Inhaltsverzeichnis:
Unscheinbare Schlüsselfrage
Was ist trainierbar?
So einleuchtend die Frage nach der Trainierbarkeit (oder Entwickelbarkeit) ist, so schwierig ist sie zu beantworten. Ist zum Beispiel selbstsicheres Auftreten trainierbar? Verhandlungsgeschick? Durchsetzungsfähigkeit? Was ist, um einige weitere beliebte Begriffe aus Stellenanzeigen und Anforderungsprofilen zu bemühen, mit Kontaktfähigkeit, unternehmerischem Denken und “Biss”? Zu allem Überfluss hängt der Grad der Trainierbarkeit offenkundig nicht nur von der jeweiligen Anforderungsdimension selbst ab, sondern auch von der Person, die sie erwerben soll: Schon bei englischen Sprachkenntnissen, einer ohne Zweifel erlernbaren Fähigkeit, reicht die Bandbreite von den Personen, die sie fast beiläufig erwerben und weiterentwickeln, bis zu jenen, die es trotz großer Anstrengungen und hohen Zeitaufwands nur auf ein mäßiges Niveau bringen.
Achtung: Trainierbarkeit ungleich Erlernbarkeit
Grenzen der betrieblichen Schulung
Die Frage nach der Trainierbarkeit ist nicht gleichbedeutend mit der Frage, welche Dinge erlernbar sind. Denn nicht alles, was ein Mensch prinzipiell erlernen kann, kann man ihm auch mit realistischem Aufwand durch Schulung oder andere Entwicklungsmaßnahmen beibringen. Noch weniger ist Trainierbarkeit gleichzusetzen mit der Frage, welche Eigenschaften “angeboren” und welche “erworben” sind. Zwar ist es unbestritten kaum möglich ist, Persönlichkeitsmerkmale durch Schulung zu verändern. Aber das heißt noch lange nicht, dass es möglich wäre, alle anderen Eigenschaften und Fähigkeiten durch geeignete Maßnahmen zu formen.
Was man Menschen an Fähigkeiten vermitteln kann, ist nur eine Teilmenge dessen, was diese Menschen prinzipiell erlernen könn(t)en.
Kärgliche Teilmenge
Ein Paradebeispiel dafür sind die Fähigkeiten in der Nutzung von Standard-Software. Was man Mitarbeitern hierzu durch Schulung vermitteln kann, ist nur ein Bruchteil dessen, was die Leute selbst aus den Paketen herausholen können, wenn sie sich mit einer Mischung aus Neugier, Experimentierfreude und Beharrlichkeit “hineinbohren”. Statt die Möglichkeiten der Programme auszuschöpfen, beschränken sich die meisten Nutzer aber darauf, eine Teilmenge der Funktionen anzuwenden, die man ihnen in der Schulung beigebracht hat. Selbst bei jahrelanger Nutzung lernen sie kaum neue Möglichkeiten hinzu (“Wozu auch? Es geht doch auch so!”). Macht man sie auf zusätzliche nützliche Funktionen aufmerksam, heißt es oft abweisend und vorwurfsvoll: “Das hat man uns in der Schulung nicht gezeigt!” Oder: “Das ist mir zu kompliziert!”
Bisherige Erfolge
Gehen Sie daher, um abzuschätzen, welche Eigenschaften, Merkmale und Fähigkeiten trainierbar sind, nicht von der Frage aus, was Sie prinzipiell für erlernbar halten. Orientieren Sie sich stattdessen daran, was Sie glauben, den betreffenden Mitarbeitern realistischerweise – also unter Berücksichtigung der verfügbaren Ressourcen und Zeit – beibringen zu können. Nutzen Sie dabei als Anhaltspunkt die Frage: “Bei wie vielen Menschen ist es uns bislang nachweislich gelungen, die betreffende Eigenschaft oder Fähigkeit durch unser segensreiches Einwirken nachhaltig zu verbessern?” Zugegeben, das klingt ein bisschen spitz, doch es liefert einen realistischen, wenn auch bescheidenen Maßstab, was erreichbar ist.
Welches Leistungsniveau wird benötigt?
Grenzen der Trainierbarkeit
An die Grenzen der Trainierbarkeit stoßen wir insbesondere dort, wo eine Kompetenz in sehr hoher Ausprägung benötigt wird. In der Praxis sind davon besonders jene Anforderungen betroffen, die für den Erfolg in der jeweiligen Funktion kritisch sind. Je mehr man sich hier der “Leistungsgrenze” nähert, desto wichtiger wird zwar das Training, aber desto weniger ist die Fähigkeit in dem Sinne trainierbar, dass jeder normale Mensch bei ausreichendem Einsatz das geforderte Niveau erreichen kann. Das Gleiche gilt auch mit umgekehrten Vorzeichen: Je moderater die Anforderungen sind, desto sicherer kann (fast) jeder das erforderliche Niveau erreichen.
Je höher die Zielmarke, desto wichtiger Talent
Ein simples Beispiel: Es ist sicher nicht jedem gegeben, über 100 Meter eine Zeit von unter 10 Sekunden zu laufen. Bei den meisten Menschen würde da auch kein Training helfen, denn neben Trainingseifer ist hierfür ein hohes Maß an Talent erforderlich (und dazu das richtige Lebensalter sowie einige biomechanische Voraussetzungen). Eine Zeit von unter 20 Sekunden kann dagegen fast jeder gesunde Mensch schaffen, wenn er sich ein bisschen beeilt – viele vermutlich sogar ohne Training. Je anspruchsvoller nun die Zeitvorgabe wird (nehmen wir 12 Sekunden), desto wichtiger wird das Training – und irgendwo kommt die Schwelle, wo alles Training der Welt nichts mehr hilft, sofern nicht zusätzlich das nötige Talent vorhanden ist. Zusätzlich, wohlgemerkt, nicht anstatt – Talent ist kein Ersatz für Training: Wirkliche Spitzenleistungen entstehen nur, wenn beides zusammenkommt.
Viele Fähigkeiten sind trainierbar
Mit vielen anderen Fähigkeiten verhält es sich ähnlich – nicht nur mit körperlichen, sondern auch mit sozialen. Beispielsweise kann so ziemlich jeder durch Übung lernen, eine Rede zu halten, die das Niveau einer durchschnittlichen Bundestagsrede übertrifft. Nicht jedem ist es dagegen gegeben, seine Zuhörer wirklich mitzureißen und für seine Ziele zu begeistern. Doch gerade das Beispiel der Rede zeigt, wie viel erlernbar ist: Vieles, was die Mitmenschen für “Naturtalent” halten, ist in Wirklichkeit das Resultat langjährigen beharrlichen Übens, oder, mit Edison gesagt, es ist “nur ein Prozent Inspiration, aber 99 Prozent Transpiration”. Viele erstklassige Redner haben sich ihr “Naturtalent” über Jahre hart erarbeitet. Doch angesichts der eigenen mäßigen Überzeugungskraft schonen viele sich und ihr Selbstwertgefühl, indem sie lieber an “Naturbegabung” glauben als an beharrliches Üben.
Nicht als Ausrede!
Andererseits kommt es im Berufsleben nur in wenigen erfolgsentscheidenden Leistungsdimensionen auf weit überdurchschnittliche Leistungen an. (Und auch hier bewegen wir uns in der Regel weit unterhalb des “Weltrekordniveaus”.) Bei den meisten alltäglichen Anforderungen genügt es, um es in obigem Bild zu sagen, Zeiten zwischen 12 und 15 Sekunden zu erreichen. So geht es zum Beispiel bei den Englischkenntnissen weder um sprachliche Perfektion noch um die Fähigkeit, englische Lyrik zu schreiben: Es geht lediglich darum, so weit zu kommen, dass eine brauchbare Verständigung möglich ist. Das dafür erforderliche Niveau kann mit einem Stück Fleiß und Beharrlichkeit so gut wie jeder lernen. Der Hinweis auf mangelndes Naturtalent darf daher nicht zur Ausrede für mangelnde Lernbereitschaft werden. Ebenso wenig eignet er sich zur Rechtfertigung mangelnder Disziplin, der mangelnde Bereitschaft zum Einhalten von Spielregeln oder der Verweigerung eines angemessenen Teambeitrags.
Beurteilung der Entwickelbarkeit
Magere Datenlage
Aber wie lässt sich beurteilen, welche Fähigkeiten entwickelbar sind und welche nicht? Trotz der immensen Bedeutung dieser Frage ist die Datenlage mehr als dürftig. Derzeit können wir hier auf kaum mehr zurückgreifen als auf die eigene praktische Erfahrung sowie auf ein paar systematische Überlegungen.
Zwei Ansatzpunkte
In Ermangelung empirischer Daten kann man an die Abschätzung der Trainierbarkeit auf zwei Arten herangehen, die sich gegenseitig ergänzen: Die eine ist, sich, wie wir es gerade getan haben, am Leistungsniveau zu orientieren, das in der jeweiligen Anforderungsdimension gefordert ist. Ein mittleres Leistungsniveau (wie es für viele Zwecke ausreicht) sollte in aller Regel trainierbar sein; je mehr es dagegen in Richtung echter Spitzenleistungen geht, desto fraglicher ist die Trainierbarkeit. Die andere Herangehensweise ist, die Anforderungen danach zu unterscheiden, ob es sich nur um “äußerliche” technische, methodische oder handwerkliche Fertigkeiten handelt oder ob es um Eigenschaften und Merkmale geht, die an den Kern der Persönlichkeit heranreichen. Dahinter steht die Annahme, dass Fähigkeiten, je näher sie am Kern der Persönlichkeit liegen, umso weniger trainierbar sind.
TautologieGefahr
Allerdings besteht bei der Orientierung an der Nähe zum “Persönlichkeitskern” ein gewisses Selbsttäuschungs- bzw. Tautologie-Risiko, denn wir haben kein objektives Maß dafür, wie “persönlichkeitsnah” eine Fähigkeit ist. Tendenziell werden wir dazu neigen, jene Anforderungen dem Persönlichkeitskern zuordnen, die wir als nicht trainierbar ansehen; umgekehrt werden wir bei denen am wenigsten an die Trainierbarkeit glauben, die wir als besonders persönlichkeitsnah einstufen. Hier sich beißt die Katze hier in den Schwanz: Es besteht die Gefahr, dass man genau das als Schlussfolgerung ableitet, was man zuvor als stillschweigende Voraussetzung zugrunde gelegt hat.
Forschungsbedarf
Wirklichen Aufschluss könnten hier nur empirische Daten liefern, doch die sind leider dünn gesät. Eigentlich sollte es vor allem für Großunternehmen der Mühe wert sein, die Erfahrungen mit der Förderung von Kompetenzen systematisch nachzuhalten und auszuwerten: Zu welchen Themen wurden Seminare oder andere Entwicklungsprogramme angeboten? Zu welchen wurden Entwicklungsziele vereinbart? Welche nachprüfbaren Fortschritte sind nach 1 / 2 / 3 / 5 Jahren zu erkennen? Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus in Bezug auf die Trainierbarkeit bzw. ihre praktischen Grenzen ableiten? Wo lohnt es sich überhaupt, in Personalentwicklung zu investieren, und wo besteht die einzige Chance zur Veränderung in der Mitarbeiterauswahl bzw. der Beförderungspolitik?
Versuch einer Abschätzung
Eine Heuristik
In Ermangelung verlässlicher empirischer Daten mag die folgende Heuristik einige Anhaltspunkte liefern. Sie unterscheidet grob zwischen drei Kategorien: Fertigkeiten (relativ leicht erlernbar), Gewohnheiten (deutlich schwieriger) und Persönlichkeitszüge (kaum beeinflussbar).
Abb.: Fertigkeiten sind trainierbar, Gewohnheiten schon weniger, und Charaktermerkmale kaum
Erlernbare Fertigkeiten
Greifen wir ein paar Beispiele aus der Liste heraus: Alles, was
in Richtung technisch-methodischer Fertigkeiten (rechte Spalte)
geht, gleich ob im sozialen, im arbeitsmethodischen oder im handwerklichen
Bereich, darf man getrost als trainierbar unterstellen – insbesondere,
solange es sich im einfache bis mittlere Ausprägungen handelt. So
etwa kann jeder bestimmte Präsentations- und Verkaufstechniken lernen
(ob er damit zu einem exzellenten Verkäufer wird, steht auf einem anderen
Blatt). Ebenso kann jeder, notfalls durch Konditionierung, lernen,
lösungsorientiert vorzugehen, interne Spielregeln einzuhalten und/oder
den Kunden (und Kollegen) mit Höflichkeit zu begegnen. Man denke
nur an die Serviceorientierung amerikanischen Verkaufspersonals,
die für uns Europäer zuweilen geradezu verstörend ist. Natürlich
ist das keine “Naturbegabung” und schon gar kein “Nationalcharakter”, das ist schlichtes und beharrliches
Training, das außerdem konsequent nachgehalten wird.
Gewohnheiten leisten heftigen Widerstand
Deutlich mühsamer wird es im mittleren Feld der Gewohnheiten. Wer
einmal versucht hat, eigene Gewohnheiten zu verändern – früher aufzustehen,
weniger zu trinken, öfter “nein” zu sagen –, weiß, welch hinhaltenden
Widerstand Gewohnheiten gegen ihre Veränderung leisten. Ein Paradebeispiel
ist das Thema Selbstorganisation. Alles Wesentliche hierzu ist erstens
längst bekannt und zweitens ziemlich offensichtlich, doch würde
eine Verbesserung den Abschied von einigen liebgewordenen Gewohnheiten
(und eine Auseinandersetzung mit den “Vorteilen des
Nachteils”) voraussetzen. Deshalb ist es bequemer, sich immer neue
Bestseller zu kaufen (und damit sich selbst und seiner Umgebung
gute Absicht vorzugaukeln) als den Preis der Umstellung zu zahlen,
nämlich ein halbes Jahr echter Willensanstrengung und des Umbaus der eigenen Gewohnheiten.
Charaktereigenschaften kaum beeinflussbar
Die Grenze dessen, was man anderen Menschen beibringen
kann, ist bei Charaktermerkmalen oder Persönlichkeitseigenschaften
erreicht. So ist etwa der “Biss” oder “Erfolgshunger”, der sogenannte
“Vollblutverkäufer” auszeichnet, weder durch Schulung noch durch “Motivationstrainings”
beeinflussbar – da hilft auch kein “Tschaka”-Gebrüll. Auch für das
introvertierte Pendant – die Liebe zur Technik, zu Zahlen, zum Detail
– gilt wohl tatsächlich, dass man sie entweder hat oder nicht hat.
Ähnliches gilt für das Welt- und Menschenbild sowie, daraus abgeleitet,
Themen wie Loyalität oder auch Entscheidungsbereitschaft:
Wessen Selbst- und Menschenbild ist, sich als Einzelkämpfer gegenüber
einer feindseligen Welt behaupten zu müssen, wird sich mit Loyalität
zwangsläufig schwerer tun als jemand, der sich als Teil der Gemeinschaft
versteht und bestrebt ist, seinen bestmöglichen Beitrag zu leisten.
Überlagerungen
Wie sich die drei Kategorien vermengen und überlagern, kann man
am Beispiel der Empathie studieren. Empathie hat einen rein handwerklichen
Teil, den man technisch trainieren kann (und sollte). Man kann mechanisch
üben, den Kern dessen, was der andere gesagt hat, treffend mit eigenen
Worten wiederzugeben (“Spiegeln”), und man kann ebenfalls (zum Beispiel
in einer Gesprächstherapie-Ausbildung) trainieren, “emotionalen
Erlebnisinhalte zu verbalisieren”, also die hinter den Aussagen
mitschwingenden Gefühle des Gesprächspartners wiederzuspiegeln.
Ob und in welchem Umgang man dieses handwerkliche Können jedoch
in seinen Alltag integriert, das hat mit der Umstellung
von Gewohnheiten zu tun. Und ob man sich jenseits aller technischen
Fertigkeiten tatsächlich so weit in den anderen hineinversetzen
kann und will (!), dass man “mit dessen Kopf denken und mit dessen
Gefühlen fühlen” kann (Alfred Adler), das dürfte außerhalb des Vermittelbaren
liegen.
Veränderung durch eine Neuentscheidung
Neu entscheiden
Eine zusätzliche Dimension kommt dadurch ins Spiel, dass manche
Fähigkeiten zwar nicht trainierbar und auch nicht im klassischen
Sinne erlernbar sind, aber durch eine persönliche Neuentscheidung
verändert werden können. Wie etwa im obigen Beispiel der Selbstorganisation:
Dort ist ziemlich schnell ein Punkt erreicht, wo es vertane Zeit
ist, weitere Bücher zu kaufen und zusätzliche Seminare zu besuchen.
Was hier spätestens nach Erwerb der Grundkenntnisse ansteht, ist
die Entscheidung über Umstellung einiger Gewohnheiten – etwa, den
Arbeitstag vorzuplanen, sämtliche zu erledigenden Punkte aufzuschreiben
oder (besonders nützlich!) den Tag prinzipiell mit der Erledigung der unangenehmsten
Punkten zu beginnen.
Nur Taten zählen
So hart es klingen mag: Ob jemand eine Entscheidung getroffen hat,
erkennt man nicht an seinen Worten, sondern ausschließlich an den
Taten. Erklärungen, was man alles zu verändern beabsichtigt, sind,
entweder Nebengeräusche des Entscheidungsprozesses oder, wenn sie
sich nicht in verändertem Handeln niederschlagen, vernebelndes Geschwätz.
Für das Resultat ist nicht entscheidend, wie sehnlich sich jemand
eine positive Veränderung wünscht – das tun angesichts des physisch
wie psychisch belastenden Zeitdrucks viele Leute –, sondern ob man
bereit ist, den “Preis” zu bezahlen und sich die Mühsal der tatsächlichen
Umstellung von Gewohnheiten anzutun. Genau an dieser Bereitschaft,
den Preis zu bezahlen, scheitert es oft. Stattdessen kaufen sie
lieber noch ein Buch oder melden sich zu noch einem Seminar an, in der Hoffnung,
das “Schlaraffen-Zeitmanagement” doch noch zu entdecken. Das wiederum
gibt Anlass zur Skepsis, was die Möglichkeit zur Beeinflussbarkeit
solcher Faktoren betrifft.
Ein reales Fallbeispiel
Sehen wir uns das einmal am Beispiel eines jungen Projektleiters
an, dem von seinen Vorgesetzten nahegelegt wurde, an einer Schulung
teilzunehmen, um zu lernen, sich verständlicher auszudrücken. Auf
die Frage, was denn genau das Problem sei, meinte er, ein hochintelligenter
promovierter Ingenieur, seine Chefs hätten ihm wiederholt die Unverständlichkeit
seiner Äußerungen vorgeworfen und ihm zuletzt mit einer Rückstufung
ins Glied gedroht. Auffällig war, dass er diese Beschreibung seines Problems sehr klar und verständlich vorbrachte.
Als wir der Frage nachgingen, in welchen konkreten
Situationen das Problem auftrat, stellte sich schnell heraus, dass
dies typischerweise Situationen waren, in denen er sich schneller,
als es der Projektplan vorsah, zu einer inhaltlichen Festlegung gedrängt
sah. Er beklagte sich heftig darüber, dass man ihm nicht die
Zeit für eine seriöse Entscheidungsvorbereitung ließe. Auf die Frage,
wie es denn weitergehe, wenn er in diesen Sitzungen unverständliches
Zeug daherrede, meinte er mit einem plötzlichen Lächeln, dann würden
seine Vorgesetzten nach einer Weile ungeduldig und nähmen ihm die
Sache aus der Hand.
Das plötzliche Lächeln (individualpsychologisch ein “Erkennungsreflex”) signalisierte, dass er
unversehens seine eigene “Masche” durchschaut hatte: Er hatte die
Unverständlichkeit unbewusst, aber durchaus gezielt benutzt, um sich voreiligen
Festlegungen zu entziehen, zu denen er angesichts des bisherigen Arbeitsstands nicht in der Lage bzw. nicht bereit war.
Die Grenzen von Schulungen
Es ist naheliegend, dass an dieser unbewussten Absicht jede Schulung gescheitert
wäre. Sie hätte dem Projektleiter ja allenfalls beibringen können,
wie man verständlich spricht, doch auch die beste Schulung hätte ihn nicht dazu bewegen können, dies
auch in jenen Situationen zu tun, in denen es die Unverständlichkeit als unbewusste Taktik einsetzte, um sich nicht festlegen zu müssen. An solchen unbewussten Absichten muss jedes Training zwangsläufig scheitern. In gleicher Weise scheitern auch viele Seminare (klassisch: Zeitmanagement!) daran, dass viele Teilnehmer den sekundären Nutzen des Problems nicht aufgeben und/oder den Preis einer Veränderung nicht bezahlen wollen. Die Teilnahme an zahlreichen Seminaren ändert daran nichts – sie wird dann eher zum Alibi, sprich, zum Versuch, sich selbst und anderen zu beweisen, dass man wirklich alles tut, um sich zu verbessern.
Persönliche Neuentscheidung
Gibt es in solch einer Situation überhaupt eine Möglichkeit, eine
Entwicklung herbeizuführen? Im günstigsten Fall kann ein persönliches
Coaching das Problem transparent machen und den Entscheidungsprozess
so beschleunigen. In konkreten Fall gelang es, dem Projektleiter
zu verdeutlichen, dass er an einem persönlichen Scheideweg stand:
Je mehr er in Richtung einer Führungskarriere gehen würde, desto
mehr würde er damit leben müssen, Entscheidungen auf der Basis einer
für sein Wohlbefinden unzureichenden Informationsgrundlage treffen
zu müssen. Er stand also vor der Wahl, entweder das Leben
mit Unsicherheit als Preis der Führungskarriere in Kauf zu nehmen
oder den Weg der höheren Sicherheit zu wählen und auf eine Führungskarriere
zu verzichten. Wobei die Aussage seiner Vorgesetzten deutlich machte:
Wenn er diese Entscheidung nicht treffen würde, würden sie andere
für ihn treffen.
Leitsymptom als Indikator der Entscheidung
Interessanterweise trat das Ausgangsthema Verständlichkeit hier
völlig in den Hintergrund, weil es sich als Symptom eines tiefer
gehenden Problems entpuppt hatte. Trotzdem eignete sich dieses “Leitsymptom”
sehr gut, um zu beurteilen, ob und welche Entscheidung der Projektleiter
getroffen hatte (übrigens auch für ihn selbst): Wenn er in den nächsten
Besprechungen, trotz allen Unbehagens, klarer und verständlicher
reden würde, dann hatte er sich entschieden, und zwar für die Führungskarriere.
Bliebe er hingegen unverständlich oder verstärkte dies noch, hatte er sich entweder
bereits gegen die Karriere entschieden oder er wollte, dass andere diese Entscheidung für ihn treffen. Dabei war völlig irrelevant, was auch immer
er dazu an Erklärungen abgab: Nicht Worte, allein Taten zeigen, wie sich jemand entschieden hat.
Hoher Stellenwert der Mitarbeiterauswahl
Geringer Einfluss
Was heißt das alles für unsere Ausgangsfrage nach der Entwickelbarkeit
von Fähigkeiten? Nur in außergewöhnlich günstigen Fällen sind wir
im Alltag dazu in der Lage, an solche Entscheidungsprozesse, die
ja tief im Inneren von Menschen stattfinden, überhaupt heranzukommen.
Doch selbst wenn uns dies gelingt, gibt es keine Gewähr dafür, wie
sie ausgehen – ob zum Beispiel obiger Projektleiter seinen Frieden mit der Unsicherheit
macht oder ob er sich eine weniger stressige Aufgabe sucht. Am Ende
liegt die Entscheidung in allererster Linie
bei dem betreffenden Menschen selbst. Auch bei einer ausgezeichneten
persönlichen Beziehung und hoher Führungskunst sind wir also weit
davon entfernt, die betreffenden Eigenschaften und Fähigkeiten,
wie eingangs formuliert, “durch unser segensreiches Einwirken nachhaltig
verbessern zu können”.
Auswahl vor Entwicklung!
Die pragmatische Schlussfolgerung aus dieser Diskussion kann daher
nur lauten:
Auswahl vor Entwicklung!
Insbesondere bei den drei oder
fünf Fähigkeiten, die für den Erfolg eines Mitarbeiters oder einer
Führungskraft in der jeweiligen Position entscheidend sind und bei
denen infolgedessen auch ein relativ hohes Leistungsniveau erforderlich
ist, macht es keinen Sinn, aus einem grundsätzlichen pädagogischen
Optimismus heraus auf Entwickelbarkeit zu setzen. Denn dieser Optimismus
leistet nur dann etwas Gutes, wenn er eingelöst wird – nicht wenn
man die Betroffenen mit dem Problem alleine lässt und allenfalls
den Druck erhöht.
Kompromisse
Die Mitarbeiterauswahl ist nicht
nur sicherer, sondern auch kostengünstiger als die Mitarbeiterentwicklung
– jedenfalls so lange, wie der Arbeitsmarkt die benötigten Fähigkeiten
in ausreichender Quantität und Qualität hergibt. Wo nicht, müssen
zwangsläufig Kompromisse gemacht werden – doch es ist ein himmelweiter
Unterschied, ob man sich bewusst für einen Kompromiss entscheidet
oder ob man, ohne zu erkennen, was man tut und welche Konsequenzen
dies haben wird, den vermeintlich besten Kandidaten (= Kompromiss)
akzeptiert. Im ersteren Fall weiß man, dass man in punkto Schulung,
Einarbeitung und Führung
einiges tun muss; im letzteren Fall klammert man sich einfach an
die Hoffnung, dass sich der Kandidat schon irgendwie durchbeißen
werde (“Uns wurde ja schließlich auch nichts geschenkt!”).
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Über den Autor
Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung.