HomeMethoden & WissenKommunikationBeschwichtigung: Weshalb Beruhigung oft noch mehr Unruhe auslöst
“Für die Bevölkerung hat zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr bestanden.” Wer diese Meldung hört, ist alarmiert. Obwohl sie doch eigentlich beruhigend sein soll, löst sie bei den meisten Menschen genau den gegenteiligen Effekt aus: Wer vor diesem Satz noch nicht aufgeschreckt war, ist es spätestens jetzt. Ähnliche Effekte treten oft auch unternehmensintern auf, wenn das Top-Management bei bevorstehenden Veränderungen zu beruhigen und zu beschwichtigen versucht. Es lohnt sich, den psychologischen Mechanismen dieser misslungenen Beruhigung genauer nachzuspüren: Wie kommt es, dass Beruhigungsversuche nicht nur häufig ihr Ziel verfehlen, sondern zusätzliche Unruhe auslösen?

Misslungene Beruhigung

Mitgelieferte Entwarnung

Die paradoxe Wirkung der Beschwichtigung wird verständlich, wenn wir uns bewusst machen, was ihre implizite Botschaft ist. Gleich ob im Unternehmen oder in den Medien wird ja längst nicht jede Nachricht mit einer mitgelieferten Entwarnung versehen. Das klänge auch ziemlich befremdlich: “Angela Merkel ist heute in Paris mit Emanuel Macron zusammengetroffen. Für die Bevölkerung hat zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr bestanden …” Oder: “Anbei Ihre Krankenversicherungsbescheinigung. Machen Sie sich bitte keine Sorgen …”

Die Entwarnung macht indirekt auf eine Gefahr aufmerksam

Bei normalen Nachrichten erfolgt keine Entwarnung

Warum klingen diese Beispiele eigentlich so grotesk? Weil normalerweise weder der Empfänger noch der (Ab-)Sender auf die Idee käme, hinter solchen alltäglichen Nachrichten und Informationen eine Gefahr zu vermuten. Infolgedessen wirkt das Mitliefern einer Entwarnung geradezu närrisch. In anderen Fällen ist die Lage nicht von vornherein so eindeutig – zum Beispiel bei einem Störfall in einem Atomkraftwerk oder beim Unfall eines Gefahrentransporters.

Die implizite Botschaft

Welche Befürchtung weckt also der Hinweis, dass zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr bestanden hätte? Doch wohl, dass die Situation nicht ganz so harmlos war. Und dass der Sender daher damit rechnet oder es zumindest für möglich hält, dass sich die Empfänger wegen der Nachricht Sorgen machen – aber nicht will, dass sie nervös werden. Die implizite Botschaft ist also: Der Sender selbst hält die Nachricht offenkundig für eine, wegen der man sich durchaus Sorgen machen könnte. Diese mitschwingende Botschaft ist der Grund, weshalb wir nach der zufällig im Radio gehörten “Entwarnung” plötzlich hellwach sind, auch wenn wir die eigentliche Nachricht kaum mitbekommen haben.

Alarmreaktion

Der Hinweis auf eine mögliche Bedrohung, die in der Entwarnung indirekt enthalten ist, aktiviert unser Alarmsystem, einen psychischen Mechanismus, der sich in der Evolution über Jahrmillionen herausgebildet und bewährt hat: Gespannte Aufmerksamkeit ist die biologisch sinnvolle, Hardware-verdrahtete Reaktion auf mögliche Gefahren, denn Bedrohlichkeit hat immer die höchste Priorität gegenüber allen anderen Umgebungsreizen. Nachdem wir auf eine potenzielle Gefahr aufmerksam gemacht wurden, wollen wir nun also dringlich wissen: “Was ist da los? Worum ging es da genau? Müssen wir uns Sorgen machen oder können wir weiterdösen?” Dabei wollen wir uns nicht auf eine anonyme Stimme im Radio oder auf die beruhigende (und bevormundende) Erklärung einer Behörde verlassen; hierüber wollen wir uns unser eigenes Urteil bilden, und zwar nach Möglichkeit auf der Basis handfester, konkreter Fakten.

Unbehagen bleibt

Dazu aber bräuchten wir zusätzliche Informationen: Einzelheiten, Details, Fakten, Erklärungen der Zusammenhänge. Doch normalerweise passiert das genaue Gegenteil: Nach der pauschalen Entwarnung kommen keine weiteren Informationen; stattdessen kommt die nächste Meldung. Das verstärkt die Beunruhigung und schürt Misstrauen: Ständig werden wir mit belanglosen Informationen überhäuft, doch jetzt, wo wir dringend zusätzliche Informationen bräuchten, bekommen wir keine. Warum eigentlich nicht?! Was steckt da dahinter?

In dieser Situation müssen sich die Empfänger entscheiden, ob sie aktiv nach zusätzlichen Hinweisen suchen wollen oder ob sie es nicht tun – und sei es auch nur, weil sie im Augenblick keine Zeit haben oder keine Möglichkeit sehen, an zusätzliche Informationen zu kommen. Selbst wenn sie die Sache vorerst auf sich beruhen lassen, bleibt in vielen Fällen ein unbehagliches Gefühl zurück. Denn es könnte ja sein, dass sie oder ihre Angehörigen in einer Gefahr sind, über die sie nicht genug wissen. Welche Gefahr hat der Radiosender oder die Behörde überhaupt gemeint? Und besteht wirklich keine Gefahr oder wollen die sie nur beruhigen?

Die Vertrauensfrage

Doppeltes Vertrauen erforderlich

All das wäre kein Problem, wenn wir dem Radiosender bzw. der betreffenden Behörde voll vertrauen würden. Aber so viel Vertrauen, dass wir uns auf eine beruhigende Aussage ohne weitere Informationen und ohne ein Bedürfnis nach einem besseren Verstehen des Problems verlassen würden, bringen die meisten von uns nur wenigen Menschen entgegen: Als Kinder den eigenen Eltern; später engen Freunden und Vertrauten, vielleicht einem guten Arzt oder persönlichen Berater …

Denn um jemandem so viel Vertrauen entgegenzubringen, müssen wir uns auf zwei ganz unterschiedliche Dinge verlassen können: Zum einen auf seine Sachkenntnis und Urteilsfähigkeit, zum anderen auf sein uneingeschränktes Wohlwollen uns gegenüber. Nur, wenn wir uns darauf verlassen können, dass er uns vorbehaltlos in unserem Sinne berät und dass er dafür auch den notwendigen Sachverstand besitzt, können wir uns auf seinen Rat fast genauso verlassen als wenn es unser eigenes Urteil wäre.

“Urvertrauen”

Bei kleinen Kindern spricht man in diesem Zusammenhang von “Urvertrauen”, weil es sich hier tatsächlich um ein unbegrenztes und umfassendes Vertrauen handelt: Die Eltern sind nicht nur groß und stark, sondern auch unverbrüchlich auf unserer Seite; wir können uns voll und ganz auf sie verlassen. Ein ähnlich umfassendes Vertrauen kann es auch im späteren Leben noch geben, aber wir bringen es natürlich nicht jedem entgegen, sondern nur einem sehr engen und ausgewählten Personenkreis. Und ganz sicher nicht anonymen Behörden, Ministerien oder “Experten” – und in der Regel auch nicht oberen Managern der eigenen Firma, sofern wir nicht ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis zu ihnen haben.

Nicht erzwingbar

Was überhaupt nichts bringt, ist, dieses Vertrauen “erzwingen” zu wollen, indem man nur sehr pauschale und allgemeine Auskünfte gibt und sich im Übrigen aufs Beruhigen und Beschwichtigen verlegt. Sonst dürfte der Hinweis “Für die Bevölkerung hat zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr bestanden” keine Alarmreaktion auslösen. Pauschale Beruhigung schlägt fast zwangsläufig in ihr Gegenteil um; sie schürt das Misstrauen – vor allem wenn eine gewisse Besorgnis ohnehin schon besteht. Dann geht die Beschwichtigung völlig ins Leere (“Etwas Konkretes war wieder nicht dabei!”) oder schlägt sogar in ihr Gegenteil um, nämlich in Ärger, Wut und verstärktes Misstrauen: “Ich möchte wissen, warum die uns nichts Greifbares sagen! Da ist mit Sicherheit etwas im Busch. Denn wenn es gute Nachrichten gäbe, hätten sie die doch schon längst herausposaunt!”

Ähnlich in der unternehmensinternen Kommunikation

Durchschaute Beschwichtigung

Was für Nachrichten in den Medien gilt, gilt im Wesentlichen auch für die Kommunikation im Unternehmen: “Unsere Firma wird von einem Wettbewerber übernommen. Wir bitten Sie aber, sich deswegen keine Sorgen zu machen, sondern sich weiter voll auf das Geschäft zu konzentrieren”, das funktioniert genauso wenig wie: “Wir müssen unsere Kosten dramatisch senken, um eine Überlebenschance zu haben. Aber selbstverständlich bemühen wir uns, alle Arbeitsplätze zu sichern.” In beiden Fällen verstehen die Mitarbeiter glasklar, dass sie allen Grund haben, sich Sorgen zu machen, und sie lassen sich davon auch durch beschwichtigende Parolen nicht abhalten – im Gegenteil: Sie fragen sich nur, ob und aus welchen Gründen das Management mit seinen beruhigenden Reden Sand in die Augen streuen will, und reagieren mit reduziertem Vertrauen und doppelter Wachsamkeit.

Tarnen und Täuschen

Angesichts solcher Zusammenhänge könnten Schlaumeier auf die Idee kommen, auf “Entwarnungen” zu verzichten und Informationen, die die Mitarbeiter für bedrohlich halten könnten, entweder gar nicht mehr herauszugeben oder mit größter Beiläufigkeit in langweiligen Powerpoint-Präsentationen und einschläfernden Rundschreiben zu verstecken. Ein solches Vorgehen kann in der Tat für eine gewisse Zeit funktionieren. Man muss sich aber darüber klar sein, was der langfristige Preis ist.

… verstärkt Misstrauen

Denn die Mitarbeiter sind ja nicht blöd – jedenfalls nicht alle. Irgendwann werden sie misstrauisch, und früher oder später kommt dann die Wahrheit ans Licht. Dann aber werden sie sich – zu Recht! – hinters Licht geführt und hintergangen fühlen. Und der Hinweis, dass die entsprechenden Informationen schon vor geraumer Zeit in irgendwelchen Papieren enthalten waren, wird keineswegs zu einer Wiederherstellung des Vertrauens führen, sondern im Gegenteil als übler Trick und bewusste Irreführung empfunden werden – was es ja auch war.

Verbrannte Erde

Das vermeintlich clevere Vorgehen erkauft also einen kleinen, kurzfristigen Vorteil um den Preis verbrannter Erde: Danach ist das Vertrauen in der Regel auf lange Sicht zerstört. Solche “Kriegslisten” sind also kein wirklich guter Deal, jedenfalls dann nicht, wenn man einer vertrauensvollen langfristigen Zusammenarbeit interessiert und mittelfristig vielleicht sogar auf das Vertrauen der Belegschaft angewiesen ist.

Ängste und Sorgen zerstreuen

Reinen Wein einschenken

Was ist die Alternative? Die einzige realistische Möglichkeit, Ängste und Sorgen zu zerstreuen – in dem Ausmaß, in dem sie im konkreten Fall zu zerstreuen sind – ist ehrliche Information: Fakten, konkrete Informationen über Planungen, Ziele, Eckdaten des Vorgehens, aber auch über noch offene Fragen und mögliche Gefahren. Je nach Sachlage kann es natürlich sein, dass diese Informationen die Befürchtungen in manchen Fällen nicht zerstreuen, sondern sie im Gegenteil bestätigen und anheizen. Doch wenn das so ist, dann wäre es auch nicht redlich, sie mit “Diplomatie”, beruhigendem Geschwätz und schönfärberischen Umschreibungen wegreden zu wollen: Dann ist der einzige redliche Weg, den Betroffenen reinen Wein einzuschenken. Das sorgt dann nicht unbedingt für Beruhigung, aber es schafft Vertrauen und Glaubwürdigkeit.

Frühzeitige Warnung vor möglichen Gefahren

Das Paradoxon der Glaubwürdigkeit ist ja: Sie entsteht nicht durch das Verkünden guter Nachrichten, sondern durch das ehrliche Benennen unangenehmer Dinge, und zwar zu einem frühen Zeitpunkt und nicht erst dann, wenn es nicht mehr anders geht. Wer sich als Manager Vertrauen und Glaubwürdigkeit erwerben möchte, sollte daher in seiner Kommunikation auf Schönfärberei, taktische Manöver und kurzfristige Tricks verzichten und den Mitarbeitern ehrlich gegenüber treten, und zwar auch dann, wenn diese Ehrlichkeit keinem der Beteiligten angenehm ist. Der evolutionsbiologisch wichtigste Teil unserer Wahrnehmung ist nun einmal das frühzeitige Erkennen von Gefahren. Deshalb können wir uns nur auf Menschen, die uns umgehend auf mögliche Bedrohungen aufmerksam machen, genau so gut verlassen wie auf unsere eigenen Sinne.

Misstrauen und erhöhte Wachsamkeit

Das heißt im Umkehrschluss: Menschen, bei denen fraglich ist, ob sie uns ehrlich über Gefahren informieren werden, denen vertrauen wir besser nicht, auch wenn sie uns noch so eindringlich dazu auffordern. Denn Gefahren verschwinden ja nicht, bloß weil jemand sie zu vertuschen sucht. Wer uns daher über bestehende Gefahren zu täuschen oder hinwegzubeschwichtigen sucht, auf den ist kein Verlass – gerade dann nicht, wenn es besonders wichtig wäre.

Wenn sich also irgendwann herausstellt, dass die eigenen Vorgesetzten oder das Top-Management schon lange über eine unangenehmen Sache Bescheid wussten, sie aber so lange wie möglich vor uns geheim hielten, kann das zu einem irreparablen Vertrauensverlust führen. Sie wecken damit unweigerlich den Verdacht, dass sie es in der Zukunft ähnlich halten werden. Das heißt, bei solchen Menschen müssen wir jederzeit damit rechnen, dass wieder etwas im Busch sein kann, das von ihnen hinter beruhigendem Gerede und beschwichtigenden Leerformeln verborgen wird.

Paradoxe Wirkung

Ohne dass ihnen die Gründe dafür klar sind, reagieren daher die allermeisten Menschen nach der Regel: Bei Beruhigungen und Beschwichtigungen doppelte Wachsamkeit!

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Über den Autor

Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung. 

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