HomeMethoden & WissenVeränderungsstrategieUmbrüche: Die Chance zu Durchbrüchen
Nie ist es leichter, etwas zu verändern, als dann, wenn sich ohnehin alles ändert. In normalen, ruhigen Zeiten hat der Status Quo eine ungeheure Beharrungskraft, und entsprechend ist es ein Kraftakt, daran etwas zu ändern. Selbst vergleichsweise kleine Änderungen, die für niemanden wirklich bedrohlich sind, wie etwa an der Reisekostenregelung, an der “Car Policy” oder an anderen Routineprozessen führen oft zu Riesendebatten: mit dem Betriebsrat, mit den “Leitenden” (bzw. deren Sprecherausschuss) und letztlich allen Ebenen, die betroffen sind oder auch nur meinen, sich betroffen fühlen zu sollen. Vieles wird dabei zerrieben oder bis zur Unkenntlichkeit verwässert.

Umbrüche als Chance

Zertrümmerung des Status Quo

“Bei einem Merger kannst du alles ändern, auch Dinge, die normalerweise unantastbar sind”, konstatierte vor Jahren ein Kollege – halb erstaunt, halb begeistert. Er hatte völlig recht. Psychologisch ist das leicht zu erklären: Größere Umbrüche wie zum Beispiel Fusionen, Übernahmen, Restrukturierungen oder auch Unternehmenskrisen legen gewissermaßen den Status Quo in Trümmer: Sie stellen die bisherige Welt so grundlegend auf den Kopf, dass es Besitzstände, die man verteidigen könnte, im Grunde kaum noch gibt.

Notwendige Neuordnung als Chance

Regelungen haben Geschäftsgrundlage verloren

Zwar existieren die alten Regelungen formal natürlich weiter: Die Car Policy, die Reisekostenregelung und all jene unentbehrlichen Leitplanken der Alltagsroutine bestehen als Dokumente natürlich fort und sind in Kraft, aber sie haben sozusagen ihre Geschäftsgrundlage verloren – ähnlich wie nach einer Naturkatastrophe: Wenn alles von Trümmern übersät ist, ergibt es keinen rechten Sinn mehr, auf die strikte Beachtung der noch stehenden Verkehrszeichen zu pochen und Strafzettel für Parken im Halteverbot auszustellen.

Notwendigkeit zur Neuorientierung

In einem solchen Durcheinander muss man sich erst einmal neu sortieren, die Trümmer wegräumen und die benötigten Strukturen dann, so gut es die Umstände erlauben, neu aufbauen, um wieder so etwas wie eine neue Normalität zu schaffen. Diese neue Normalität aber ist keine in mühseligen Verhandlungen schließlich vereinbarte, von tausend Kompromissen geprägte Reform des Status quo, es ist tatsächlich ein Neuanfang, ausgerichtet an den veränderten Bedingungen: ein pragmatischer Mittelweg zwischen den Idealvorstellungen der Beteiligten und dem, was unter den veränderten Bedingungen machbar und zweckmäßig ist.

Entstehende Gestaltungs-spielräume

Das eröffnet Gestaltungsspielräume, die unter normalen Umständen nicht vorhanden sind. Bei einer Fusion oder Übernahme beispielsweise leuchtet jedem ein, dass die Regelungen der beiden Ursprungsunternehmen irgendwie zusammengeführt werden müssen, dass man nicht zwei Vergütungssysteme oder Reisekostenregelungen nebeneinander haben kann. Je kleiner das übernommene Unternehmen relativ zu dem übernehmenden ist, desto wahrscheinlicher ist normalerweise, dass ihm die Regelungen des Übernehmers aufgedrückt werden, meist ohne lange Übergangszeit. Jedenfalls die allermeisten – Ausnahmen kann und wird es vielleicht in Bereichen geben, die wesentliche und wichtige Besonderheiten der übernommenen Firma ausmachen oder sogar der Grund, weshalb sie übernommen wurde.

Unvermeidliche Neuordnung als Chance

Dennoch wäre eine große Chance verschenkt, wenn man einfach die vorhandenen Regelungen des größeren Unternehmens nehmen und dem kleineren überstülpen würde. Stattdessen sollte man die Zusammenführung ganz bewusst nutzen, um die bestehenden auf dem Prüfstand zu stellen. Nirgendwo steht geschrieben, dass sich ausschließlich das übernommene Unternehmen an dem übernehmenden orientieren muss: Wenn manche Regelungen der übernommenen Firma einfacher, sinnvoller und schlüssiger sind, kann, darf und sollte man, statt sich einfach nach dem Platzhirsch zu richten, auch dem Prinzip “Best of Both Worlds” folgen. So lassen sich Umbrüche als Gelegenheit nutzen, alte Zöpfe abzuschneiden.

Sinnvolle(re) Regelungen statt Machtspielchen

Mitbestimmung gilt ungebrochen

Natürlich gilt die betriebliche Mitbestimmung auch hier, und man sollte nicht versuchen, Umbruchsituationen zu nutzen, um sie auszuhebeln. Doch in den meisten Fällen sind Betriebsräte flexibel genug, um Umbrüche als solche zu erkennen, und normalerweise bestehen sie auch nicht darauf, dass ausschließlich die Regelungen des übernehmenden Unternehmens als Vorlage für die des neuen gemeinsamen Unternehmens genutzt werden. Sofern man ihnen überzeugende Gründe nennt, sind sie oft zu Neuregelungen bereit, auch wenn sie dabei natürlich die Interessen der von ihnen vertretenen Beschäftigten fest im Blick haben.

Regelung der sozialen Folgen

Die rechtliche Situation ist hier insofern etwas speziell, als die grundsätzliche Entscheidung für eine Fusion, Übernahme oder Reorganisation dem sogenannten Direktionsrecht des Arbeitgebers unterliegt, also nicht mitbestimmungspflichtig ist – voll mitbestimmungspflichtig ist hingegen die Regelung ihrer sozialen Folgen. Das reicht unter Umständen bis hin zu einem Interessenausgleich und Sozialplan, der im Gegensatz zu verbreiteten Meinungen keineswegs nur bei Personalabbau fällig wird, sondern auch bei anderen Weichenstellungen erforderlich werden kann, die erhebliche Nachteile für die betroffenen Mitarbeiter haben oder haben können.

Pragmatische Lösungen statt Buchstabentreue

Rein formal bleiben in solchen Umbruchsituationen beispielsweise auch die Betriebsvereinbarungen des oder der beteiligten Unternehmen gültig; die dort festgelegten Regelungen sind aber unter Umständen in einer ähnlichen Situation wie die verbliebenen Verkehrszeichen nach einem Erdrutsch: Formal gelten sie weiterhin, praktisch ergeben sie angesichts von Schlamm und Geröll keinen rechten Sinn mehr. Statt daher auf den Buchstaben der Vereinbarung zu pochen, setzt man sich besser mit dem Betriebsrat zusammen und überlegt, wie man die Aufräumungsarbeiten und die Wiederherstellung einer akzeptablen neuen Ordnung gemeinsam am besten angeht.

Zweifelhafte Chance, die Machtverhältnisse zu verschieben

Verführung zum Handstreich

Ohne Zweifel können solche Umbruchssituationen eine Verlockung für das Top-Management bergen, die Gunst der Stunde zu nutzen, um historisch gewachsene Besitzstände der Belegschaft und des Betriebsrats sozusagen im Handstreich zu schleifen und die Machtverhältnisse zugunsten des Unternehmens bzw. der Arbeitgeberseite zu verschieben.

Machtkampf und lang nachwirkendes Misstrauen

Aus meiner Sicht ist das keine besonders gute Idee – erstens, weil es meistens misslingt: Auch wenn es anfänglich häufig so aussieht, als könnte es gelingen, den Betriebsrat zu übertölpeln, erkennt der irgendwann doch, was gespielt wird, und setzt dann alle Hebel in Bewegung, um den beinahe abgefahrenen Zug zu stoppen – was damit beginnt, dass er die Belegschaft mobilisiert. Daraus kann sich ein ziemlich übler Machtkampf entwickeln, der einen beträchtlichen Flurschaden anrichtet und schließlich damit endet, dass der Arbeitgeber zwar einige Dinge durchbekommt, dafür aber bei anderen den Preis bezahlen muss.

Bleibender Vertrauensschaden

Zweitens bleibt davon meistens für lange Zeit ein übler Nachgeschmack zurück: Aus Sicht des Betriebsrats und weiter Teile der Belegschaft hat der Arbeitgeber mit diesem Manöver “sein wahres Gesicht gezeigt”, und es bleibt ein Vertrauensschaden zurück, der unter Umständen jahrelang nachwirkt und die betriebliche Zusammenarbeit belastet.

Ähnliches gilt für den Betriebsrat

Umgekehrt könnte auch ein machtbewusster Betriebsrat auf die Idee kommen, die Gelegenheit zur Ausweitung seines Einflusses zu nutzen. Doch auch hier gilt, dass solche kleinen Geländegewinne zumeist teuer erkauft würden, weil sie, selbst wenn sie gelingen, offene Rechnungen hinterlassen und die Basis für eine halbwegs vertrauensvolle Zusammenarbeit zerstören. Mit der Folge, dass die “Transaktionskosten” auf beiden Seiten steigen: Die Zusammenarbeit wird schwieriger, zäher und ist dauerhaft von Misstrauen belastet.

Das Fenster der Möglichkeit schließt sich langsam

Vorsicht Komplexität!

Obwohl man in solchen Umbruchsituationen theoretisch fast alles ändern kann, was sonst kaum veränderbar ist, gibt es mindestens einen guten Grund, den Bogen nicht zu überspannen, nämlich die Komplexität der bestehenden Aufgaben. Bei einer Post-Merger-Integration beispielsweise müssen so viele Dinge innerhalb eines ziemlich kurzen Zeitfensters erledigt werden, dass man gut beraten ist, die Komplexität nicht ohne Not zusätzlich zu erhöhen, sondern sich eher aktiv um deren Reduzierung zu bemühen.

Nichts Unnötiges draufsatteln

Das heißt, man sollte der Versuchung widerstehen, noch alle möglichen weiteren “heißen” Fragen in die ohnehin schon komplexe Aufgabenstellungen hineinzupacken. Erst wenn die wesentlichen Pflöcke eingeschlagen sind, kann man zusätzliche Themen anpacken.

Mehr als nur ein kurzer Augenblick

Das wirft natürlich die Frage auf, wie lange denn das Fenster solcher Umbrüche offensteht, in denen man mehr verändern kann als in normalen Zeiten. Eine scharfe Trennlinie gibt es nicht, man kann aber als Faustregel sagen: Das Fenster schließt sich in dem Ausmaß, in dem wieder eine neue Normalität einkehrt und sich neue Routinen einpendeln. Das lässt Raum dafür, Dinge zurückzustellen und zu einem späteren Zeitpunkt “aufzuräumen” – aber nicht beliebig viel.

Priorisierungen möglich und sinnvoll

Praktisch heißt das, es ist in aller Regel kein Problem, sondern im Gegenteil eine klare und allen einleuchtende Notwendigkeit, in Umbruchsituationen Prioritäten zu setzen und alles, was nicht absolut lebensnotwendig ist, zur zweiten oder dritten Priorität zu erklären. Doch genau deshalb, weil Dinge zurückgestellt wurden, leuchtet es auch den meisten Beteiligten ein, wenn im Nachgang zu den wichtigsten Weichenstellungen noch Nacharbeiten erledigt werden müssen, bevor in allen operativen Details wieder geordnete Verhältnisse herrschen.

Zurückgesellte Themen der Reihe nach “aufräumen”

Beispielsweise wird man eine Post-Merger-Integration zweckmäßigerweise nicht mit einer Konsolidierung der Reisekostenregelung beginnen, sondern verfügen, dass die bisherigen Regelungen der beiden Ursprungsfirmen für deren jeweilige Mitarbeiter und Führungskräfte noch so lange weiter gelten, bis eine neue Reisekostenordnung erlassen ist – und sich dann dringenderen Themen zu wenden. Erst wenn die soweit aufgeräumt sind, dass man wieder Zeit für andere Dinge hat, kommt man auf die Reisekosten zurück. Das können etliche Monate sein, und je nach Situation vielleicht auch ein halbes oder ein ganzes Jahr.

Nicht beliebig viel Zeit

Trotzdem ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem sich die neue Normalität so weit verfestigt hat, dass es kaum noch überzeugend wirkt, neue Veränderungsabsichten noch mit dem zurückliegenden großen Umbruch zu begründen. Deshalb darf man sich auch nicht zu viel Zeit lassen: Auch die Themen, die aus plausiblen Gründen zurückgestellt wurden, werden irgendwann Teil der neuen Normalität. Das Fenster schließt sich wieder – und irgendwann ist es zu.

Vorbereitet sein

Die Chance nicht verpassen

Gerade weil man bei Umbrüchen nicht unendlich viel Zeit hat, ist es von großem Vorteil, vorbereitet zu sein. Wer erst anfängt, darüber nachzudenken, was er in seiner Firma gerne Grundlegendes ändern würde, wenn der Umbruch schon begonnen hat, läuft Gefahr, die Chance zu Durchbrüchen weitgehend zu versäumen: Er steht dann sozusagen grübelnd vor dem offenen Fenster und denkt darüber nach, was er sich eigentlich wünschen sollte. Bis er seine Wunschliste erstellt und sortiert hat, beginnt das Fenster schon wieder, sich zu schließen.

Umbrüche kommen selten völlig unerwartet

Das ist ein vermeidbarer Fehler, weil solche großen Umbrüche ja in aller Regel nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommen. Selbst eine Übernahme oder eine Unternehmenskrise kündigen sich ja an, geraume Zeit bevor sie akut wird. Sogar bei einer feindlichen Übernahme vergehen Monate zwischen der ersten offiziellen Ankündigung und dem “Closing”, also der Rechtskraft der Übernahme und der dann beginnenden Post-Merger-Integration. Und das Unternehmen, das die Übernahme plant, weiß es noch viel früher.

Anlasslos oder aus konkretem Anlass nachdenken

Spätestens wenn man weiß oder zu ahnen beginnt, dass sich etwas zusammenbraut, kann man also mit dem Denken beginnen – alleine oder auch gemeinsam mit anderen. Es ist aber auch nicht verboten, ohne konkreten Anlass, sozusagen “anlasslos loszudenken”. Im Gegenteil: Es kann sogar eine sehr nützliche Übung zum Beispiel für eine Vorstands- oder Bereichsleitungsklausur sein, einmal einen halben Tag lang zu diskutieren: Was an unseren Regelungen, Strukturen, Prozessen würden wir eigentlich ändern, um das Unternehmen voranzubringen, wenn wir dies nach Belieben tun könnten? Und was davon hätte den größten Nutzen und sollte daher Priorität haben?

Einbeziehung des Betriebsrats prüfen

Unter Umständen kann man in eine solche Diskussion sogar den Betriebsrat einbeziehen, denn bei vielen Themen wird es hier nicht um innerbetriebliche “Machtpolitik” gehen, sondern um Baustellen, die unter normalen Umständen zu heikel oder zu konfliktträchtig sind, um sie anzupacken. Das Gespräch mit dem Betriebsrat hat den Vorteil, dass man dabei gleich ausloten kann, wo man eine übereinstimmende Problemsicht hat, aber auch, wo Sorgen und “Tabus” liegen. Im günstigsten Fall stellt man zur allgemeinen Überraschung fest, dass sich eigentlich beide Seiten bestimmte Veränderungen wünschen. Sodass man sich in der Konsequenz natürlich auch fragen kann: “Müssen wir damit trotzdem bis zu einer Krise warten – oder packen wir es gleich an?”

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Über den Autor

Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung. 

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