Inhaltsverzeichnis:
- 1 Das Konstante an einem Menschen
- 2 Anlage und Umwelt
- 3 Wie uns früheste Erfahrungen und Entscheidungen prägen
- 4 Faktoren oder Dimensionen der Persönlichkeit
- 5 Ist “Persönlichkeitsentwicklung” ein Widerspruch in sich?
- 6 Festgefügtes Welt- und Menschenbild
- 7 Handlungssicherheit verträgt keine Zweifel
- 8 Wann ein Hinterfragen der eigenen “Wirklichkeitskonstruktion” am nützlichsten ist
- 9 Konsequenzen für das Change Management
- 10 Umgang mit unterschiedlichen Persönlichkeiten
- 11 Mit mehreren Köpfen gleichzeitig denken
- 12 Einfühlung in größere Gruppen und Organisationseinheiten
- 13
- 14 Kostenfreies Erstgespräch
Das Konstante an einem Menschen
Die ganz persönliche Art
Die Persönlichkeit eines Menschen, sein Charakter oder, mit dem individualpsychologischen Begriff, sein Lebensstil ist seine ganz eigene Art, wie er auf die großen und kleinen Fragen des Lebens antwortet: Welche bewussten oder unbewussten Ziele er verfolgt, welche Strategien und Taktiken er dafür einsetzt, ob er mit Optimismus oder Pessimismus an die Dinge herangeht, wie er auf unerwartete Ereignisse reagiert, wie ängstlich oder mutig er in unterschiedlichen sozialen Situationen agiert, und so weiter. Diese persönlichen Muster sind maßgeblich bestimmt davon, wie wir uns selbst, andere Menschen und die Welt sehen. Unser Selbst-, Menschen- und Weltbild wiederum ist geprägt davon, welche Erfahrungen wir bislang in unserem Leben gemacht haben, aber noch mehr davon, welche Schlussfolgerungen wir aus diesen Erfahrungen gezogen haben.
Anlage und Umwelt
Angeboren und erworben
Die alte Streitfrage, ob und in welchem Umfang die Persönlichkeit “angeboren”, also genetisch determiniert, oder “erworben”, also von der Umwelt geprägt ist, geht ins Leere, weil sie ein falsches Entweder-Oder suggeriert: In der Persönlichkeit eines Menschen trifft immer beides zusammen. Kein einziges Merkmal ist ausschließlich durch die Anlagen oder ausschließlich durch die Umwelt bestimmt. Was die Genetik nicht zulässt, kann die Umwelt nicht hervorbringen, aber vieles, was genetisch möglich wäre, kommt nur unter bestimmten Umweltbedingungen zum Tragen.
Wechselwirkung von Anlage und Umwelt
Der Göttinger Evolutionsbiologe Prof. Eckard Voland illustriert dies in seinem Grundriss der Soziobiologie mit einem einprägsamen Beispiel: Die menschliche Haut besitzt die Fähigkeit, Schwielen zu bilden – doch sie entwickelt solche Schwielen nur bei starker Belastung. Sind diese Schwielen nun “angeboren” oder sind sie “von der Umwelt geprägt”? Offensichtlich sind sie durch Umwelteinflüsse hervorgerufen, nämlich durch wiederholte Belastung. Andererseits konnten sie sich nur herausbilden, weil die Haut die – angeborene! – Fähigkeit zur Schwielenbildung besitzt, sprich, dazu in der Lage ist, stark strapazierte Hautstellen durch die Bildung von Hornhaut zu schützen. Hätte sie sie nicht, würde die Haut durch die ständige Belastung einfach nur aufgerieben und immer weiter zerstört.
Ein Rahmen ist gesteckt
Ähnlich ist es bei der Persönlichkeit: Unweigerlich ist unsere Art, wie wir auf die Herausforderungen des Lebens “antworten”, maßgeblich davon bestimmt, mit welchen Herausforderungen uns das Leben konfrontiert – und damit von unserer Umwelt. Aber diese Reaktionsweisen entwickeln sich in dem Rahmen, der durch unsere Anlagen gesteckt ist: So, wie es nicht in unseren Möglichkeiten liegt, aus eigener Kraft zu fliegen, auch wenn das unter bestimmten Umständen noch so praktisch wäre, können wir beispielsweise auch nichts daran ändern, dass wir Menschen soziale Wesen sind, deren gesamtes Tun und Lassen seinen Sinn in Bezug auf andere Menschen findet. Gleich wie sehr wir uns das wünschen, wir sind nicht zu Einzelgängern geschaffen wie zum Beispiel Bären oder Luchse, die sich nur zur Paarung treffen und ansonsten glücklich und zufrieden ohne ihre Artgenossen durch die Wälder streifen.
Es gibt wohl genetische Vorgaben
Welche Persönlichkeitsmerkmale in einem Menschen tatsächlich genetisch angelegt sind, zählt zu den schwierigsten Forschungsfragen überhaupt. Anhaltspunkte darüber, in welchem Umfang Charakterzüge angeboren sind, kann man im Grunde nur durch der Untersuchung von eineiigen Zwillingen gewinnen, die noch dazu getrennt aufgewachsen sein müssen, und zwar idealerweise in möglichst unterschiedlichen sozialen Umgebungen oder Kulturkreisen: Wenn solche Zwillinge trotz völlig unterschiedliche Umwelten starke Übereinstimmungen in ihrer Persönlichkeitsstruktur aufweisen, kann man vermuten, dass diese Übereinstimmungen genetisch bedingt sind.
Wie uns früheste Erfahrungen und Entscheidungen prägen
Früheste Einflüsse und Erfahrungen
Allerdings muss man selbst dafür eine Annahme machen, die man durchaus anzweifeln kann: Dass nämlich die vorgeburtlichen Lebensmonate, die diese Zwillinge gemeinsam im Leib ihrer Mutter verbrachten, sowie der Lebensstil ihrer Mutter und ihre Lebensumstände während der Schwangerschaft keine nennenswerten Auswirkungen auf die Entwicklung ihrer Persönlichkeiten hatten. Was letztlich eine Glaubensfrage ist, auch wenn es mir persönlich kaum plausibel erscheint.
Einflüsse der (Bio-)Chemie
Immerhin weiß man, dass es für Kinder schädlich ist, wenn ihre Mütter während der Schwangerschaft Alkohol trinken oder Drogen nehmen. Also kann man annehmen, dass auch die körpereigene Chemie das ungeborene Kind beeinflusst. Daher ist es zumindest möglich, dass auch die seelische Verfassung der werdenden Mutter bleibende Auswirkungen auf ihre Kinder hat. Wenn die mütterlichen Hormonchemie etwa von Ängsten oder depressiven Stimmungen geprägt sind, hat das möglicherweise dauerhaft prägende Einflüsse, genauso wenn sie von Heiterkeit und Optimismus bestimmt sind oder von einer ständigen Achterbahnfahrt der Emotionen.
Unterschiedliche Charaktere von Geschwistern
Ein häufig zitierter und vermeintlich unfehlbarer Nachweis für den Einfluss der “Erbmasse” auf den Charakter ist übrigens keiner: Viele Menschen glauben, ein klarer Beweis für die genetische Bestimmtheit der Persönlichkeit läge darin, dass Kinder oft völlig unterschiedliche Charaktere entwickeln, “obwohl sie doch Geschwister sind”. Die Individualpsychologie sieht es genau umgekehrt: Sie sind so unterschiedlich, gerade weil sie Geschwister sind. Und weil sie deshalb unterschiedliche Rollen bzw. “ökologische Nischen” in ihrer Familie besetzen “müssen”.
Das älteste Marketing-Problem der Geschichte
Jedes neugeborene Geschwisterchen steht nämlich vor dem ältesten Marketingproblem der Menschheitsgeschichte: Wie finde ich meinen Platz in der Familie? Wie schaffe ich es, als eigenständiges Individuum wahrgenommen und behandelt zu werden und nicht nur als kleinere Ausgabe meiner älteren Schwester oder meines Bruders? Und da ist bei allen Besonderheiten des Einzelfalls eines ziemlich offensichtlich: Je ähnlicher sie dem oder der Älteren sind, desto weniger werden sie als etwas Eigenes wahrgenommen – und je mehr ich sie von ihm oder ihr abheben, desto “sichtbarer” werden sie: ein klarer Anreiz für die Entwicklung unterschiedlicher Charaktere!
… unter Nutzung verfügbarer “Angebote”
Bei der Wahl der eigenen Position bietet es sich natürlich an, vorhandene körperliche und geistige Merkmale zu nutzen: Wenn ein Kind immer wieder dafür bewundert wird, wie hübsch es ist, liegt damit die Einladung auf dem Tisch, die Rolle des oder der “Schönen” zu übernehmen; wenn sie handwerklich besonders geschickt ist, bietet sich die Rolle der “Praktischen” an, usw. Aber das sind nur Angebote, keine starren Vorgaben: Am Ende wählt jedes Kind seinen Weg – und wird wiederum durch den Weg, den es gewählt hat, geprägt.
Neupositionierung schwierig
Das ist eine wichtige Weichenstellung: Wenn man sich einmal auf eine bestimmte “Positionierung” festgelegt hat, ist man auch auf sie festgelegt, und es würde erhebliche Anstrengungen erfordern, sie zu wechseln. Denn dann hat man sich nicht nur selbst auf eine bestimmte Rolle spezialisiert, auch die soziale Umgebung nimmt einen nun als einen ganz bestimmten Charakter wahr und lässt sich davon nicht mehr so ohne Weiteres abbringen. Wer also erst als Erwachsener bemerkt, dass die Rolle der “Prinzessin” oder des “jugendlichen Rebellen” auf die Dauer etwas limitierend ist, hat einen schwierigen “Brand Relaunch” vor sich. Das sind dann die Fälle, über die die Umgebung hinter vorgehaltener Hand spottet, sie hätten sich ihre Frühreife bis ins hohe Alter bewahrt oder gäben auch noch als Greis den unwiderstehlichen Verführer.
Faktoren oder Dimensionen der Persönlichkeit
Angeborene Persönlichkeits-merkmale
Doch auch wenn frühe Erfahrungen und Entscheidungen eine prägende Rolle spielen, völlig unabhängig davon übrigens, ob sie bewusst, unbewusst oder irgendwo dazwischen getroffen wurden, gibt es nach dem derzeitigen Stand der Forschung auch Hinweise darauf, dass es in der Tat genetische die Persönlichkeit beeinflussen. Ob wir beispielsweise extrovertiert oder introvertiert sind, ist vermutlich wohl wirklich nicht nur die Folge unserer früh getroffenen Entscheidungen, es scheint teilweise auch “in den Genen zu liegen”. Ob ich mich als Introvertierter allerdings ins Kämmerlein zurückziehe und programmiere oder ob ich meine Introvertiertheit als Verkaufskanone “überkompensiere”, das wiederum ist meine Wahl.
Die Suche nach “Persönlichkeits-dimensionen”
Seit vielen Jahrzehnten strebt daher ein spezieller Zweig der Psychologie, die Differenzielle oder Persönlichkeitspsychologie (früher auch Charakterkunde genannt), danach, allgemeine “Dimensionen der Persönlichkeit” oder “Persönlichkeitsfaktoren” herauszuarbeiten, die eine treffende und möglichst umfassende Beschreibung des Charakters unterschiedlicher Menschen ermöglichen – und ihn auch gleich mit entsprechenden Persönlichkeitstests bestimmen zu können. Sehr bekannt und zugleich empirisch fundiert ist zum Beispiel der “16PF”, der von Raymond Cattell (1905 – 1998) anhand einer Faktorenanalyse entwickelt wurde und, wie der Name ahnen lässt, insgesamt 16 abgrenzbare Persönlichkeitsfaktoren abbildet bzw. operationalisiert.
Die “Big Five”
Persönlichkeitstheorien und -modelle gibt es wie Sand am Meer. Offenbar überkommt fast jede/n, der sich intensiver mit Psychologie beschäftigt, irgendwann das Bedürfnis, zu beschreiben, was für unterschiedliche Charaktere es gibt, und zu erklären, warum Menschen so unterschiedlich sind wie sie sind. Als wirklich stabil haben sich jedoch über unzählige empirische Untersuchungen hinweg nur die “Big Five” erwiesen: Fünf Persönlichkeitsdimensionen, die in den verschiedensten Studien und Forschungsansätzen immer wieder auftauchen und so etwas wie den “harten Kern” der Persönlichkeit auszumachen scheinen.
Das OCEAN-Modell
Mnemotechnisch vorteilhaft werden diese “Big Five” auf Englisch in der OCEAN-Formel zusammengefasst:
- O Offenheit: konservativ, vorsichtig, verschlossen vs. neugierig, offen, experimentierfreudig
- C Gewissenhaftigkeit (conscientousness): unbekümmert, nachlässig vs. effektiv, strukturiert, ordnungsliebend
- E Extraversion: zurückhaltend, reserviert vs. gesellig, kommunikativ
- A Verträglichkeit (agreeableness): wettbewerbsorientiert, kämpferisch vs. kooperativ, freundlich, mitfühlend
- N Neurotizismus: selbstsicher, ruhig vs. emotional labil, verletzlich
Sehr statisches Persönlichkeitsbild
Gemeinsam ist all diesen Persönlichkeitstests und -modellen eines: Sie liefern ein statisches Bild der Persönlichkeit. Wer sein Testergebnis kennt, weiß nicht nur, was für ein Mensch er ist; vielmehr wird suggeriert, er erführe damit zugleich auch, was für ein Mensch er schon immer war und bis zu seinem Tod bleiben wird. (Oder möglicherweise noch länger – oder ändert sich unseren Charakter, wenn wir in den Himmel kommen? Naja, vielleicht werden wir dadurch etwas sanftmütiger. Aber in der Hölle?)
Ist “Persönlichkeitsentwicklung” ein Widerspruch in sich?
Wie veränderbar ist “Persönlichkeit”?
Diese statische Betrachtung hat insofern ihre Berechtigung, als Persönlichkeit ja definitionsgemäß das beschreibt und beschreiben soll, was konstant ist an einem Menschen. Trotzdem stellt sich die Frage, ob “konstant” zwangsläufig auch “unabänderlich” bedeutet: Sind die betreffenden Persönlichkeitsmerkmale tatsächlich über die gesamte Lebensspanne stabil und vielleicht sogar überhaupt nicht veränderbar? Sind sie wirklich immun gegen positive wie negative Erfahrungen, gegen Traumatisierungen genauso wie gegen neue Erkenntnisse, Einsichten und Entscheidungen? Falls ja, wäre der Begriff Persönlichkeitsentwicklung ein Widerspruch in sich.
Tatsächlich hohe Stabilität über die Zeit
Im Prinzip lässt sich diese Frage sogar empirisch untersuchen – und dabei stellen die meisten Untersuchungen fest, dass sich die gemessenen Persönlichkeitsmerkmale auch bei länger auseinanderliegenden Messzeitpunkten tatsächlich kaum ändern. Was sich ja auch mit Alltagserfahrungen deckt. Wenn man zum Beispiel alte Bekannte, etwa seine Abiturklasse, nach vielen Jahren wieder trifft, ist man erstaunt (und zum Teil erschrocken), wie ähnlich sich viele über all die Jahre geblieben sind.
Wir ändern uns nicht ohne Grund
Aber das ist streng genommen kein Beweis, dass sie sich nicht ändern können – es zeigt nur, dass die meisten Menschen es normalerweise nicht tun. Das ist ein großer Unterschied: Auch die Adresse ist ja bei den meisten Menschen über viele Jahre hinweg konstant – aber das beweist nicht, dass wir nicht umziehen könnten. Es zeigt nur, dass die allermeisten Menschen es nicht tun – oder nur dann, wenn sie einen wichtigen Grund dafür haben. Schließlich ist beides mit erheblichem Aufwand verbunden und hat in vielerlei Hinsicht “seinen Preis”.
Selbstgewählte Grenzen unserer Weiterentwicklung
Was uns als Menschen so konstant macht, ist nicht allein unsere nur feststehende, womöglich sogar genetisch determinierte Persönlichkeit, es ist mindestens im gleichen Maße, dass wir uns mit dem, wer und wie wir sind, häuslich eingerichtet haben und damit alles in allem gut zurechtkommen.
Ja, vermutlich steht es uns Menschen tatsächlich nicht völlig frei, welche Persönlichkeit wir entwickeln und ob, in welchem Ausmaß und zu welchem Ergebnis wir sie weiterentwickeln. Doch selbst die Forscher, die der Genetik einen hohen Stellenwert beimessen, stufen deren Einfluss bei den “Big Five” auf etwa 50 Prozent ein – was anderen Einflussfaktoren immerhin die andere Hälfte des Einflusses zumisst.
Häuslich eingerichtet im Status quo
Tatsächlich stoßen wir, lange bevor wir an die Grenzen der Genetik kommen, an die Grenzen unserer “narzisstischen Homöostase”, wie es der Philosoph Rupert Lay genannt hat, also an die Grenzen, die uns unsere eingespielten Denkgewohnheiten und Handlungsroutinen stecken, in denen wir uns bequem gemacht haben. Irgendwann wollen wir gar nicht mehr wissen, ob das Leben auch anders sein könnte, schließlich wissen wir ja, dass es so, wie es ist, ganz ordentlich geht. Mehr als von der Genetik sind die Grenzen unserer Entwicklung geprägt von unserer “Lerngeschichte”, unserem Selbst-, Welt- und Menschenbild – und vor allem von den unzähligen Entscheidungen, die wir auf unserem bisherigen Lebensweg getroffen haben.
Festgefügtes Welt- und Menschenbild
Selbstverständlich gewordene Annahmen
Das Problem an diesen Vorprägungen ist nicht, dass sie tief in unserem Unbewussten vergraben und unserem bewussten Denken unzugänglich wären. Das Problem ist im genauen Gegenteil, dass uns unsere Annahmen über die Realität so offenkundig und so unbezweifelbar richtig erscheinen – so klar und eindeutig richtig, dass es uns schlichtweg ausgeschlossen scheint, dass es auch anders sein könnte bzw. dass es sich dabei nur unsere eigene Wahl oder unsere subjektive Meinung handele.
Schon gegen die Formulierung “Unsere Annahmen über die Realität” würden viele protestieren: Das sind keine Annahmen über die Realität – das ist die Realität: “Ich habe es doch selbst tausendfach so erlebt!” Schon als Kinder und Jugendliche “wissen” wir ziemlich genau, wie die Welt ist und wie andere Menschen sind. Wir wissen, was wir selbst für ein Mensch sind, wo unsere Stärken und Schwächen liegen, was unsere Position im Leben ist, was wir tun müssen, um auf unsere Kosten zu kommen, und was wir auf keinen Fall tun dürfen, um keinen Stress zu bekommen: “So ist das Leben!”
Die Welt ist (auch) unser Echo
Und wir gehen mit der Welt so um, dass sie unsere Sichtweise in aller Regel bestätigt. Der Individualpsychologe Theo Schoenaker hat das wunderbar veranschaulicht in seiner Geschichte von den beiden Hunden, die nach China in den Tempel der tausend Spiegel reisen. Der eine ist ein fröhlicher, kontaktfreudiger Hund. Er läuft schwanzwedelnd in den Tempel hinein, bellt vergnügt – und begegnet Tausenden von fröhlichen, netten Hunden, die ihm ebenfalls schwanzwedelnd und freundlich begegnen. Als er wieder herauskommt, fühlt er sich bestätigt: Es ist genau wie er sich das schon immer gedacht hat – die Welt ist voll von netten, freundlichen Hunden.
Der andere Hund ist von seiner Grundhaltung her misstrauisch und defensiv. Er bewegt sich sehr vorsichtig in den Tempel hinein und knurrt den ersten Hund, der ihm begegnet, warnend an. Und als der ebenfalls knurrt, fängt er an, ihn heftig anzubellen. So geht es weiter: Lauter knurrende Hunde, die ihn, kaum dass sie ihn sehen, wütend ankläffen. Als er herauskommt, ist er völlig fertig und sagt sich: “Ich hab es gleich gewusst: Die Welt ist furchtbar gefährlich. Man ist ständig von Gefahren umgeben und kann gar nicht wachsam genug sein, muss sich ständig seiner Haut wehren.
Beinahe unveränderliches Weltbild
Es muss schon ziemlich viel passieren, bevor wir uns in unserer Sicht auf die Welt und auf uns selbst in Frage stellen oder gar korrigieren. Der erwähnte Philosoph und Managementberater Rupert Lay pflegt zu sagen: “Es gibt nur zwei Dinge, die die Eckpfeiler unseres Weltbilds verändern können, nämlich persönliche Katastrophen und – Psychotherapie.” Worauf er schelmisch hinzufügte, eine Psychotherapie sei im Grunde auch nur eine über die Zeit gestreckte Katastrophe. Allerdings gibt es noch eine dritte, weniger katastrophenträchtige Strategie, nämlich die, sich regelmäßig dem Feedback seiner Umgebung auszusetzen und so allmählich zu lernen, wo die eigene Sicht auf die Realität regelmäßig mit der von anderen kollidiert.
Unser Weltbild ist unser Halt
Weshalb wir unser Welt- und Menschenbild nicht ohne Weiteres in Frage stellen lassen, wird verständlich, wenn wir uns klarmachen, dass unsere gesamte Orientierung und Handlungssicherheit darauf aufbaut: Würden wir unsere zentralen Annahmen über uns selbst, über andere Menschen oder über die Welt in Zweifel ziehen oder gar als falsch betrachten, zöge uns dies buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Das ist so ähnlich, nur noch dramatischer, wie bei einem Umzug: Ist man an einen anderen Ort gezogen, kennt man sich auf einmal mit den einfachsten Sachen nicht mehr aus, und muss sich erst mühsam eine neue Orientierung aufbauen.
Drohender Verlust der Realitäts-orientierung
Würden wir unser Weltbild bezweifeln, wüssten wir auf einmal nicht mehr, wer wir sind und was wir erwarten, denken und fühlen sollten, geschweige denn, was wir tun sollen: Wenn andere Menschen gar nicht so sind, wie ich immer dachte, wie sind sie dann, und wie soll ich dann mit ihnen umgehen? Mit etwas Einfühlung ahnt man die Panik, die solch ein Gedanke auslöst – und der einfachste und beruhigendste Ausweg ist, sich hastig zu versichern: Nein, nein, ich täusche mich nicht, die Welt ist genau so, wie ich sie schon immer gesehen habe, und die Menschen sind so, wie ich weiß, dass sie sind.
Handlungssicherheit verträgt keine Zweifel
Beispiel Konstruktivismus
Wie wenig wir damit umgehen können, wenn unsere grundlegende Orientierung in Frage gestellt ist, lässt sich schön am Beispiel des Konstruktivismus’ zeigen. Er geht davon aus, dass unsere Wahrnehmung nicht die Realität widerspiegelt, sondern lediglich eine Konstruktion unseres Wahrnehmungsapparates ist. Wenn zwei Menschen daher denselben Gegenstand als “rot” bezeichnen, sei keineswegs sicher, so lehrt er, dass sie dabei die gleiche Farbwahrnehmung haben – ja, man könne nicht einmal sicher sein, dass sie den Gegenstand gleich wahrnehmen … oder dass es diesen Gegenstand überhaupt gibt.
In der Tat gibt es keinen einzigen objektiven Beweis dafür, dass ein Gegenstand tatsächlich so ist, wie wir ihn wahrnehmen. Selbst wenn wir dagegen stoßen, ist das Gefühl, an ein Hindernis gestoßen zu sein, letztlich nur eine Information aus unserem Wahrnehmungsapparat und lässt streng genommen keine zweifelsfreien Rückschlüsse auf den (mutmaßlichen) Gegenstand zu.
Unbrauchbar als Grundlage für das praktische Handeln
Doch was ein nettes, vielleicht auch etwas verstörendes Gedankenspiel ist, dem wir für einen kleinen Augenblick erlauben, unsere Weltsicht zu irritieren, erweist sich als völlig unbrauchbare Grundlage für das praktische Handeln. Deshalb verhalten sich auch leidenschaftliche Konstruktivisten im Alltag so, als ob sie noch nie etwas von Konstruktivismus gehört hätten: Sie weichen entgegenkommenden Autos aus, obwohl es für deren Existenz und Position keinen objektiven Beweis gibt, setzen sich auf Stühle, ohne wissen zu können, ob sie überhaupt vorhanden sind, und verhalten sich auch sonst so, als ob sie mehr über die objektive Wirklichkeit wüssten als ihnen ihre Theorie zugesteht. (Wohlgemerkt: Das widerlegt die Theorie des Konstruktivismus’ keineswegs, es zeigt nur, dass sie nicht als Handlungsgrundlage taugt.)
Zweifel und Unsicherheit sind Feinde des Erfolgs
Aber warum verhalten sich Konstruktivisten so widersprüchlich? Weil es gar nicht anders geht. Wir alle, ob Konstruktivisten oder nicht, können nur handeln, wenn wir Vertrauen in unsere Wahrnehmung haben. Unsere Handlungssicherheit ist dabei umso größer, je fester wir von der Richtigkeit unserer Wahrnehmung überzeugt sind.
Der Erfolg einer Handlung aber hängt nicht allein davon ab, ob die dahinter stehenden Annahmen über die Realität richtig sind, er hängt mindestens genauso sehr daran, mit wieviel Entschlossenheit sie ausgeführt wird. Daher sind Zweifel an der eigenen Wahrnehmung der Feind des Erfolgs. Wer entschlossen und voll Überzeugung handelt, hat bessere Erfolgsaussichten, selbst wenn seine Annahmen über die Realität nur teilweise richtig sind, als jemand, der “von Zweifeln angekränkelt” immer wieder einhält und grübelt, ob er auf dem richtigen Weg ist.
Randmarke
Das ist der tiefere Grund, weshalb Menschen sehr lange an ihrer Sichtweise festhalten, selbst wenn sie die Realität ziemlich zurechtbiegen müssen, um ihr Welt- und Menschenbild aufrechtzuerhalten. (Was man in der Psychologie dann selektive oder auch tendenziöse Wahrnehmung nennt.)
Wer zum Beispiel davon überzeugt ist, dass andere Menschen nur darauf aus sind, ihn auszunutzen und übers Ohr zu hauen, der wird erlebte Großzügigkeit und Entgegenkommen keineswegs als Widerlegung seines Weltbilds verstehen. Eher betrachtet er sie als einen besonders miesen Trick, um sich sein Vertrauen zu erschleichen und ihn dann umso leichter ausnehmen zu können. In ähnlicher Weise wird ein Mensch, der “weiß”, dass es letzten Endes doch immer nur ums Geld geht, altruistisches Verhalten anderer Personen entweder gar nicht zur Kenntnis nehmen, oder so umdeuten, dass seine Sichtweise “bestätigt” wird.
Wann ein Hinterfragen der eigenen “Wirklichkeitskonstruktion” am nützlichsten ist
Ja, wir machen unsere Erfahrungen
In diesem Zusammenhang verweist die Individualpsychologie gern auf die versteckte Doppeldeutigkeit des Satzes: “Wir machen unsere Erfahrungen”. Soll heißen: Erfahrungen sind nicht etwas, was uns völlig unabhängig von unserem eigenen Denken und Handeln widerfährt, vielmehr führen wir unsere Erfahrungen zu einem beträchtlichen Teil selbst herbei, genau wie die beiden Hunde im Tempel der tausend Spiegel. Trotzdem können wir nicht einfach beschließen, andere Erfahrungen “zu machen”, denn aus unserer Sicht ist die Welt nun einmal so wie sie (aus unserer Sicht) ist: Die anderen Hunde sind einfach nett – oder gefährlich.
Der Nutzen des Konstruktivismus’
Nützlich für den Alltag wird der Konstruktivismus bzw. generell die Fähigkeit, die eigene Sicht auf die Realität zu hinterfragen, in Situationen, wo sich die Dinge völlig anders entwickeln als erwartet. Und am meisten dann, wenn wir nicht mehr weiterkommen, weil die Adressaten anders reagieren als wir dachten, und wir uns keinen Reim auf ihre Reaktionen machen können. Dann hilft es, wenn wir uns bewusst machen, dass unser Handeln immer und unweigerlich auf Annahmen über die Wirklichkeit beruht. Diese Annahmen erweisen sich ja auch in sehr vielen Fällen als brauchbar (oder zumindest nicht völlig inkompatibel mit der Realität), aber halt nicht immer.
Der Realität eine faire Chance geben
Also ist es nützlich, dort, wo wir nicht mehr weiterkommen, unsere Annahmen zu überprüfen. Dann sollten wir es zumindest für möglich halten, dass wir von falschen (oder unvollständigen) Voraussetzungen – “Wirklichkeitskonstruktionen” – ausgegangen sind.
In solchen Fällen tun wir gut daran, der Realität eine faire Chance gegen unsere Annahmen zu geben, sprich, darüber nachzudenken, noch besser, das Feedback anderer Beteiligten einzuholen, ob denn die stillschweigenden Prämissen, von denen wir ausgegangen sind, tatsächlich der Wirklichkeit entsprechen. (Oder zumindest der Realitätswahrnehmung der anderen Beteiligten.) Der bereits erwähnte Rupert Lay nennt diese Fähigkeit, seine Annahmen kritisch zu hinterfragen, übrigens “Distanz zu eigenen Gewissheiten” – und betrachtet sie als eine Schlüsselqualifikation.
Konsequenzen für das Change Management
Nutzen für das Change Management
Alles ganz interessant, werden Sie nun vielleicht sagen, aber was hilft mir das für das Change Management? Eine Menge. Die eine wichtige Konsequenz ist zu verstehen, welche Rolle die eigene Persönlichkeit für die erfolgreiche Gestaltung von Change-Prozessen spielt: Damit befassen wir uns im Artikel Persönlichkeitsentwicklung. Die zweite ist zu erkennen, wie wir am besten mit anderen Persönlichkeiten umgehen, die ein Stück anders ticken als wir – oder möglicherweise sogar völlig anders. Das ist im Change Management von besonderer Bedeutung, weil wir mit unserem Vorgehen und unseren Argumenten ja möglichst alle Adressaten erreichen wollen und nicht nur diejenigen, die so ähnlich denken und empfinden wie wir.
Unterschiedliche Sichtweisen
Eine erste wichtige Ableitung ist, dass wir nicht so ohne Weiteres darauf vertrauen können und dürfen, dass andere Menschen die gegebene Situation – gleich ob beim Start eines Change-Prozesses oder irgendwo mittendrin – ähnlich wahrnehmen und bewerten wie wir und dass sie genauso darauf reagieren: Ein Veränderungsvorhaben, das dem einen harmlos erscheint und der anderen längst überfällig, empfindet eine Dritte vielleicht als bedrohlich. Entsprechend reagiert der eine entspannt, die andere begeistert und eine Dritte ängstlich und defensiv, vielleicht sogar panisch.
Das liegt auch an unterschiedlichen Rollen und Betroffenheiten, aber nicht allein daran. Selbstverständlich blickt der Auftraggeber aus einer anderen Warte auf einen Change-Prozess als die Betroffenen oder der Betriebsrat. Doch ihre Bewertung und Reaktion ist eben nicht allein von ihrer Rolle und Betroffenheit bestimmt, sondern auch von ihrer Persönlichkeit. Deshalb reagiert weder jeder Auftraggeber gleich noch jede Betroffene noch jeder Betriebsrat.
Nicht von der eigenen Sicht täuschen lassen
Weiter folgt daraus, dass wir uns nie völlig sicher sein können, wie andere Menschen auf unsere Interventionen reagieren werden. Wenn zum Beispiel die Reaktionen auf eine Info-Veranstaltung nicht so ausfallen wie erwartet und erhofft, hat es wenig Sinn, darüber zu rechten, ob manche Teilnehmer die dortigen Aussagen fehlinterpretiert haben oder ob die dortigen Aussagen ungeschickt waren, denn es gibt keine objektiv richtige Sicht. Uns persönlich wird unsere eigene Sichtweise subjektiv immer “zutreffender” und “richtiger” erscheinen als die der anderen Beteiligten, aber das liegt allein daran, dass keine Sichtweise besser zu unserem Welt- und Menschenbild passt als unsere eigene. Allen anderen geht es genauso: Auch ihnen leuchtet ihre eigene Sichtweise mit Abstand am meisten ein.
Umgang mit unterschiedlichen Persönlichkeiten
Falsche Vergewisserungen
Weil unerwartete Reaktionen oft unverständlich und verunsichernd wirken, sind wir versucht, Menschen abzuwerten, die nicht in der von uns erhofften Weise reagieren: “Was für Dummköpfe! Die haben überhaupt nicht begriffen, was wir gesagt haben und wie die Lage wirklich ist!” Und umgekehrt zustimmende Reaktionen spontan als Bestätigung der Richtigkeit unserer Deutungen zu interpretieren: “Ein intelligenter Mensch! Sieht die Sache genauso wie ich!” Aber damit lügen wir uns in die Tasche: So verständlich die Suche nach Bestätigung ist, wenn wir mit konkurrierenden “Wahrheiten” konfrontiert sind, sie hilft nicht weiter und bringt uns eher in zusätzliche Schwierigkeiten.
Abgleichen, verstehen, sich einprägen
Das heißt nicht zwangsläufig, dass man andere Sichtweisen einfach nur zur Kenntnis nehmen kann und sie so stehenlassen muss: Man kann durchaus behutsame (!) Versuche machen, auszuprobieren, ob eine Annäherung möglich ist. Aber wo dies nicht gelingt, ist es nicht sinnvoll, darauf zu viel Anstrengung zu verwenden, denn die Grenzen einer Konsensbildung sind häufig rasch ausgeschöpft. Ab dann ist es wichtiger, die Sichtweisen der anderen Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen, sich mit ihnen vertraut zu machen und sie sich einzuprägen. Denn deren Sichtweise ist für die Wahl des Vorgehens mindestens ebenso wichtig wie unsere eigene: Damit das weitere Vorgehen auch für die anderen Beteiligten einleuchtend und sinnvoll ist, muss es aus ihrer Perspektive schlüssig sein und nicht nur aus unserer eigenen.
Abgestimmte Interventionen
Das ist nicht immer leicht zu bewerkstelligen, denn divergierende Sichtweisen legen natürlich auch unterschiedliche Interventionen und Lösungsansätze nahe. Aber jede andere Alternative ist noch schlechter: Wenn interne Change Manager oder externe Berater in eine Richtung losmarschieren, die aus Sicht des Auftraggebers, der Betroffenen oder des Betriebsrats fragwürdig oder sogar völlig verfehlt ist, werden die dieses Vorgehen natürlich auch nicht mittragen und unterstützen. Im günstigsten Fall werden sie offen dagegen opponieren; noch gefährlicher ist aber, wenn sie nichts sagen, sondern nur darauf warten, dass der aus ihrer Sicht verfehlte Ansatz scheitert.
Mit mehreren Köpfen gleichzeitig denken
Mit mehreren Köpfen gleichzeitig denken
Die Kunst ist, trotz unterschiedlicher Sichtweisen Lösungsansätze zu entwickeln, die für die allermeisten Beteiligten anschlussfähig sind und trotzdem deutlich mehr als ein Kompromiss auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Dafür ist es nützlich, die Fähigkeit zu trainieren, “mit mehreren Köpfen gleichzeitig zu denken”. Öfter als man denkt, gibt es Vorgehensweisen, die aus unterschiedlichen Perspektiven anschlussfähig sind, ohne die Ziele des Vorhabens über Gebühr zu verwässern. Um auf solche Lösungen zu kommen, muss man einschätzen können, was für die verschiedenen Beteiligten aus ihrer jeweiligen Perspektive heraus sinnvoll oder zumindest akzeptabel ist – eben, “mit mehreren Köpfen gleichzeitig denken”.
Zu erwartende Vorbehalte “spüren” lernen
Wie macht man das praktisch? Solange man damit noch keine Übung hat, muss man dafür wohl alle Mitspieler in Gedanken durchgehen, sich jeweils in ihre Persönlichkeit und Situation versetzen und sich fragen, ob ein in Betracht kommendes Vorgehen für sie annehmbar sein könnte oder ob es bei ihnen auf Vorbehalte oder Widerstände stoßen dürfte. Um seine Hypothesen zu testen, sollte man diese Optionen sodann mit ihnen diskutieren, um zu herauszufinden, ob man ihre Reaktionen richtig eingeschätzt hat. Das ist am Anfang etwas aufwendig, aber im Laufe der Zeit bekommt man Übung und macht diesen Check fast unbewusst: Man “spürt” bzw. lernt zu spüren, wem was missfallen könnte und ob und wie man Vorbehalte zum Beispiel durch leichte Modifikationen am Vorgehen ausräumen kann.
Keine faulen Kompromisse, aber Abwägungen
Dabei kommt es natürlich darauf an, keine faulen Kompromisse zu machen, sondern einen Weg zu finden, wie man bestmögliche Zieltreue mit optimaler Akzeptanz verbindet. Dennoch kommt man fallweise um Kompromisse nicht herum, denn wenn das aus eigener Sicht optimale Vorgehen für den Auftraggeber oder andere Key Player nicht akzeptabel ist, hat es wenig Sinn, auf seinen Idealvorstellungen zu beharren. Andererseits ist es manchmal auch sinnvoll, gewisse Reibungen mit einzelnen Akteuren bewusst in Kauf zu nehmen.
Auch und gerade gegenüber seinem Auftraggeber sollte man nicht blind jedem Wunsch folgen, sondern dessen Vorstellungen hinterfragen und ihm in eine konstruktive Diskussion über das optimale Vorgehen abverlangen: Ein guter Change Manager ist nicht immer “pflegeleicht”, sondern kann, wenn er es für notwendig hält, ziemlich anstrengend sein.
Dennoch muss man letztlich abwägen, wem man wie viel zumuten kann, damit die Akzeptanz des Vorhabens auf die Dauer nicht abreißt. Dabei empfiehlt es sich, nicht bis an die Grenze zu gehen, denn fast jedes Projekt kommt früher oder später auf eine Durststrecke, in der die Akzeptanz nachlässt und in der die Gegner des Vorhabens ihre Chance wittern. In solchen Zeiten ist es gut, wenn man noch “Akzeptanzreserven” hat.
Voraussetzung persönliche Reife
Mit mehreren Köpfen gleichzeitig zu denken, setzt voraus, dass man den eigenen Kopf einigermaßen frei hat – also nicht in erster Linie mit sich selbst und der eigenen Situation beschäftigt ist. Dazu gehört auch, dass man nicht zu sehr unter Druck steht und nicht übermäßig besorgt ist, etwas Falsches zu tun oder Ärger zu bekommen. Das erfordert nicht nur etwas Erfahrung, sondern auch und vor allem eine gewisse persönliche Reife. Dazu kann Persönlichkeitsentwicklung einen wichtigen Beitrag leisten, denn eine wichtige Voraussetzung dafür, mit den Köpfen anderer Menschen denken zu können, ist die Fähigkeit und Bereitschaft, die eigenen Bedürfnisse und Befindlichkeiten wenigstens zeitweilig in den Hintergrund zu stellen.
Einfühlung in größere Gruppen und Organisationseinheiten
Was bei einer großen Anzahl von Akteuren?
Trotzdem kann man sich fragen: Mit mehreren Köpfen gleichzeitig zu denken, das mag ja noch funktionieren, wenn es mit einer überschaubaren Zahl von Akteuren geht – aber wie soll das funktionieren, wenn man es mit einer ganzen Abteilung, einem Unternehmensbereich oder einem ganzen Konzern zu tun hat? Soll man dann versuchen, mit hundert, tausend oder zehntausend Köpfen gleichzeitig zu denken?
Verteilung um gemeinsamen Mittelwert
Nein, das ist kaum möglich, und es ist zum Glück auch nicht notwendig. Denn soziale Gruppen reagieren normalerweise einigermaßen einheitlich sowohl auf Veränderungsvorhaben wie auch auf die gewählten Vorgehensweisen, jedenfalls dann, wenn sie halbwegs homogen sind. Zwar reagiert auch dann nicht jeder Mensch gleich, aber in der Regel verteilen sich die Reaktionen zufällig um einen gemeinsamen Mittelwert. Und da die Leute ja miteinander reden, gleichen sich ihre Sichtweisen oft an. Deshalb genügt es, sich in die “typische” Reaktion der jeweiligen Gruppe hineinzudenken und sie der Wahl des Vorgehens zugrundezulegen.
Unterschiedliche Subkulturen
Allerdings ist es dabei manchmal notwendig, zwischen unterschiedlichen Gruppen oder Untergruppen zu unterscheiden. Häufig reagieren zum Beispiel unterschiedliche Standorte oder Länder verschieden auf ein Change-Vorhaben – was sich zum Teil aus dem unterschiedlichen Grad ihrer Betroffenheit erklärt, zum Teil aber auch aus ihrer Vorgeschichte oder Kultur. Bei manchen Vorhaben muss man auch nach Hierarchieebenen unterscheiden. So ist etwa bei Reorganisationen damit zu rechnen, dass das mittlere und obere Management viel nervöser reagiert als die Belegschaft und der Betriebsrat – und zwar einfach deshalb, weil sie direkter betroffen sind und für sie mehr auf dem Spiel steht.
Sympathisanten, Gegner, Wechselwähler
Eine große Rolle spielt auch, welche Haltung die Mitarbeiter aller Ebenen zum Unternehmen und zur Geschäftsleitung einnehmen. Unter Umständen muss man hier zwischen einem “arbeitgeberfreundlichen” und einem “managementkritischen” oder sogar “managementfeindlichen” Teil der Belegschaft unterscheiden. In solchen Fällen ist es oft sinnvoll, darüber hinaus gedanklich noch eine dritte Gruppe zu bilden, nämlich die, die man in der Politik “Wechselwähler” nennen würde: Menschen, die nicht eindeutig dem einen oder anderen Lager zuzurechnen sind, sondern sich je nach Situation der Seite anschließen, der es gelingt, sie von ihrer Sichtweise zu überzeugen.
Unternehmenskultur und Persönlichkeit
Doch selbst wenn man mehrere Untergruppen oder Subkulturen unterscheiden muss, kann man sie sich jeweils wie “einen gemeinsamen Kopf” vorstellen, in den man sich eindenken und einfühlen kann. Hier macht sich bemerkbar, dass Unternehmenskultur auf der Organisationsebene tatsächlich etwas so Ähnliches ist wie Persönlichkeit auf der individuellen. Auch wenn es natürlich eine Vergröberung ist, ganze Standorte oder Belegschaften auf ein Bild zu verdichten, ist es wohl die einzige Möglichkeit, sich in ganze soziale Gruppen hineinzudenken – und in jedem Fall wesentlich treffsicherer, als wenn man nichts Derartiges tut, sondern nur über die zur Wahl stehenden Methoden nachdenkt.
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