negative oder belastende Einflüsse aus dem direkten Arbeitsumfeld kann er nur in sehr begrenztem Umfang kompensieren.


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Über den Autor

Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung


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