HomeMethoden & WissenPsychologieLob und Tadel: Von Paradoxien und Asymmetrien
Zu den am besten gesicherten Erkenntnissen der psychologischen Lernforschung
zählt, dass Verhaltensweisen, die angenehme Konsequenzen haben,
in der Folge häufiger auftreten, während solche, die keine oder
unangenehme Konsequenzen haben, im Laufe der Zeit verschwinden.
Dabei sind angenehme Konsequenzen (“Verstärkung”) deutlich wirksamer als Bestrafung. Entsprechend
fest verankert ist dieses Modell in Motivationslehren und Führungstrainings.
Doch unbeeindruckt von diesen Forschungsbefunden schwören einem die erfahrenen Praktiker,
dass ein herzhafter Anschiss allemal wirksamer sei als jedes Lob.

“Verstärkung”

Theorie und Praxis

Es scheint, als bestünde hier “wieder mal” ein Widerspruch zwischen Theorie und Praxis: Was in der Theorie richtig ist, funktioniert leider in der Praxis nicht. Aber das ist Unfug: Wenn eine Theorie in der Praxis nicht funktioniert, ist sie entweder falsch (also eben nicht “in der Theorie richtig”), oder es funkt ein Einflussfaktor dazwischen, der in der Theorie nicht berücksichtigt wurde, und verhagelt so das Ergebnis. Doch nach solchen “Störvariablen” wurde im Falle von Lob und Tadel lange nicht geforscht; stattdessen erklärten sich Psychologen und Führungstrainer die wiederkehrenden Einwände der Praktiker damit, dass manche Menschen einfach zu borniert und mit Vorurteilen vernagelt seien, um die gesicherten Erkenntnisse der Wissenschaft an sich heranzulassen. Was bei ehrlicher Betrachtung eine recht billige Erklärung ist – und zugleich eine, die ausschließt, dass an den wiederkehrenden Einwänden der Praktiker etwas Wahres sein könnte, und die Forscher, die ihr anhängen, so zuverlässig vor weiterführenden Erkenntnissen schützt.

Regression zum Mittelwert

Die Erfahrung der Praktiker

Eine verblüffende Auflösung dieses vermeintlichen Theorie-Praxis-Widerspruchs lieferte erst der Psychologe und Mathematiker Daniel Kahneman, der 2002 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurde. In einer amüsanten Anekdote berichtet er, wie er Mitte der sechziger Jahre als Junior Professor selbst Führungstrainings für Fluglehrer der israelischen Luftwaffe durchführte. Unvermeidlich referierte er dabei auch darüber, dass Verstärkung sehr viel wirksamer sei als Tadel, und untermauerte dies mit zahllosen experimentellen Befunden an Ratten, Tauben und Psychologiestudenten. Bis einer der Ausbilder schließlich herausplatzte: “Mit Verlaub, Herr Professor, was Sie da erzählen, ist blanke Theorie. Ich habe es ausprobiert und meine Schüler für gelungene Flugmanöver kräftig gelobt. Und was ist passiert? Das Lob stieg ihnen zu Kopf, und ihre nächste Übung fiel deutlich schlechter aus. Und ich habe die Leute zusammengebrüllt, wenn sie es schlecht gemacht hatten – und siehe da: Sie rissen sich zusammen und machten es beim nächsten Mal besser. Also erzählen Sie mir bitte nicht, dass Lob wirksamer ist als Tadel – meine Erfahrung ist das genaue Gegenteil!”

Beobachtung richtig, Erklärung falsch

Kahneman kam ins Grübeln. Er hatte nicht den Eindruck, dass der Mann die Unwahrheit sagte oder dass er bloß seine Vorurteile für Tatsachen ausgab. Möglicherweise war an diesen Erfahrungen etwas dran, was er als seriöser Wissenschaftler nicht einfach bestreiten oder ignorieren konnte. Andererseits war extrem unwahrscheinlich, dass zentrale Erkenntnisse der psychologischen Lernforschung schlichtweg falsch waren – zu stabil hatten sich deren Befunde in unzähligen Untersuchungen erwiesen. Also musste es einen vernünftigen Grund für diesen scheinbaren Widerspruch von Theorie und Praxis geben. Schließlich kam Kahneman eine verblüffende Erkenntnis: Was der Fluglehrer (und mit ihm viele andere Ausbilder) festgestellt hatte, war mit hoher Wahrscheinlichkeit richtig, aber es hatte nichts mit der Wirksamkeit von Lob und Tadel zu tun, sondern – mit den Gesetzen der Statistik.

Zufallseffekte in Lernprozessen

Bei fast allen Lernprozessen spielt vor allem am Anfang eine erhebliche Zufallskomponente mit, und die Ergebnisse schwanken ziemlich heftig: Wenn man zum Beispiel beim Tennis die ersten Aufschläge übt, hat man auch als Anfänger manchmal Glück und trifft den Ball voll – manchmal drischt man aber auch total daneben. Das hat nichts mit der inneren Haltung der Übenden, mit Überheblichkeit und Zusammenreißen zu tun, es ist ist schlichtweg Zufall: die Folge von Ungenauigkeiten, die sich aus der mangelnden Beherrschung des Bewegungsablaufs und fehlender Feinkoordination ergeben. Genau so ist es auch beim Erlernen von Flugmanövern: Auch hier gibt es schon ganz am Anfang Versuche, die erstaunlich gut gelingen, und andere, die völlig daneben gehen. Mit zunehmender Übung nimmt die Zufallsstreuung ab, die Aktion wird immer präziser – man fängt an, die jeweilige Aufgabe zu “beherrschen”.

Regression zum Mittelwert

Wo immer aber der Zufall eine Rolle spielt, gilt eine statistische Gesetzmäßigkeit, die man “Regression zum Mittelwert” (“regression to the mean”) nennt. Sie bezieht sich auf die “Ausreißer” in einer Zufallsverteilung und besagt: Je weiter ein Ausreißer vom Mittelwert der Verteilung abweicht, desto wahrscheinlicher ist, dass der nachfolgende Versuch näher bei diesem Mittelwert liegt. Mit anderen Worten, je besser das aktuelle Manöver des Flugschülers war, desto sicherer war, dass der nachfolgende Aufschlag deutlich schlechter ausfallen wird, und je verkorkster er war, desto wahrscheinlicher folgte danach ein besserer Versuch. Diese statistische Gesetzmäßigkeit gilt immer – völlig unabhängig davon, ob der Fluglehrer seine Schüler für ihre Versuche lobt oder tadelt oder ob er gar nichts sagt!

Überschätzung der eigenen Intervention

Spannende Selbsttäuschung

Der entscheidende Irrtum des Fluglehrers war nicht, dass er falsch beobachtete, sondern , dass er einen Zusammenhang zwischen den Leistungsschwankungen seiner Schüler und seinem Lob oder Tadel unterstellte: Er glaubte, dass seine Kommentare erheblichen Einfluss auf die Leistung seiner Flugschüler hatten. Ein solcher Zusammenhang bestand jedoch nicht, weil die Flugschüler dafür einfach noch zu wenig Kontrolle über ihre Maschinen hatten.

Irrtümliches Unterstellung von Kausalität

Aufgrund der “Regression zum Mittelwert” folgte nach einem besonders misslungenen Flugmanöver fast unweigerlich ein besseres – gleich wie der Fluglehrer reagierte. Wenn er also nach dem Fehlversuch herumbrüllte, sah es also tatsächlich so aus, als sein Anschiss gewirkt hätte. Der gleiche Effekt wäre allerdings auch eingetreten, wenn der Fluglehrer nichts gesagt hätte, ja sogar dann, wenn er den Schüler für sein missratenes Manöver gelobt hätte. Es spielte schlicht keine Rolle, was er tat; das statistische Gesetz war stärker als seine Intervention. Ebenso bei einem durch Zufall besonders gelungenen Manöver: Was auch immer der Fluglehrer getan hätte, der nächste Versuch wäre mit größter Wahrscheinlichkeit schlechter ausgefallen, einfach wegen der Regression zum Mittelwert.

Voraussetzung für Wirksamkeit

Auf den zweiten Blick eigentlich logisch: Lob und Tadel können ja nur dann etwas bewirken, wenn der Adressat sein Verhalten überhaupt steuern kann; solange er sein Handeln nicht oder nur unvollständig unter Kontrolle hat, bleiben sie wirkungslos. Lob und Tadel können einen Schüler dazu veranlassen, dass sich jemand mehr anstrengt, aber sie können natürlich nicht bewirken, dass jemand plötzlich fehlerlos macht, was er noch nicht beherrscht. Wenn jemand kein Französisch kann, dann hilft weder Lob noch ein Anschiss, ihn zum richtigen Französisch-Sprechen zu “motivieren”.

Lob und Tadel gehen ins Leere

Infolgedessen gingen sowohl das Lob als auch der Tadel der Ausbilder schlicht ins Leere, solange die Flugschüler ihre Manöver noch nicht beherrschten. Die vermeintlichen pädagogischen Interventionen der Fluglehrer waren damit nicht mehr als Nebengeräusche zu den Übungen. Das wussten die Fluglehrer – und ihre vielen Ausbilder-Kollegen – indes nicht, sie hätten es nur herausfinden können, wenn sie einmal ein Experiment mit der “Gegenprobe” gemacht hätten, indem sie versuchsweise die schlechten Leistungen lobten und die guten tadelten. Dann hätten sie gemerkt, dass unabhängig von ihrem Lob oder Tadel immer das Gleiche passiert: Auf eine sehr gute Leistung folgt, solange jemand noch wenig Kontrolle über seine Maschine hat, fast immer eine schlechtere, und auf eine besonders schlechte eine bessere. Statt ihre Annahmen aber zu überprüfen, wählten die Fluglehrer witzigerweise eine (falsche) psychologisierende “Theorie”.

Auf Kausalität programmiert

Zur ihrer Ehrenrettung muss aber gesagt werden, dass es Im Alltag extrem schwer ist, sich diesem “Fluglehrer-Irrtum” zu entziehen. Denn wir werden dabei zum Opfer einer psychologischen Falle, die Daniel Kahneman Bestätigungstendenz (“Confirmation Bias”) nennt: Wenn wir einmal eine “Theorie” haben, wählen wir unsere Beobachtungen so, dass wir sie bestätigen: “Siehst du, ich hab’s dir gleich gesagt!” Außerdem ist unsere Wahrnehmung so programmiert, dass wir, wenn zwei Ereignisse mit einer gewissen Regelmäßigkeit aufeinander folgen, “automatisch” eine Kausalität unterstellen. Wenn zum dritten Mal nach dem Besuch von Onkel Werner das Bier alle ist, dann “wissen” wir auch ohne zusätzliche Daten, dass dies mit Onkel Werners Trinkgewohnheiten zu tun hat. Genau so sicher “weiß” der Fluglehrer, dass sein Tadel etwas gebracht hat: Er hat ja “mit eigenen Augen gesehen”, dass es danach besser ging. Diese Überzeugung ist auch durch Fakten kaum noch zu erschüttern.

Implizite Messages von Lob und Tadel

Demotivation durch Lob?

Doch das ist noch nicht die einzige Komplikation, die das harmlose Thema “Lob und Tadel” für uns bereithält. Einmal angenommen, Sie hätten zwei Mitarbeiter, die im gleichen Büro sitzen, die gleiche Arbeit machen und zuletzt vergleichbare Leistungen gebracht haben. Was, würden Sie vermuten, passiert, wenn Sie den einen für seine Leistung loben und den anderen nicht? Nach der populären Motivationslehre müsste der gelobte Mitarbeiter motivierter sein und bessere Leistungen bringen, während der andere weniger motiviert ist und vielleicht sogar in seiner Leistung nachlässt. Wie empirische Untersuchungen zeigen, tritt oft das genaue Gegenteil ein: Der gelobte Mitarbeiter stagniert, und der, der kein Lob bekommen hat, strengt sich mehr an und entwickelt sich weiter. (Dieser Zusammenhang wurde vor allem an Schülern untersucht, der Effekt ist aber auf Erwachsene übertragbar.)

Interpretation des Unterschieds

Wie kommt das? Ist Lob am Ende doch schädlich, weil es, wie Fluglehrer und mittelständische Unternehmer vermuten, den Gelobten zu Kopf steigt, mit der Folge, dass sie selbstgefällig und träge werden? Nein, der Wirkmechanismus ist etwas komplizierter, und er hat mit dem impliziten Feedback zu tun, das in jedem Lob und in jeder Kritik enthalten ist: Da die beiden Mitarbeiter im gleichen Büro sitzen, bekommen sie natürlich mit, dass der eine von ihnen gelobt wurde und der andere nicht. Daraus ziehen beide ihre Schlüsse. Eine mögliche Interpretation wäre: Der Chef ist ungerecht; er lobt nur seine Lieblinge. Die andere Erklärung ist: Er schätzt die Leistungsfähigkeit der beiden unterschiedlich ein. Sein Lob für den einen besagt: “Das war für Ihre Verhältnisse eine gute Leistung!” Dass er den anderen nicht lobt, signalisiert implizit: “Für Ihre Verhältnisse war das nichts Besonderes, Ihnen traue ich mehr zu.”

Implizites Feedback

Jedes Lob und jeder Tadel enthält implizit ein Feedback darüber, wie der Lobende oder Tadelnde das Leistungsniveau des Adressaten einschätzt. Deshalb kann Lob durchaus entmutigend sein; umgekehrt kann es ermutigend sein, für eine bestimmte Leistung nicht gelobt zu werden.

Gefährliches Gedankenexperiment

Wenn Ihnen das zweifelhaft vorkommt, machen Sie folgendes Gedankenexperiment (von der realen Durchführung wird wegen unabsehbarer Risiken und Nebenwirkungen abgeraten; jede Haftung wird ausdrücklich ausgeschlossen): Wann immer Ihre Sekretärin das nächste Mal ein paar Fotokopien gemacht hat, loben Sie sie überschwänglich dafür: “Toll haben Sie diese Kopien gemacht! Wirklich eine ausgezeichnete Leistung! Machen Sie weiter so, ich bin stolz auf Sie!” Nach den gängigen Lehren müsste solch ein Lob unglaublich motivierend auf Ihre Sekretärin wirken. In der Praxis dürfte die Reaktion das ziemliche Gegenteil sein. Je nach Temperament wird die Dame zutiefst gekränkt sein, Ihnen die Fotokopien unter Missachtung elementarster Höflichkeitsregeln vor die Füße werfen oder sich zumindest indigniert erkundigen, ob Sie sie für bescheuert halten.

Nach der gängige Motivationslehre sind diese heftigen Reaktionen völlig unverständlich und deshalb scharf zu missbilligen. Doch sie sind die logische Folge des ehrenrührigen Feedbacks, das Sie implizit mit Ihrem Lob übermittelt haben. Die ärgerliche Frage, ob Sie sie für bescheuert halten, trifft genau den Punkt: Das ist die implizite Botschaft Ihres Lobs: “Für Ihre Verhältnisse war es eine herausragende Leistung, diese Kopien fehlerfrei zu machen!”

Die wirklichen Aussagen der Lernpsychologie

“Verstärkung”

An dieser Stelle ist es zweckmäßig, sich noch einmal zu vergegenwärtigen, was Burrhus Frederick Skinner, der Begründer der psychologischen Lerntheorie, und seine Nachfahren eigentlich wirklich gesagt haben. Von Lob und Tadel war da streng genommen nie die Rede. Vielmehr war ihre zentrale Erkenntnis, die in unzähligen Experimenten mit praktisch allen Arten des Tierreichs bestätigt wurde: Verhaltensweisen, auf die ein “verstärkender” Reiz – also eine angenehme Konsequenz wie zum Beispiel Futter – folgt, treten in der Folge verstärkt, also häufiger, schneller und/oder intensiver auf.

Angenehme und unangenehme Konsequenzen

Als “Verstärker” (vulgo: “Belohnung”) eignet sich nach den Erkenntnissen der Forschung alles, was “eine Bedürfnisbefriedigung zur Folge hat”. Umgekehrt können als “negative Verstärker” (vulgo: “Bestrafung“) alle Reize dienen, die unangenehme Empfindungen auslösen. Es spricht für die Demut von Lehrern, Managern und Trainern, dass sie ein von ihnen ausgesprochenes Lob ungeprüft als angenehme Konsequenz einstufen. Zumindest im obigen Gedankenexperiment könnte man durchaus Zweifel daran hegen, ob das Lob bei der Sekretärin “eine Bedürfnisbefriedigung zur Folge hatte” – oder ob es eher als Frechheit oder als Veralberung empfunden wurde.

Wann ist Lob ein “Verstärker”?

Ein Lob ist nur dann ein “Verstärker”, also eine angenehme Verhaltenskonsequenz, wenn vier Bedingungen erfüllt sind. Erstens muss das Lob von einer Person kommen, auf deren Wertschätzung man Wert legt – oder würden Sie sich über ein Lob von jemanden freuen, den Sie nicht leiden können? Zweitens sollte es von jemanden kommen, den Sie für das jeweilige Gebiet für kompetent halten. Denn ein Lob von jemanden, dessen Sachkunde Sie bezweifeln, wird Ihnen nicht allzu viel wert sein. Drittens müssen Sie darauf vertrauen können, dass der andere sein Lob ehrlich meint. Ein ironischer Unterton beim Loben wirkt daher verunsichernd und führt daher meist direkt in ein Beziehungsproblem. Und viertens werden Sie Lob nur akzeptieren, wenn es der lobenden Person nach ihrer Auffassung zusteht, Sie zu loben: Wenn Sie jemand lobt, den Sie als Konkurrenten oder als hierarchisch unter sich stehend empfinden, werden Sie nicht erfreut reagieren, sondern eher verärgert oder irritiert (“Was bildet der sich eigentlich ein?!”).

Lob und Tadel sind hierarchische Interaktionen

Versteckte Hierarchie

Gerade der letztgenannte Aspekt ist häufig ein Knackpunkt. Denn Lob ist immer eine hierarchische Interaktion. Wer lobt, stellt sich über den, den er lobt. Der Lobende definiert einseitig und nach seinem Ermessen den Maßstab für Anerkennung oder Missbilligung: “Wirklich gut gemacht! Hat mir sehr gut gefallen!” Gut vorstellbar, dass der Chef so etwas zu seinem Mitarbeiter sagt. Aber könnte der Mitarbeiter das auch zu seinem Chef sagen? Wohl kaum. Wenn eine Aussage aber nicht umkehrbar (“reversibel”) ist, handelt es sich um eine hierarchische Aussage und nicht um eine partnerschaftliche, gleichwertige.

Reversibilität

Das Kriterium der Umkehrbarkeit (Reversibilität) ist der klassische Test dafür, ob eine Aussage hierarchisch oder partnerschaftlich ist. Wenn die Kommunikation partnerschaftlich, also “auf gleicher Augenhöhe” abläuft, sind die Aussagen ohne Änderungen umkehrbar: Dann könnte das, was der eine zum anderen sagt, jederzeit auch der andere zu dem einen gesagt haben. Nicht so in einer asymmetrischen, hierarchischen Beziehung. Wenn der Chef dem Mitarbeiter auf die Schulter klopft und sagt: “Guter Mann! Machen Sie weiter so!”, dann wird sich der Mitarbeiter darüber möglicherweise sogar freuen, aber er sollte sich hüten, das Gleiche bei Gelegenheit auch mal zu seinem Chef zu sagen. Denn wenn er es tut, dann kracht es entweder auf der Stelle, oder die betriebliche Hierarchie steht auf dem Kopf.

Abwehr angemaßter Hierarchie

Wobei die implizite Hierarchie bein Lob nicht so stark auffällt: Die meisten Menschen nehmen Lob in einem kindlichen Reflex von Beglückung an und reagieren so erfreut, als ob ihnen jemand den Rücken kraulen würde. Bei einem Tadel wird die Hierarchie sehr viel deutlicher empfunden. Von seinem Chef oder Fluglehrer muss man sich notgedrungen solche Aussagen gefallen lassen wie: “Das war aber überhaupt nichts! Reißen Sie sich gefälligst zusammen!” Aber wehe, wenn ein Tadel nicht mit den tatsächlichen Über- und Unterordnungsverhältnissen zusammen passt. Dann löst er sofort zornige Reaktionen und eine Retourkutsche aus: “Das lassen Sie mal meine Sache sein! Kehren Sie erst einmal vor der eigenen Haustür!”

Feedback, Anerkennung und Kritik

Begründung erzeugt Reversibilät

Die mit Lob und Tadel verbundene Hierarchisierung lässt sich vermeiden, indem man seine Anmerkungen reversibel, also “umkehrbar” formuliert. Das wichtigste Mittel dazu ist, seine Wertung zu begründen: “Ihr Vortrag hat mir sehr gut gefallen, weil …” Diese Aussage ist ebenso reversibel wie: “Ihr Vortrag hat mir nicht so sehr gefallen, weil …” Beides kann der Mitarbeiter zu seinem Chef ebenso sagen wie der Chef zum Mitarbeiter oder der Kollege zum Kollegen.

Bekenntnis zur Subjektivität

Zusätzlich enthalten diese Aussagen noch ein zweites Element, das ihre Partnerschaftlichkeit unterstreicht, nämlich eine eindeutige “Absenderangabe”, die ihren subjektiven Charakter zum Ausdruck bringt. Während die Aussage “Ihr Vortrag war ziemlich schwach!” Anspruch auf Objektivität erhebt (derer der Chef als Inhaber höherer Weisheiten selbstverständlich teilhaftig ist), bekennt sich die Ich-Aussage “hat mir …” ehrlich zur Subjektivität. Dass dem “Absender” der Vortrag nicht gefallen hat, schließt keineswegs aus, dass er anderen gefallen haben könnte. Aus Lob bzw. Tadel wird damit ein Feedback – nämlich Anerkennung und Kritik.

Gesinnung entscheidend

Dass indessen auch Kritik, die diesen Kriterien genügt, nicht immer auf offene Ohren stößt, liegt nicht nur an der möglicherweise mangelnden Kritikfähigkeit der Adressaten. Es kann auch an der Gesinnung, also an der unausgesprochenen Absicht liegen, mit der die Kritik vorgebracht wird. Die allermeisten Menschen haben nämlich ein sehr feines Gespür dafür, ob der andere bei seiner Kritik innerlich auf ihrer Seite steht oder ob die “heimliche” Absicht (“Finalität”) hinter der Kritik ist, den Adressaten herabzusetzen, zu verletzen oder ihn “klein zu machen”. Wenn eine solche unfreundliche Absicht wahrgenommen oder vermutet wird, hilft auch ein formal noch so korrektes Feedback nichts – die Reaktion wird immer abweisend sein. Am Ende lautet die entscheidende Frage: Dient die Kritik dazu, den anderen größer zu machen, ihn bei seiner Weiterentwicklung zu unterstützen, oder zielt sie darauf, ihn kleiner zu machen?

Lob und Anerkennung dienen als “Leistungsquittung”

Bestätigung erbrachter Leistung

Dennoch haben Lob und Anerkennung für viele Menschen eine große Bedeutung. So gut wie jede Mitarbeiterbefragung erbringt den Befund, dass die Mitarbeiter ein Defizit im Bereich von Lob und Anerkennung empfinden. Denn geplagten Führungskräften erscheint es zuweilen so, als ob die Mitarbeiter hier völlig unersättlich werden. Doch das könnte ein Missverständnis sein: Mein Eindruck ist, dass Menschen weniger für Spitzenleistungen gelobt werden wollen als für ihren beständigen Einsatz und/oder für überdurchschnittliche Anstrengungen. Zwar gibt es natürlich auch den Fall, dass ein Mitarbeiter eine außergewöhnliche Leistung erbracht hat und sich dafür eine deutliche Anerkennung durch seinen Vorgesetzten wünscht – ähnlich wie wenn ein Kind oder ein Jugendlicher stolz auf ein gutes Zeugnis ist und dies von Eltern und Verwandten gewürdigt sehen möchte.

Wahrnehmung und Würdigung

Aber der Normalfall im Berufsleben sind ja nicht immer neue Spitzenleistungen und Rekorde, er besteht in Dauerleistung: die beständige und verlässliche Erledigung von Aufgaben. Wer tagein, tagaus zuverlässig seine Arbeit macht, möchte, dass dies wahrgenommen und zuweilen anerkannt und gewürdigt wird – und dass seine Arbeit nicht nur dann Erwähnung findet, wenn ausnahmsweise einmal etwas nicht geklappt hat oder ein Fehler passiert ist. Manchmal geht es auch um die Wahrnehmung und Würdigung besonderer Anstrengungen: In solchen Fällen suchen Mitarbeiter einfach die Bestätigung dafür, dass ihre Vorgesetzten wahrgenommen haben, dass sie eine wichtige und schwierige Aufgabe erledigt haben, besonders wenn dies mit außergewöhnlichem persönlichem Einsatz verbunden war.

Würdigung statt Rechthaberei

Der Einwand, dass eine Anerkennung für die beständige und verlässliche Erledigung von Aufgaben überflüssig sei, weil die Mitarbeiter dafür schließlich eingestellt seien und dafür bezahlt würden, trifft natürlich zu – und ist zugleich unnütze Rechthaberei, zumal diese Anerkennung einen ja nichts kostet außer ein bisschen Aufmerksamkeit. Man kann sich natürlich trotzig auf diesen Standpunkt stellen und hat damit formal sogar recht. Aber man wird trotzdem erleben, dass die meisten Mitarbeiter dann auf die Dauer nicht mehr so gut und zuverlässig “funktionieren”. Der Philosoph und Managementtrainer Rupert Lay hat das sehr treffend so formuliert: “Wenn Mitarbeiter den Eindruck haben, nur als funktionierende Zahnrädchen im großen Getriebe behandelt zu werden, dann machen sie durch Nicht-Funktionieren darauf aufmerksam, dass sie mehr sind als nur funktionierende Zahnrädchen.”

Austausch-beziehung

Diese Suche nach Bestätigung ist keineswegs so “kindlich” und “unreif” wie sie Beobachtern zuweilen erscheint: Bei genauerer Betrachtung ist sie ein durchaus rationales Verhalten. Denn berufliche Beziehungen sind ja Austauschbeziehungen: Wir tauschen Leistung gegen Gegenleistung. Und in solch einer Taschbeziehung liegt es im berechtigten Interesse jeder Partei, dass ihre Leistungen auch wahrgenommen und positiv quittiert werden. Deshalb kann es entmutigend wirken, wenn die erbrachten Anstrengungen nicht gewürdigt werden: “Ich rackere mich hier ab, und keiner nimmt davon auch nur Notiz!” Oder, noch drastischer: “Wofür reiße ich mir hier eigentlich den Arsch auf, wenn es nicht einmal zur Kenntnis genommen wird?!”

“Es wird gesehen”

Wer seine Leistung nicht allein aus innerer Überzeugung oder aus Pflichtgefühl erbringt, sondern im Rahmen einer Austauschbeziehung, der hat ein durchaus berechtigtes und vernünftiges Interesse daran, dass seine Leistung wahrgenommen und positiv quittiert wird. Und er lässt unter Umständen in seinen Anstrengungen nach, wenn er den Eindruck hat, dass seine Leistung überhaupt nicht registriert wird. (Oder auch, wenn er den Eindruck hat, dass andere mit deutlich geringerem Einsatz durchkommen, also für weniger Leistung die gleiche Gegenleistung bekommen.) In solchen Fällen wirkt die anerkennende Bestätigung der geleisteten Arbeit zugleich als Ermutigung zu einer Fortsetzung der Anstrengungen. Das tut sie deshalb, weil sie in diesem Falle unausgesprochen zukunftsgerichtet ist: “Ja, es wird gesehen, dass ich mich hier besonders engagiere – also lohnt es sich, dies auch in Zukunft zu tun!”

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Über den Autor

Winfried Berner ist Autor von zahlreichen Fachbüchern zu den Themen Change-Management, gezieltem Kulturwandel, Post-Merger Integration und anderen Themen der Organisationsentwicklung. Seit 2024 ist sein Unternehmen Teil der initio Organisationsberatung. 

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