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Intuition ist fehlbar
Zwei fehleranfällige Systeme …
Verstand und Logik sind bekanntlich nicht unfehlbar – Gefühl und Intuition aber leider auch nicht. Den wenigsten Fans der Intuition ist zum Beispiel klar, dass die meisten Manipulationstechniken darauf abzielen, uns trickreich zu einer “falschen”, für uns nachteiligen Intuition zu führen. (Welche Mechanismen und Strategien dabei eingesetzt werden, hat der amerikanische Psychologe Robert Cialdini überaus spannend zusammengefasst in Die Psychologie des Überzeugens.)
… können sich gut ergänzen
Die Beliebtheit der Intuition hängt wohl auch damit zusammen, dass viele hoffen, sich auf diese Weise die Mühsal einer systematischen Analyse und des sorgfältigen Nachdenkens ersparen zu können. Doch aus der Tatsache, dass jemand das Denken verweigert, folgt noch keine Gefühlstiefe. Die Kunst nicht nur im Change Management, sondern bei jeder Entscheidung im Leben ist, Rationalität und Intuition so zusammenzuführen, dass sie sich ergänzen und gegenseitig befruchten. Wenn Sie beide Quellen verbinden, steigen die Chancen auf ein optimales Ergebnis.
Rationalität und Intuition: Nicht Gegensatz, sondern Ergänzung
Wie funktioniert Intuition?
Dazu muss man wissen, dass das, was wir “Intuition” nennen, keine metaphysische Kompassnadel ist, die uns auf geheimnisvolle Weise unfehlbar den richtigen Weg weist. Intuition ist nichts weiter als eine unbewusste, ganzheitliche Verarbeitung und Bewertung der uns vorliegenden Wahrnehmungen, Eindrücke und Erkenntnisse. Je nachdem, welche Fakten, Informationen und Beobachtungen uns vorliegen, entstehen daher völlig unterschiedliche Intuitionen.
Intuition 1 und Intuition 2
Die intuitive Bewertung, die wir nach einer sorgfältigen Analyse aller Fakten entwickeln (“Intuition 2”) kann weit von unserer ersten “Bauchgefühl” abweichen, das wir auf der Basis unvollständiger und womöglich einseitiger Informationen spontan entwickelt haben (“Intuition 1”). Doch selbst wenn sie es nicht tut, ist das nicht unbedingt ein Wahrheitsbeweis: Möglicherweise haben wir in unserer vermeintlich rationalen Analyse hauptsächlich die Fakten zur Kenntnis genommen, die unser Gefühl bestätigen. In der Psychologie spricht man von “Confirmation Bias” – früher nannte man das “sich in die Tasche lügen”. So oder so: Unser Verstand ist Knecht unseres Wollens.
Wertvolle Ergänzung
Aus Rationalität und Intuition einen Gegensatz zu machen, ist ungefähr so intelligent wie, einen Gegensatz zwischen Sehen und Hören zu konstruieren, und dann zu behaupten, dass nicht das Sehen, sondern das Hören der überlegene Weg der Wahrnehmung sei. Genau wie Hören und Sehen sind Verstand und Gefühl zwei komplementäre Formen, uns die Realität zu erschließen. Das analytische Denken zerlegt, zergliedert, erforscht im Detail – das synthetische setzt die Vielzahl von Einzeleindrücken zu einem geschlossenen Ganzen zusammen. Wer eines davon ausblendet, beraubt sich eines wesentlichen Teils seiner Orientierungsmöglichkeiten. Gleich ob er sich dem rationalen oder dem emotionalen Teil verschließt, in beiden Fällen geht etwas Wesentliches verloren.
Paradoxe Entscheidungs-regel
Daraus folgt eine scheinbar paradoxe Entscheidungsregel, die Verstand und Intuition auf genial einfache Weise zusammenbringt. Sie lautet: Registrieren Sie aufmerksam Ihr erstes spontanes Gefühl (“Intuition 1”), aber folgen Sie ihm nicht blind. Analysieren Sie stattdessen so rational wie irgend möglich alle verfügbaren Fakten und Informationen – und schauen Sie sich dabei gerade auch jene Informationen genau an, die nicht zu Ihren Vorstellungen passen. Wenn Sie dann alles durchgearbeitet und durchdrungen haben, lassen Sie es sich setzen – und entscheiden Sie am Schluss “aus dem Bauch heraus” (Intuition 2)!
Alternativen “zweigleisig” bewerten
Die Intuition ist schneller
Die Intuition ist immer schneller als der Verstand. Schon längst bevor Sie angefangen haben, nachzudenken, wie Sie sich entscheiden sollen, spüren Sie tief in Ihrem Inneren eine mehr oder weniger klare Tendenz in die eine oder in die andere Richtung. Oder Sie sind, schon lange bevor Sie die Fakten zu analysieren begonnen haben, unentschieden, fühlen sich hin und her gerissen, und spüren, wie weiland Doktor Faustus, “zwei Seelen, ach, in Ihrer Brust”.
“Intuition 1” bewusst registrieren
Nehmen Sie dieses spontane Bauchgefühl (Ihre “Intuition 1”), so wie es ist, aufmerksam zur Kenntnis. Dieses erste spontane Gefühl ist weder gut noch schlecht – es ist einfach. Sie sollten es weder unterdrücken und bekämpfen noch als heimlichen Fingerzeig verstehen, was am Ende die richtige Entscheidung sein wird: Nehmen es einfach mit freundlichem Interesse zur Kenntnis.
Wenn Sie ihm zu viel Gewicht geben, besteht die Gefahr, dass Ihnen Ihr uneingestandener Wunsch, dass Ihr bevorzugtes Ergebnis herauskommen soll, Ihnen beim Bewerten der Alternativen die Feder führt. Wenn Sie bei einer systematischen Bewertung die Punkte kunstvoll so verteilen, dass am Ende das “richtige” Ergebnis herauskommt, dann können Sie sich die Mühe einer Bewertung auch sparen – und damit auch den darin enthaltenen Selbstbetrug.
Ihre Intuition verstehen
Versuchen Sie nun in einem ersten Schritt, Ihre “Intuition 1” zu verstehen, das heißt, die Gründe für Ihre Präferenz in die eine oder in die andere Richtung (bzw. für Ihr Dilemma) herauszufinden. Listen Sie dazu einfach auf, was für und was gegen die verschiedenen Optionen spricht. Setzen Sie Nebenaspekte in Klammern, und unterstreichen Sie die Punkte, die Ihnen besonders wichtig oder gar zentral erscheinen – damit haben Sie auch gleich eine Dreiteilung in Muss-, Soll- und Kann-Anforderungen.
Gleichen Sie diese Liste in einem zweiten Schritt mit Ihren Anforderungen ab, denen Ihre Entscheidung genügen soll oder muss. Vermutlich wird es da viele Überlappungen geben; möglicherweise entdecken Sie aber auch noch einige Ergänzungen.
Systematische Bewertung
Der dritte Schritt kann sein, bei wichtigen Entscheidungen eine Entscheidungstabelle anzulegen. Listen Sie alle Kriterien auf, die Ihnen wichtig sind: Zunächst die Muss-Kriterien, ohne die eine Option nicht in die engere Wahl kommt, dann die Soll- und am Schluss die Kann-Anforderungen. Alternativ können Sie auch eine Gewichtung für die einzelnen Kriterien über Multiplikatoren festlegen. Und dann bewerten Sie mit Punkten (zum Beispiel auf einer Skala von 1 – 10), wie gut Ihre Optionen die einzelnen Kriterien erfüllen. Der Rest ist Punkt- und Strichrechnung (davon allerdings eine ganze Menge).
Über die Analyse zur “Intuition 2”
Vergleich Analyse / Intuition
Wenn das Ergebnis Ihrer Analyse vorliegt, kommt der spannende Moment: Achten Sie dann aufmerksam darauf, welches Gefühl das Resultat der Bewertung bei Ihnen auslöst. In der Regel wird es eine von drei Möglichkeit sein:
- Entweder spontane Zufriedenheit – dann stimmen Analyse und Intuition überein, und Sie wissen, was Sie tun werden. (Das kann ein sehr starkes Gefühl sein, aber auch ein wenig ausgeprägtes, das einfach nur mit einer gewissen stillen Befriedigung feststellt: “Das ist in Ordnung so!”)
- Oder Enttäuschung – dann ist das Ergebnis weniger klarer als Sie es sich erhofft hatten; das heißt, die “zwei Seelen in der Brust” spiegeln sich auch in der Auswertung.
- Oder ein deutliches Missbehagen – dann hat die Analyse ein anderes Resultat gebracht als Sie sich gewünscht haben.
Wenn Gefühl und Analyse sich widersprechen
Wenn Ihr Bauchgefühl und Ihre Analysen sich widersprechen, dann ist das insofern eine gute Nachricht, als Sie sich dann sicher sein können, dass Sie sich bei den Analysen nicht “in die Tasche gerechnet” haben. Die schlechte Nachricht ist, dass Sie dann vor einer Entscheidung noch weiteren Klärungsbedarf haben.
Die Abweichung kann zwei Gründe haben kann: Entweder Sie gewichten gefühlsmäßig einzelne Kriterien Ihrer Liste anders als es auf Ihrem Zettel steht – oder es fehlt auf Ihrem Zettel noch ein wichtiges Kriterium (oder mehrere). Möglicherweise müssen Sie hier ein Stück “Empathie für sich selbst” investieren: Was genau ist es, das Ihr Unbehagen mit dem Ergebnis der rationalen Bewertung auslöst? In jedem Fall ist diese Diskrepanz zwischen Analyse und Intuition ein Signal, das Sie ernst nehmen sollten. Bemühen Sie sich, die Ursache der Diskrepanz aufzuklären, und prüfen Sie, was dies für Sie bedeutet.
Umgang mit Unentschiedenheit
Am quälendsten ist, wenn sich die Unentschiedenheit sowohl in der analytischen Bewertung als auch in Ihrer Befindlichkeit widerspiegelt. Wenn also nach der rationalen Bewertung zwei oder mehrere Alternativen nahezu gleichauf sind, wenn auch vielleicht aus unterschiedlichen Gründen, und die “zwei Seelen” gleichzeitig auch in ihrem Bauch miteinander ringen.
Das kann zwei mögliche Gründe haben: Entweder liegen die beiden Alternativen sehr nahe beieinander. In diesem Fall gibt es eine verblüffend einfache Lösung: Wählen Sie einfach nach Zufall oder Lust und Laune irgendeine Alternative. Sie können in diesem Fall das beruhigende Gefühl haben: Gleich wie Sie sich entscheiden, werden Sie keinen großen Fehler machen, weil die beiden Alternativen offenbar ziemlich gleichwertig sind, jedenfalls aus Ihrer heutigen Sicht. (Natürlich kann es sein, dass sich im weiteren Verlauf noch Dinge herausstellen, die Sie heute noch nicht wissen. Aber das ist prinzipiell immer so, doch es kann heute nicht berücksichtigt werden.)
Oder aber – das ist der schwierigere Fall – es sträubt sich alles in Ihnen gegen eine solche Zufallswahl. Dann stehen sie vermutlich vor zwei Alternativen, von denen die eine relativ sicher, aber mäßig attraktiv, und die andere wesentlich attraktiver, aber auch mit deutlich mehr Risiko behaftet ist. Dann ist das eigentliche Dilemma Ihre Risikobereitschaft: Wollen Sie lieber mit höherem Einsatz auf den höheren “Gewinn” setzen oder bleiben Sie lieber auf der sicheren Seite? In diesem Dilemma hilft Ihnen vielleicht ein Trick.
Rückblick aus der Zukunft
Der “Trick” lautet: Machen Sie einen Zeitsprung und versetzen Sie sich gedanklich in die Zeit, wo Sie – im Positiven wie im Negativen – die Früchte Ihrer Entscheidung ernten. Und prüfen Sie dann, mit welcher Alternative Sie im Rückblick zufriedener sein werden. (Dieser Trick hat mir zum Beispiel bei der Entscheidung für die Selbständigkeit geholfen. Als ich mich fragte, mit welche Weg ich zufriedener sein werde, wenn ich einmal siebzig bin und zurückschaue auf mein Leben, wurde mir klar, dass ich besser damit leben könnte, gescheitert zu sein, als es gar nicht erst versucht zu haben.)
Der Intuition ein bisschen Zeit lassen
Nach all diesen Überlegungen ist der Punkt erreicht, ab dem Sie den Rest der Arbeit an Ihr Unterbewusstes delegieren können und sollten. Sie haben nun alle erforderlichen Vorarbeiten gemacht – möglicherweise braucht Ihre “Intuition 2” ein bisschen Zeit zum Reifen. Setzen Sie sich dabei nicht zu sehr unter Zeitdruck. Zwar hat es keinen Sinn, ewig zu warten, aber es bringt auch nichts, sich nach dem unsinnigen Mythos, dass gute Manager immer schnell entscheiden, unter Zugzwang zu setzen. Die alte Lebensweisheit, eine Nacht darüber zu schlafen (oder auch zwei), hat ihre Berechtigung.
Literatur:
Cialdini, Robert B. (2004):Thinking, Fast and Slow
Deutsch: Schnelles Denken, langsames Denken
Kahneman, Daniel; Klein, Gary (2009): Conditions for Intuitive Expertise – A Failure to Disagree
Trivers, Robert (2011): The Folly of Fools – The Logic of Deceit and Self-Deception in Human Life
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Über den Autor
Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung.