Inhaltsverzeichnis:
Unzählige Gespräche und Sitzungen
Zeitaufwändige Verwässerung
In den Augen vieler genervter Projektleiter erscheint die “Abstimmung” daher als das Problem, als dessen Lösung sie sich ausgibt. Und in der Tat: Für das Ziel eines möglichst breiten Konsens’ werden zuweilen unsägliche Kompromisse eingegangen und mit hohem Zeitaufwand ausgehandelt. Ähnlich wie bei Koalitionsverhandlungen in der großen Politik hat das Ergebnis, das am Ende herauskommt, oft nur noch oberflächliche Ähnlichkeiten mit dem, was ursprünglich beabsichtigt war, geschweige denn mit dem, was von der Sache her notwendig wäre. Aber “es ist abgestimmt”, mit anderen Worten, alle, die auf diese Weise “eingebunden” wurden, “können mit dem Ergebnis leben”. Pech für das Unternehmen, wenn die Realität es nicht kann. Denn die Breite eines Konsens’ ist nun einmal kein Garant für dessen Realitätstauglichkeit; sie birgt im Gegenteil das Risiko, dass die Entscheidung, um niemandem weh zu tun, einen gefährlich großen Sicherheitsabstand zu den geschäftlichen Notwendigkeiten hält.
Lediglich die Bereitschaft zur Duldung
Wenig belast-barer Konsens
Was durch “Abstimmung” zustande kommt, ist kein rationaler, sondern nur ein emotionaler Konsens, und noch dazu einer, der mit wenig Energie hinterlegt ist. Denn das Ergebnis dieser zeitraubenden Prozedur ist in aller Regel nicht der feste Wille, gemeinsam etwas zu erreichen, sondern lediglich die Bereitschaft, die Betreiber eines Vorhabens gewähren zu lassen, solange sie sich im abgesteckten Rahmen bewegen – und solange keine neuen Gründe auftauchen, sich doch anders zu verhalten. Trotz des hohen Abstimmungsaufwands stehen längst nicht alle, die im Vorfeld ihre Sichtweise einbringen konnten, hinter der Lösung, die am Schluss herausgekommen ist. Mit der Folge, dass, sobald die ersten Probleme auftreten oder die ersten unerwünschten Nebenwirkungen sichtbar werden, auch die ersten Distanzierungen einsetzen: “Ja, wenn Sie mir damals gesagt hätten …”
Verdeckte Blockade
Dennoch ist es leichter gesagt als getan, auf diesen “Abstimmzirkus” zu verzichten. Wer das versucht, wird vor allem in Großunternehmen schnell die Erfahrung machen, dass er mit seinem Vorgehen weder Zeit noch Substanz gewonnen hat. Denn diejenigen, die er durch sein Vorpreschen übergangen hat, werden ihm das mit hoher Wahrscheinlichkeit heimzahlen, indem sie sein Vorhaben verdeckt, aber wirksam blockieren. Oft entwickeln die lieben Kollegen hier erstaunliche Kreativität, um solch “unabgestimmten Alleingängen” immer neue Hindernisse in die Fahrbahn zu rollen: Hat das gewählte Vorgehen auch die – unverzichtbare! – Zustimmung des betrieblichen Datenschutzbeauftragten? Ist dabei auch eine erst kürzlich erlassene Richtlinie des Vorstands berücksichtigt? Wie verträgt es sich überhaupt mit der Grundsatzentscheidung, nicht mehr so viel Zeit auf interne Angelegenheiten zu verwenden, sondern sich stärker auf Markt und Wettbewerb zu konzentrieren? Und mit der Maßgabe, keine unnötigen Qualitätsrisiken einzugehen? Und mit der Revisionsrichtlinie vom 17.04.2001?
Verweigerung der Unterstützung
Besonders unangenehm sind diese verdeckten Widerstände dort, wo das Vorhaben auf die aktive Unterstützung der übergangenen Abteilungen und Bereiche angewiesen wäre. Denn dann legen sich die Übergangenen mit kaum widerlegbaren Argumenten quer. So ist die erbetene Zuarbeit aus Überlastung derzeit “leider” nicht möglich: “Wir machen das selbstverständlich gerne, sobald wir können. Ich kann ihnen aber beim besten Willen keinen Termin zusagen!” Einen Mitarbeiter für das Projekt abzustellen, ist “leider, leider” erst recht nicht möglich: “Sie wissen ja, beim letzen Kostensenkungsprogramm mussten wir ziemlich bluten. Seither kommen meine Mitarbeiter kaum noch mit ihrer eigenen Arbeit zurande. So gern ich sie selbstverständlich unterstützen würde, ich kann es gegenüber meinen Mitarbeitern nicht verantworten. Man hat da schließlich auch eine Fürsorgepflicht!”
Gefragt-Werden-Müssen ist Macht
Ein Spiel um Macht und Einfluss
Dieses Auflaufenlassen wegen unterlassener Abstimmung macht deutlich, worum es bei dem “Abstimmzirkus” wirklich geht: um Macht und Einfluss. Die unausgesprochene Forderung lautet: “Wer will, dass ich ihn unterstütze oder doch zumindest gewähren lasse, der muss sich vorher mit mir abstimmen, und das heißt auf Deutsch: meine Zustimmung erbitten. Wer dies nicht tut, der muss darauf gefasst sein, dass ich ihm den Spaß an seinem Vorhaben nach besten Kräften verleiden werde!”
Natürlich ist niemand so dumm, das offen auszusprechen. Aber das ist auch gar nicht erforderlich – es genügt völlig, entsprechend zu handeln. Nach ein paar Durchläufen versteht auch der Dümmste: Sein Vorhaben mit allen wesentlichen Mitspielern abzustimmen, ist zwar lästig und zeitraubend, aber es ist in der Regel das kleinere Übel, wenn man überhaupt etwas bewegen will. Spätestens beim dritten Mal hat dies auch der größte Heißsporn, der ambitionierteste Projektleiter und der großspurigste externe Berater begriffen. Dann ist die betriebliche Ordnung wieder hergestellt.
Wir basteln uns einen zahnlosen Tiger
Die Macht, um die es hier geht, ist bei genauerem Hinsehen keine Gestaltungs-, sondern eine Verhinderungsmacht. Sie dient nicht dazu, Dinge voranzubringen, sondern dazu, beabsichtigte Veränderungen aufhalten zu können, um so nötigenfalls zu erzwingen, dass sie so umgestaltet werden, dass sie möglichst wenig mit den eigenen Zielen und Interessen kollidieren. Das hat durchaus auch positive Seiten, denn eine solche Abstimmung verhindert zum Beispiel auch, dass Maßnahmen realisiert werden, die an anderer Stelle unerwünschte oder schädliche Nebenwirkungen hätten.
Falls Optimierungen an der einen Stelle mit Mehraufwand an einer anderen bezahlt werden müssen, ist es natürlich vorteilhaft, wenn man das schon im Vorfeld bemerkt und nicht erst dann, wenn sich die Beschwerden häufen. Die negative Seite ist, dass viele Mitspieler diesen ihren Einfluss auch dazu nutzen (und meist ungestraft dazu nutzen können), alles zu verhindern, was ihre persönlichen Interessen, Gewohnheiten und Besitzstände beeinträchtigen könnte. Mit der Folge, dass vor allem in Großunternehmen und Verwaltungen am Ende des Abstimmprozesses oft nur noch “zahnlose Tiger” stehen, die niemandem wehtun, aber auch nicht mehr viel nützen. (Ähnlich unseren unzähligen Gesundheitsreformen.)
Gefährliches Spiel
Die Gefährlichkeit exzessiv praktizierter Abstimmungen ist nicht zu unterschätzen: Sie verhindern, dass notwendigen Veränderungen mit der nötigen Schnelligkeit und Konsequenz angegangen werden – und können so auf die Dauer die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens gefährden. Gerade sehr erfolgreiche und profitable Unternehmen erliegen häufig der Gefahr, in guten Zeiten schwerfällige Prozeduren zu entwickeln, die sie dann in schwierigeren Zeiten nicht mehr rechtzeitig loswerden. Und es gibt mehr als ein Unternehmen, dem die Unbeweglichkeit, die aus solchen Abstimmprozeduren zwangsläufig entsteht, beinahe zum Verhängnis geworden ist.
Graduelle Verbesserungen statt perfekter Lösungen
Bruch der Spielregeln
So klar die Diagnose, so schwierig ist es, eine brauchbare Therapie für dieses “Abstimmungssyndrom” zu finden. Vor allem in Unternehmen, in denen Abstimmung exzessiv betrieben wird, scheint die Situation förmlich nach einem radikalen Schnitt zu schreien, nach einem mutigen – man könnte auch sagen: autoritären – Bruch mit den eingefahrenen Spielregeln und Gewohnheiten: “Schluss mit dem ganzen Abstimmzirkus! Wir entscheiden selbst, was wir für richtig halten, und tragen nötigenfalls auch die Konsequenzen!” Doch was so heroisch klingt, entpuppt sich alsbald als die perfekte Falle – einzig das mit den Konsequenzen wird wahr, wenn auch in einem anderen Sinne als erhofft.
Vom Tiger zum Bettvorleger
Wenn tatsächlich jemand auf diese Weise vorprescht und sich jegliche Abstimmung erspart, passiert zunächst einmal – überhaupt nichts. Wie es dann weitergeht, hängt von seiner Macht und seinem Sanktionspotenzial ab: Einen jungen Projektleiter oder externen Berater kann man risikoloser und infolgedessen auch offener auflaufen lassen als beispielsweise ein neues Vorstandsmitglied. Je mächtiger der Störenfried ist, desto weniger wird man sich seinen Wünschen offen widersetzen – was aber keineswegs bedeutet, dass man ihn unterstützt.
Vielmehr tut man, was er verlangt, um sich keinesfalls dem Vorwurf auszusetzen, ein Bremser und Blockierer zu sein, aber man beantwortet keine Frage, die er nicht gestellt hatte, und gibt von sich aus keinen Hinweis auf mögliche Risiken und Komplikationen, auch dann nicht, wenn das Vorhaben erkennbar auf eine Wand zufährt. Im Gegenteil: Man sieht mit klammheimlicher Freude zu, wie sich Probleme anbahnen, achtet dabei sorgfältig darauf, dass nicht das geringste Verdachtsmoment auf einen selbst fallen kann, ergeht sich nach dem Crash in scheinheiligem Bedauern und erklärt seine Bereitschaft, beim nächsten Mal gerne mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, sofern man nur rechtzeitig gefragt wird. Und blickt alsdann voller Befriedigung auf dieses Meisterstück an unternehmenskultureller Weiterbildung, das einem da wieder einmal gelungen ist.
Nicht keine Abstimmung, sondern weniger
Selbst auf die Gefahr, kleinmütig zu wirken, empfehle ich daher einen weniger heroischen Ansatz. Denn wer sich mit dem gesamten System auf einmal anlegt und dessen anerkannte Regeln umzustoßen versucht, gewinnt zwar vielleicht viel Ehr’, aber nicht unbedingt viel Erfolg. Wer daher nicht erstens viel Macht für und zweitens Lust auf einen längeren Machtkampf hat, fährt wahrscheinlich besser mit einem weniger spektakulären Vorgehen, nämlich mit einer konsequenten Reduzierung des Abstimmradius.
Sich mit anderen abzustimmen, ist ja nicht generell sinnlos; sinnlos und schädlich ist eigentlich nur, den Kreis der Adressaten so weit zu ziehen, dass man sich am Ende mit der halben Menschheit auf einen gemeinsamen Nenner verständigen muss. Die intensive Abstimmung sollte sich daher konsequent auf diejenigen internen und gegebenenfalls externen Partner beschränken, deren maßgebliche Unterstützung für das Vorhaben benötigt wird und/oder die von den beabsichtigten Veränderungen ernsthaft betroffen sein werden.
Die Geister gar nicht erst rufen
Zu große Verteiler
Gar nicht so selten tragen allerdings die Projektverantwortlichen selbst aktiv zu dem übertriebenen Abstimmaufwand bei, den sie dann hinterher beklagen. Denn häufig laden sie für die ersten Abstimmrunden schlicht zu viele Leute ein. Oft entsteht dann ein kurioses Wechselspiel, das letztlich zu einer Aufblähung des Teilnehmerkreises und damit auch des Abstimmaufwand führt: Die Initiatoren eines Veränderungsvorhabens laden “sicherheitshalber” zu einer ersten Abstimmrunde nicht nur diejenigen ein, deren Unterstützung zwingend benötigt wird, sondern auch etliche derer, die davon am Rande tangiert sind oder vielleicht tangiert sein könnten, so nach dem Motto: “Dann können die Betreffenden ja selbst entscheiden, ob sie einbezogen sein wollen oder nicht!”
Bei den Adressaten werden diese Einladungen nicht selten mit Verwunderung aufgenommen: “Ich verstehe gar nicht, wieso die mich dazu einladen. Das Thema betrifft uns doch eigentlich gar nicht. Aber irgendeinen Grund wird es schon geben. Also gehen wir sicherheitshalber mal hin!” In vielen Fällen wäre es deshalb schon ein guter Anfang, die Geister gar nicht erst zu rufen, die man später nicht mehr loswird.
Zu viele Köche
Denn wenn die Leute einmal da sind, dann reden sie auch mit. Und dabei beschränken sie sich natürlich nicht auf jene Randaspekte, derenthalben sie (überflüssigerweise) eingeladen wurden, sondern tragen ihre Gedanken, Ideen und Vorschläge auch zu vielen anderen Aspekten bei, zu denen sie eine Meinung haben. Was in aller Regel gut und konstruktiv gemeint ist, aber in Summe dennoch zu einem erheblichen Anstieg der Komplexität, des Zeitbedarfs und der Störanfälligkeit führt.
Auf einmal entstehen dann hitzige Debatten zwischen (beinahe) Unbeteiligten, und aus der Eigendynamik dieser Debatten heraus entstehen Weichenstellungen, die sowohl die Stoßrichtung als auch den Aufwand des Vorhabens verändern, ohne dass sich dafür irgendwer wirklich verantwortlich fühlt: “Selbstverständlich habe ich meine Meinung dazu gesagt; dafür war ich ja wohl auch eingeladen. Aber ich bin doch nicht Herr des Verfahrens!”
Lähmende Sitzungen
Dann passiert oft der zweite Fehler: Nachdem einmal in einem zu großen Kreis begonnen wurde, überprüft in der Regel niemand mehr, ob es tatsächlich in dieser großen Runde weitergearbeitet werden sollte. Entweder weil nicht an die Möglichkeit einer Verkleinerung gedacht wird oder um niemanden vor den Kopf zu stoßen, bleibt man bei der bisherigen Zusammensetzung – sofern nicht ein paar Übereifrige noch weitere Teilnehmer vorschlagen. Und bald klagen die einen über die Unzahl von Sitzungen, an denen teilzunehmen sie sich gezwungen fühlen, die anderen darüber, dass die Sitzungen bei immer unbefriedigenderen Ergebnissen immer länger dauern. Nach einer Weile kommen die ersten nicht mehr selbst, sondern schicken ihre Stellvertreter – die natürlich von Tuten und Blasen keine Ahnung haben und sich ohne Rücksprache mit ihrem Chef keine Meinung zu haben trauen. Spätestens dann ist das Vorhaben wirklich in Not.
Konsequente Begrenzung des Abstimmradius
Selektive Einbeziehung
Um in diese Falle gar nicht erst zu geraten, ist es ratsam, sich vor den ersten Abstimmrunden sehr genau zu überlegen, wer daran wirklich teilnehmen muss. Nur diejenigen, die von den beabsichtigten Veränderungen stark betroffen sind oder für deren Unterstützung benötigt werden, sollten Sie von Anfang an intensiv einbeziehen. Mit allen, die nur am Rande betroffen sind oder von denen nur geringe Unterstützung erforderlich ist, kann die Abstimmung hingegen ad hoc und im bilateralen Kontakt erfolgen.
In Zweifelsfällen ist es besser, zum Telefonhörer zu greifen und die Betreffenden ganz direkt zu fragen, ob sie an einer Abstimmrunde teilnehmen wollen, als sie sicherheitshalber einzuladen: Der direkte Kontakt erspart das Doppel-Missverständnis von “sicherheitshalber einladen” und “sicherheitshalber teilnehmen”, und viele Manager sind froh, wenn sie sich auf diesem Weg ein weiteres Meeting ersparen können. Menschen mit großem Kontrollbedürfnis, die von sich aus dazu neigen, sicherheitshalber überall teilzunehmen, aber genau deshalb auch völlig überlastet sind, lassen sich oft mit der Zusicherung beruhigen, sie auf dem Laufenden zu halten und sie bei Themen, die sie betreffen, direkt zu konsultieren.
Nachträgliche Korrekturen
Falls es dafür schon zu spät ist, können Sie “überflüssige” Teilnehmer auch nach der ersten Sitzung fragen, ob sie tatsächlich regelmäßig an den Abstimmgesprächen teilnehmen wollen. Wenn die Sitzung eher zäh verlief, bietet es sich an, den momentanen Überdruss zu nutzen und die Frage in der großen Runde zu stellen; wenn sie “energiegeladen” war, ist es klüger, einige Tage später am Telefon nachzufragen. Ähnlich können Sie auch vorgehen, wenn sich bereits eine regelmäßige Abstimmrunde etabliert hat, die Sitzungen aber immer mühsamer und unergiebiger geworden sind. Mit Widerstand müssen Sie allerdings dann rechnen, wenn die Teilnehmer den Eindruck haben, sie sollten “ausgebootet” werden, weil ihre Einflussnahme auf die anstehenden Entscheidungen unerwünscht ist.
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Über den Autor
Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung.