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“Wir haben uns geeinigt …”
” … aber warum eigentlich?”
Typisches Kennzeichen eines emotionalen Konsens’ ist, dass die am Entscheidungsprozess Beteiligten gegenüber Dritten vor allem das Ergebnis betonen und auf Fragen nach den Gründen schnell defensiv reagieren: “Wir haben das lange und ausführlich diskutiert, und sind schließlich zu diesem Ergebnis gekommen,” heißt es dann. “Man kann natürlich alles hinterfragen. Aber irgendwann muss man schließlich eine Entscheidung treffen.”
Nicht Logik, Gruppendynamik
Zwar können einem in solchen Fällen die meisten Teilnehmer (mit einer gewissen Streubreite) sagen, worauf man sich geeinigt hat und allenfalls noch, welche Alternativen in Bettracht gezogen, aber verworfen wurden. Fragt man aber weiter, was genau die Vor- und Nachteile der diskutierten Alternativen sind und welche Gründe (bzw. welche Abwägung der Vor- und Nachteile) schließlich den Ausschlag für die Entscheidung gegeben haben, müssen die meisten passen – nicht, weil sie nicht aufgepasst oder nicht mitgedacht haben, sondern weil die Diskussion ganz anders abgelaufen ist.
Wie emotionaler Konsens zustande kommt
Entwicklung einer Diskussion
Sachdiskussionen beginnen üblicherweise damit, dass einer einen Vorschlag macht und vielleicht noch eine Begründung dafür gibt; ein anderer kommentiert den Vorschlag zustimmend oder kritisch, fügt ebenfalls ein paar Argumente an – bis dahin durchaus rational. Doch je mehr Vorschläge, Einwände, Bedenken etc. hinzukommen, desto mehr verheddert sich das Ganze. Nach einer Weile haben sich die meisten ihre Meinung gebildet und wiederholen nur noch in grammatikalischen Variationen die Punkte, die für ihre eigene Meinung bzw. gegen die der anderen Seite(n) sprechen.
Ringen um Zustimmung
Dieses Ringen um Zustimmung hat nur noch lose mit Rationalität zu tun. Argumente werden nicht mehr benutzt, um der Wahrheit bzw. der besten Lösung näher zu kommen, sondern um die eigene Position durchzubringen. Inbrünstige Bekenntnisse der jeweiligen Platzhirsche (“Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass XY die richtige Lösung ist!”) haben auf Verlauf und Ergebnis der Diskussion oft mehr Einfluss als die logische Argumentation von weniger angesehenen Teammitgliedern – nicht gerade rational, wenn man bedenkt, dass die “Platzhirsche” in ihren Statements zwar viel emotionale Energie entfaltet, aber nicht unbedingt eine rationale Begründung geliefert haben.
Koalitionen und Mehrheiten
Im weiteren Verlauf entstehen Koalitionen von Leuten, die in die gleiche Richtung argumentieren. Meist bilden sich nach einer Weile Mehrheiten heraus, und die Minderheiten lassen in ihrem Widerstand allmählich nach. Oder man kommt ihnen in einzelnen Punkten entgegen, um ihre Vorbehalte auszuräumen. Und irgendwann entsteht in der Gruppe das Gefühl (!), dass man nun allmählich zu einer Entscheidung kommen müsse.
Also wird entschieden, sprich, man einigt sich auf eine Lösung, “mit der alle leben können”, also auf einen Kompromiss. Für die letztlich getroffene Entscheidung sind nicht so sehr die Gründe ausschlaggebend wie die Kräfteverhältnisse. Besonderes Gewicht haben dabei die “Platzhirsche” sowie Personen, die man auf keinen Fall vergrätzen will; weniger Einfluss haben die Argumente neuer und/oder weniger angesehener Teammitglieder.
Was wäre die Alternative?
Vermutlich haben Sie, während Sie dies lesen, zahlreiche Sätze auf den Lippen, die mit “Aber” beginnen: Aber man muss doch irgendwie zu einer Entscheidung kommen! Aber anders geht es doch gar nicht! Aber man kann doch die Standpunkte wichtiger Akteure nicht einfach ignorieren! Aber was gibt es daraus denn auszusetzen, und was ist die Alternative?
Kriterium Realitätstauglichkeit
Das “Wie” ist wichtig
Natürlich ist es notwendig, “irgendwie” zu einer Entscheidung zu kommen. Allerdings ist das “Wie” in dem “Irgendwie” dabei nicht ganz gleichgültig. Denn eine Entscheidung nützt ja nur dann etwas, wenn sie sich in der Praxis bewährt. Und dafür ist ein breiter Konsens leider keine Garantie: Weder ein Kompromiss noch eine Mehrheitsentscheidung bietet die Gewähr, dass die so gefundene Lösung hinterher wirklich funktioniert, und auch die Durchsetzungsfähigkeit einzelner Akteure garantiert dies nicht.
Warum nicht? Weil bei Kompromissen weniger die Realitätstauglichkeit der Lösung zählt als deren Anschlussfähigkeit, sprich, dass alle einigermaßen mit der Entscheidung leben können. Deshalb dient auch die in Firmen wie Behörden so beliebte breite “Abstimmung” von Entscheidungen nicht deren Realitätstauglichkeit, sondern nur der Sicherung einer breiten Akzeptanz.
Nüchterne Analyse der Fakten
Für die Realitätstauglichkeit einer Entscheidung ist ihr rationaler Gehalt ausschlaggebend: Die Lösung muss in erster Linie zum Problem passen, und sie muss es beheben oder zumindest spürbar verbessern, ohne schädliche Nebenwirkungen zu haben. Eine solche Lösung findet man nicht durch Dominanz, Hartnäckigkeit und andere Gruppenprozesse. Bestmögliche Realitätstauglichkeit ist nur durch eine nüchterne, systematische Sammlung, Bewertung und Abwägung der Sachargumente zu erreichen, und zwar ohne Rücksicht auf Rang, Eloquenz und bestehende Überzeugungen.
Der Haken der Rationalität
Trotzdem ist für eine gute Lösung nicht damit getan, emotionalen Konsens einfach durch rationalen Konsens zu ersetzen. Denn die Rationalität hat auch ihren Haken: Sie gewährleistet zwar Realitätstauglichkeit, ist aber eine sehr nüchterne und wenig inspirierende Angelegenheit. Nach einer sorgfältig durchgeführten rationalen Analyse weiß man zwar so genau, wie es auf Basis der vorhandenen Informationen überhaupt möglich ist, was die richtigen Maßnahmen sind, hat aber nicht unbedingt die Motivation, sie auch umzusetzen. Denn, wie Michael Löhner es treffend auf den Punkt gebracht hat: “Rationalität erzeugt keine Energie”.
Rationalität erzeugt keine Energie
Nun haben wir ein Problem: Emotionaler Konsens gewährleistet keine Praxistauglichkeit, Rationalität erzeugt keine Energie. Was tun?
Für optimale Ergebnisse ist es notwendig, den rationalen und den emotionalen Konsens zusammenzubringen – und zwar möglichst so, dass sich nicht ihre jeweiligen Nachteile, sondern ihre Stärken vereinen. In der Praxis geschieht häufig das genaue Gegenteil: Man legt sich frühzeitig und “aus dem Bauch heraus” auf eine Position fest und missbraucht dann seinen Verstand, um Argumente für die eingenommene Position zu finden. Auf diese Weise macht man seinen Verstand zum Knecht seines Bauchgefühls: Man verbarrikadiert man seinen Kopf gegen jedes Lernen und lässt zugleich auch seiner Intuition keine Chance, sich weiter zu entwickeln und zu entfalten.
Rationalen und emotionalen Konsens zusammenführen
Rationale Analyse
Um stattdessen die Stärken zu verbinden, sollte man zunächst aufmerksam registrieren, was einem sein spontanes Bauchgefühl sagt, aber zugleich offen bleiben für neue Informationen und Erkenntnisse. Deshalb gilt es jetzt, seinen analytischen Verstand benutzen. Tragen Sie dazu gemeinsam mit Ihrem Team alle relevanten Fakten zusammen, sammeln Sie alle verfügbaren Handlungsoptionen sowie die Gründe, die jeweils für und gegen sie sprechen, und arbeiten sie so möglichst rational die beste Entscheidung heraus. (Mögliche Methoden hierfür sind unter dem Stichwort Rationaler Konsens erläutert.)
Wenn sie gefunden ist (und erst dann!!), kann man sich daran machen, die getroffene Wahl mit Energie, also mit Emotionen zu hinterlegen. Und wie geht das?
Die Intuition befragen
Beginnen Sie damit, dass Sie sich und Ihre Kollegen fragen, was Ihre Intuition zu der analytisch getroffenen Entscheidung sagt. Wenn Sie feststellen, dass die gefundene Lösung für alle Beteiligten auch intuitiv überzeugend und “rund” ist, haben Sie nicht nur eine wichtige Querprüfung vorgenommen, sondern auch ein erstes Stück Energie mobilisiert. Wenn dagegen auch nur einzelner Beteiligter “Bauchschmerzen” bei der gefundenen Lösung hat, dann lohnt es sich unbedingt, diesen Vorbehalten nachzugehen – und zwar nicht durch Überreden, also mit dem Bestreben, ihm sein Unbehagen “auszureden”, sondern explorativ, um es zu ergründen und zu verstehen. Gehen Sie dabei nach der eisernen Regel vor:
Wenn Ratio und Intuition nicht im Einklang stehen, dann stimmt etwas nicht. Dann besteht weiterer Klärungsbedarf.
Eigene und fremde Intuition verstehen
Das erfordert ein Stück Geduld und Selbstdisziplin. Denn wenn Sie selbst mit der Entscheidung ein gutes Gefühl haben, werden Sie überhaupt keine Lust mehr haben, sie noch einmal in Frage zu stellen. Es lohnt sich trotzdem. Entweder löst sich das Unbehagen Ihres (oder Ihrer) Kollegen in dem Maße auf, wie es klarer formuliert werden kann – oder aber es verstärkt sich.
Ausleuchten und Auflösen von Vorbehalten
Im ersteren Fall entsteht zusätzliche Energie, weil die Betreffenden dann auch mit dem Herzen Ja zu der Entscheidung sagen können. Das ist nicht nur für ihre Befindlichkeit wichtig, sondern bewirkt auch, dass sie die Gruppe emotional nicht mehr “bremsen”. Im zweiten Fall treten neue Aspekte zutage, die bei der bisherigen Entscheidung nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Dann sollte die rationale Analyse noch einmal aufgenommen und vertieft werden, indem man prüft, welche Bedeutung und Tragweite diese zusätzlichen Aspekte haben.
Abgleich von Verstand und Gefühl
Dabei ist keineswegs ausgemacht, dass in solchen Fällen immer die Intuition recht hat – obwohl ich im Zweifelsfall ihr den Vorzug geben würde. Wie im Beitrag über Intuition erläutert, kommt es gar nicht so selten vor, dass sich die Intuition durch eine genauere Analyse der Fakten und Zusammenhänge verändert. Deshalb sollte man sich auf die Intuition erst nach Ausschöpfen aller Möglichkeiten des Verstandes verlassen, und nicht von Anfang an, wie es gerne von denen praktiziert wird, die hoffen, sich auf diese Weise die Mühsal des Denkens ersparen zu können.
Mobilisierung von Energie
Weitere Energie für die getroffene Entscheidung können Sie mobilisieren, indem Sie sich den Nutzen der Entscheidung vergegenwärtigen und mit Ihren Mitarbeitern und Kollegen die Frage diskutieren, ob und aus welchen Gründen dieser Nutzen die Anstrengungen und Mühen wert ist, die zu seiner Erreichung erforderlich sein werden. Und schließlich ist eine der wirksamsten, schon seit der Antike bekannten Methoden, sich selbst zu begeistern, dass man sich zur Aufgabe stellt, anderen die gefundene Lösung zu “verkaufen”.
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Über den Autor
Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung.